Musik kann Emotionen hervorrufen, verstärken und verändern. Mithilfe der Musik können grosse Gefühle dargestellt werden. So gesehen gehört Musik zu den anthropologischen Grundkonstanten. Da Tod und Sterben emotional die extremsten Momente darstellen, die in einem Menschenleben jemals erfahren werden, kann auf Musik als Ausdrucksform kaum verzichtet werden. Der Gestaltungsreichtum der grossen Gefühle um Tod und Sterben hat in zahlreichen Kantaten Bachs seinen Ausdruck gefunden, um an dieser Stelle einige exemplarisch zu nennen: BWV 4 – Christ lag in Todesbanden; BWV 8 – Liebster Gott, wenn wird ich sterben; BWV 60 – O Ewigkeit, du Donnerwort; BWV 82 – Ich habe genug; BWV 106 – Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit; BWV 127 – Herr Jesu Christ, wahr’ Mensch und Gott.
Da besonders in der Barockzeit der Tod etwas Alltägliches und den Menschen gegenwärtiger war, als es heute der Fall ist, fand die musikalische Auseinandersetzung mit dem Tod ihren Platz – auch und vor allem in den sonntäglichen Gottesdiensten. Die Musik erklang sowohl zur Ehre Gottes als auch zum Bekenntnis des Glaubens und zum Zweck der Katharsis derer, für die sie bestimmt war.
Emotionen artikulieren
Dass Musik tröstet, hilft, therapiert, das wusste schon Martin Luther, der sie sogar als Geschenk Gottes an die höchste Stelle nach der Theologie setzte. Sie mache die Seelen fröhlich, verjage den Teufel, erwecke Freude und darüber würden Zorn, Begierden und Hochmut vergehen. Musik, Melodien und Texte können persönlichen Gefühlslagen Ausdruck und Tiefe verleihen; sie können auch Erinnerungen an verstorbene Angehörige wecken – Erinnerungen an gemeinsam erlebte Stunden. Musik kann bei den Hörenden eine Katharsis bewirken: Sie kann zum Weinen verhelfen, kann Tränen erzeugen, die Verkrampfung lösen, sie kann Trauer Ausdruck verschaffen, diese kanalisieren, gestalten und vielleicht bändigen. Musik und Texte können Menschen, die Ähnliches erlebt haben, im gemeinschaftlichen Hören miteinander verbinden. In der Erfahrung einer solchen gemeinsamen Lebens- und Leidenswirklichkeit können sich Trauernde besser verstanden und in ihren emotionalen Tiefen erreicht und gehalten fühlen.
Den Fragen Raum geben
Johann Sebastian Bach versuchte Sterben, Tod und Vollendung musikalisch klanglich auf seine ihm eigene Weise auszudrücken. Er stellte sich mit seiner Musik in den Dienst des Predigens, das auch ein Predigen über Sterben, Tod und Vollendung sein konnte. Dies geschah einerseits in Form von Kantaten zu bestimmten Sonn- oder Festtagen im Kirchenjahr oder kasual – wie beispielsweise zu Trauerfeiern. Viele Kantaten von Johann Sebastian Bach setzen sich mit dem Thema Tod und Sterben auseinander, vertonen Tod und Sterben. Mit anderen Worten: Weder verdrängen die Kantaten die Fragen um den Tod noch verharmlosen sie sie. Sie haben nicht den Anspruch, das unlösbare Rätsel des Todes zu lösen, sondern sie möchten dazu anleiten, Fragen zu dem grossen Thema Tod und Ewigkeit Raum zu geben und im Sinne des memento mori zu bedenken.
Seine Kantaten zum Thema Tod und Sterben bringen die Gefühlswelten der Menschen von Trauer und Angst zur Sprache. Sie können dazu verhelfen, Leid und Trauer zuzulassen, auszuhalten und schliesslich zu bewältigen. Sie geben in einer sterblichen Welt voller Schicksale, Not, Tragik und Bedrängnis dem Menschen die Möglichkeit, Trauer und Leid durch und mit Musik zu formulieren. Trauer und Leid werden so zur Sprache gebracht; die Kantaten verdrängen insofern nicht die Nöte und Sorgen der Menschen. Sie begleiten den Menschen musikalisch in seiner Suche und seiner Sehnsucht nach Sinn und weisen auf neue gute Lebensmöglichkeiten hin, was sich stellenweise in eine befreiende und ausgelassene Freude verwandelt. Insofern können sie dazu verhelfen, persönliche Krisen, seien sie noch so schwer, in einem neuen, positiven Licht zu sehen; sie können dazu anregen, dass der Mensch wieder an seine eigenen Lebensmöglichkeiten glaubt und somit neue Lebensenergie und neuen Lebensmut gewinnt.
