Überfliessende Gerechtigkeit

6. Sonntag im Jahreskreis, Sirach 15; 15–20; 1 Kor 2, 6–10; Mt 5, 17–37

«Du bist nichts, du kannst nichts, aus dir wird nichts!» Wie viele Menschen wurden durch solche Bemerkungen, die sie immer wieder zu hören bekamen, an ihrer Entfaltung gehindert? Wie viele Leben werden auch heute noch durch solche Etiketten zerstört?

«Wenn wir unsere Kinder für die Schule unterstützen, unseren Jugendlichen bei der Suche nach einer Lehrstelle helfen, oder für uns selber Arbeit suchen, machen wir immer wieder so schlechte Erfahrungen, dass wir ernsthaft an unserem Recht auf Bildung und Ausbildung zweifeln.» So brachten es armutsbetroffene Menschen auf der nationalen Konferenz gegen Armut im letzten November in Biel auf den Punkt. Sie erklärten auch, wie sie trotz dieser schlechten Erfahrungen auf andere Menschen zugehen und diese in ihre Verantwortung rufen, damit sich etwas ändert: «Man darf die Kinder nicht beiseiteschieben. Man darf sie in der Klasse nicht zuhinterst platzieren, wenn es ihnen nicht gut geht in der Schule. Die Kinder reden mit den Eltern. Und ich als Mutter habe um Hilfe gebeten, um mich auf die Begegnung mit den Lehrern vorzubereiten.»1

Bergpredigt wurzelt in Erfahrung der Armen

Die Antithesen der Bergpredigt wurzeln in der Lebenserfahrung der Armen, deren Leben Jesus geteilt hat. Sie finden ein Echo in der Lebenserfahrung der Armen von heute. Es ist für das Verständnis des Textes hilfreich, ihn in verschiedenen Übersetzungen zu lesen. Eine davon möchte ich hier zitieren: «Ihr habt gehört, dass Gott zu früheren Generationen sprach: Du sollst nicht töten. Wer aber tötet, wird vor Gericht als schuldig gelten. Ich lege euch das heute so aus: Die das Leben ihrer Geschwister im Zorn beschädigen, werden vor Gericht als schuldig gelten. Und die ihre Geschwister durch Herabwürdigung beschädigen, werden in der Ratsversammlung als schuldig gelten. Und wer ihnen das Lebensrecht abspricht, wird im Gottesgericht als schuldig gelten.»2

Herabwürdigende Etiketten

In der liturgischen Übersetzung lauten die herabwürdigenden Bezeichnungen «du Dummkopf» und «du gottloser Narr». Im letzten Jahrhundert wurden armutsbetroffene Menschen als «liederlich», «arbeitsscheu» oder «geistesschwach» etikettiert. Heute können Ausdrücke wie «verhaltensauffällig», «hyperaktiv» oder gar «urteils- und handlungsunfähig», «geisteskrank» zu solchen Etiketten werden, hinter denen sich eine Armutsgeschichte verbirgt.

Es braucht Mut und Überzeugung, um gegenüber einem Menschen, dem eine solche Etikette anhaftet, nicht in den allgemeinen Tenor einzustimmen. Was diese Haltung bewirken kann, erzählt eine Mutter aus einem «bildungsfernen» Quartier. Ein Computerprojekt setzte sich ausdrücklich zum Ziel, dass diejenigen Kinder, für die eine Beteiligung besonders schwierig war, dabei sein konnten. Eltern unterstützten den Verantwortlichen, Peter, dabei nach Kräften.

