Jenseits der grossen Kontroverse

 

Die zentrale Frage in der Gender-Forschung ist doch die nach der Geschlechtsidentität des Menschen. Das beinhaltet auch die Rollen, die Kindern und Jugendlichen zugeteilt werden. Dazu zwei Erinnerungen aus meiner Kindheit:

Warum ich glücklich bin, keine Schwester gehabt zu haben

Die Küche, der Kochherd und die Kochbücher, sie zogen mich magisch an, kaum dass ich auf den Gaskochherd unserer Wohnung blicken konnte. Da wollte ich kreativ sein. Und da sich keine Schwester fand, die im Wege stand, und meine Mutter in dieser Frage durchaus tolerant reagierte, durfte ich es wagen. Ich rührte, ich mischte, ich briet und – vor allem – ich machte mich an alle Kuchenrezepte, die ich nur finden konnte. Noch heute erinnere ich mich der ersten selbst gemachten Zürcher Pfarrhaustorte und − noch etwas delikater – der Herstellung der ersten Himbeerroulade. Zur grossen Überraschung – der meinen wie auch der der Familie – gerieten die Backwerke fast immer! Als dann mitten im Studium meine Mutter durch einen schweren Unfall für Monate ausfiel, wurde ich über Nacht zum Familienkoch. Seit da kenne ich die erste Generation der «Betty Bossi»-Bücher fast auswendig. Ich frage nun abschliessend: Wer sagt denn und warum, dass Frauen die besseren Köche sind?

Was ich meinem Primarlehrer für immer übel nehme

In der alten patriarchalen Zeit waren solche Lehrer häufig: cholerische und gewalttätige Schreckgespenster. Auch unserer war so einer, doch mich verschonte er meist, er benötigte meine Antworten bei Inspektionen. Gerade darum verzeihe ich ihm folgende Begebenheit für immer und ewig nicht: In der fünften Klasse mussten wir ein praktisches Fach wählen: «Modellieren» oder «Hobeln», wie das damals hiess. Ich fürchtete mich schon im Vorhinein (und noch bis heute!) vor diesem blutigen Handwerken zwischen Nägeln, Hämmern und blitzblanken Messern (nachdem ich mir schon in der vierten Klasse im Fach «Kartonage» bös die Finger zerschnitten hatte). Aber keine Chance: Da ich künstlerisch unbegabt sei, so der Tyrann, müsse ich ran an die Vogelhäuschen und Weihnachtskrippen. Gebracht hat es rein nichts, nur ein Jahr lang Angst und Schrecken. Wer sagt denn und warum, dass richtige Männer dies beherrschen müssen?
Es sei zum Schluss angemerkt, dass diese Begebenheiten die richtige Einstimmung dazu waren, dass niemand – weder Familie, Mitschüler noch Lehrkräfte – erstaunt war, als ich mit 14 Jahren mein erstes Theater-Abo kaufte.

Mein Mitgefühl gilt allen Kindern und Jugendlichen, die heute um ihre Rolle kämpfen müssen.

Heinz Angehrn


Heinz Angehrn

Heinz Angehrn (Jg. 1955) war Pfarrer des Bistums St. Gallen und lebt seit 2018 im aktiven kirchlichen Dienst als Pensionierter im Bleniotal TI. Er ist Präsident der Redaktionskommission der Schweizerischen Kirchenzeitung und nennt als Hobbys Musik, Geschichte und Literatur.