Hoffnung stärken
Diese Kantaten greifen die Todesfurcht des Menschen sehr klar und deutlich auf und spiegeln damit verbunden etwas im Grunde genommen nicht Auslöschbares im menschlichen Denken, Fühlen und Empfinden. Sie bleiben allerdings nicht einfachhin bei der Formulierung der Todesfurcht stehen, sondern sie stärken die Hoffnung auf und den Glauben an die Rettung und Erlösung. Ein Mensch mit einer solchen Spiritualität sehnt sich vielleicht danach, näher bei Gott – im übertragenen Sinne – schon im Hier und Jetzt bei Gott zu sein und erfährt damit verbunden eine Kraft aus dem Glauben an die Auferstehung Christi. Dadurch wird ihm schon jetzt Gottes tröstende Menschenfreundlichkeit und Menschenliebe zuteil und er gelangt zu einer spirituellen Kraft, die Ängste, Sorgen und Verzweiflung verringert oder sogar ganz eliminiert. Die Kantaten nehmen die menschliche Sehnsucht nach einer befreienden Erlösung mit auf einen Klangweg und lassen in diesem Zusammenhang vielleicht auch eine gewisse Todesnähe spüren. Sie versuchen aber in erster Linie die wesentlichen Aussagen der Heiligen Schrift auszulegen, so nämlich, dass gewissermassen diese vergängliche, leidende und unvollkommene Welt den Tod sozusagen nötig hat, um von ihm befreit zu werden, um schliesslich eine Verwandlung in eine neue Welt zu erfahren. In diesem Sinne möchten sie die befreiende Botschaft des Evangeliums, dass Gott allein Leben ist und dem Menschen Leben in Fülle verspricht, musikalisch verkünden.
Die Bachschen Kantaten zum Thema Tod und Sterben bieten für die Erfahrung von Trauer, Leid und Not keine Erklärung oder Rechtfertigung, erst recht nicht durch ein statisches theologisches System. Ganz im Gegenteil wollen sie dem Geheimnis Gott suchend auf die Spur kommen, indem sie Erfahrungen von Leid, Trauer, Angst und Not vor Gott tragen. In der zunächst schmerzhaften Erfahrung des Zweifels und der Verzweiflung entsteht schliesslich der Versuch, Gott als die Ursache für alles zuzulassen und aus diesem Grund ihn wiederum um Hilfe zu bitten. Diese Wandlung der Stimmung kommt in den Kantaten insofern zum Ausdruck, indem sich Gott dem Menschen durch das tröstende, heilende
und befreiende Wort der Zusage zuwendet.
Zum Glauben hinführen
Zur Zeit Bachs war die dienende Funktion der Musik im Verhältnis zur Religion selbstverständlich. Es ging um gottesdienstliche Musik. Abendmusiken oder Kirchenkonzerte mit geistlicher Vokalmusik, wie heutzutage üblich und geschätzt, fanden damals nicht statt. Die Sonn- und Festtagsgottesdienste waren in der Folge des Kirchenjahres regelmässig und lückenlos mit Kantatenmusik zu versehen. Jeder Sonntag, jeder Festtag hatte durch das Evangelium seine eigene Prägung. Die Verankerung der Kantate im Gottesdienst war unerlässlich: Sie hatte eine Auslegung des Evangeliums durch die Musik zu geben, die Predigt im Anschluss durch die Wortverkündigung.
Die Kantaten Johann Sebastian Bachs sind einerseits Vergangenheit, andererseits sind sie – heutzutage musiziert, gesungen und gehört – zugleich Gegenwart. Die interessante und herausfordernde Frage, was den heutigen Menschen mit den Kantaten Bachs verbindet oder ihn von ihnen trennt, kann nicht letztgültig beantwortet werden. Aber vielleicht ist es das, was von Bach zu erfahren ist und was seine Musik auch heute noch so attraktiv macht: Glauben nicht als Behauptung, sondern als dynamisches und lebendiges Geschehen, das in der Musik vergegenwärtigt und predigthaft musiziert wird. Gerade das ist wiederum die grosse Kunst: Ein Hinführen und Hineinführen in ein Verstehen, obgleich hier nur ein anfängliches Verstehen des eigentlichen Rätsels gemeint sein kann – des Todes. Gemeint ist ein Verstehen, das aus einem prozesshaften Memento mori in der Zeitlichkeit erwächst, worum ja der Psalmist bittet: «Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden!» (Psalm 90,12). Dazu möchten die Kantaten – auch heute noch – einladen. Insofern ist dieses musizierend-textliche Sprechen und Singen von Tod und Sterben heute durchaus rezipierbar, denn es nimmt den Menschen ernst in seiner Lebens- und Leidenswirklichkeit, in seiner Furcht, seiner Angst und seiner Hoffnung. Und in diesem Sinne möchten die Kantaten Bachs zum Thema Tod und Sterben auch wieder zum Nachdenken einladen und anregen – vielleicht an diesen Novembertagen um so mehr.
Oliver Stens