«Peter hatte viel mit Sunshine zu tun, einem sehr armen Mädchen, das von vielen ausgestossen wurde, weil sie überzeugt waren davon, dass sie das Dumm-und-etwas-geistig-zurückgeblieben-Syndrom habe! Sunshine hat oft mit Peter auf dem Computer Zeichnungen gemacht. Eine Zeitlang verzweifelte er aber an ihr. Er wollte schon aufgeben und dachte: «Sie wird es vielleicht doch nie lernen.» Aber eines Tages stiess ein neues Mädchen zur Gruppe. Und – halt – wer lehrt da plötzlich dieses Mädchen, wie man mit dem Computer arbeiten kann? Das war genau unsere Sunshine!»3

Mittler göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit

Für Père Joseph Wresinski, den Gründer der Bewegung ATD Vierte Welt, heisst «überfliessende Gerechtigkeit» im Sinne der Bergpredigt, die Verpflichtungen, die sich aus den Menschenrechten ergeben, konsequent wahrzunehmen, damit jeder Mensch, ohne Ausnahme, in Würde leben kann:

«Haben wir nicht deshalb einem Teil der Menschheit die Mittel vorenthalten, ihre Würde, Denkfähigkeit und Nützlichkeit an den Tag zu legen, weil wir vergessen haben, dass jeder Mensch ein Mensch ist? Als Priester meiner Kirche muss ich die Frage stellen, mir selber und auch der Kirche … Ich habe mich zu fragen, ob für mich der Mensch, den das Elend unkenntlich gemacht hat, ein vollständiger, ganzer Mensch bleibt, Gottes Kind von Geburt an. Ich muss wissen, ob die Art, wie ich in meinem Leben, in meinem Priesteramt, in meiner Kirche und unter allen Menschen den Rechten der Ärmsten Geltung zu verschaffen suche, dazu beiträgt, ihre Freiheit zu erweitern: Die Freiheit zu denken, zu glauben und zu handeln, für sich selbst, aber auch zum Wohle aller. Werden sie durch mein Leben, mein Handeln und mein Wort darüber unterrichtet, dass sie frei und fähig sind, die bevorzugten Mittler der göttlichen wie auch der menschlichen Gerechtigkeit zu sein?»4

Am 12. Februar 2017 jährt sich der Geburtstag von Père Joseph Wresinski zum 100. Mal. Könnte dies nicht ein Anlass sein, uns in unseren Pfarreien mit seinem Leben und Werk auseinanderzusetzen, zusammen mit Menschen, die dazu aufgrund ihrer Armutsgeschichte einen privilegierten Zugang haben?

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Politische Solidarität mit Folgen

«Wir können in der Kirche keine gesunde Theologie treiben, ohne Gebrauch zu machen von dem, was die Ärmsten uns über den erniedrigten Menschen, über den gekreuzigten Christus gesagt haben. Dass ihre Worte oft nur ein Gestammel sind, ändert daran nichts; dass es nur ein Schrei, ein Hilferuf ist, ändert daran nichts … Je weniger ausgearbeitet der Schrei ist, desto nüchterner ist das Wort, und desto mehr ist es Wahrheit, ist es Reichtum für alle Menschen. Je elementarer die Botschaft ist, desto mehr ist sie mit Lebenserfahrung befrachtet, und desto unentbehrlicher ist sie auch für die Kirche.»

Joseph Wresinski: Die Armen sind die Kirche. Gespräche mit Joseph Wresinski über die Vierte Welt. Original französisch: Paris 1983 / Deutsch: Zürich 1998, 47 f.

 

1 Anregungen aus der Sicht armutsbetroffener Personen. www.gegenarmut.ch/fileadmin/ kundendaten/Dokumente_NAK_2016/Manifest_DE.pdf

2 Bibel in gerechter Sprache, Gütersloh 2006.

3 Nelly Schenker, «Es langs, langs Warteli für es goldigs Nüteli». Meine Erinnerungen, edition gesowip, Basel 2014, S. 200 f.

4 Joseph Wresinski, Die ärmsten Menschen zeigen, dass die Menschenrechte unteilbar sind, Vierte Welt Verlag, Paris 1996, S. 39 f.

Marie-Rose Blunschi Ackermann

Dr. theol. Marie-Rose Blunschi Ackermann ist Mitarbeiterin der Bewegung ATD Vierte Welt in deren Schweizer Zentrum in Treyvaux.