SKZ: Herr Rieger, wie kam es zur Schaffung der City-Seelsorge?
Roman Rieger (RR)*: Während Jahren beschäftigte sich die Pastoral und die Kirchgemeinde St. Gallen mit der lebensraumorientierten Seelsorge (LOS). Die Anerkennung, dass die Kerngemeinden immer kleiner werden und Kirche in anderen Lebensräumen präsent sein muss, machte uns klar, dass es neue pastorale Wege braucht. Bereits 2009 wurde der Grundsatzentscheid gefällt, Personalressourcen für solche Wege aus den Pfarreien umzulagern. Die erste Idee, vielen Seelsorgerinnen und Seelsorgern ein Kleinpensum von fünf bis zehn Prozent z. B. für Männerarbeit, Kultur, Flüchtlingsarbeit, mobile Seelsorge usw. zu geben, scheiterte kläglich. Kaum jemand stellte sich zur Verfügung, weil die Personen keine anderen Aufgaben hätten abgeben können. Dieser Misserfolg war ein sehr wichtiger und wertvoller Lernschritt: Wir haben Mindestpensen von 50 Prozent geschaffen und die angestellten Personen in ein Team integriert – das stellte sich später als richtige und wichtige Entscheidung heraus. Um die territorialen Seelsorgerinnen und Seelsorger von der Idee zu überzeugen, wurden vier konkrete Aufgabenbeschreibungen für folgende Ressorts vorgelegt, die 2017 besetzt wurden: Kultur und Bildung, Spiritualität und neue Gottesdienstformen sowie mobile City-Seelsorge zu je 50 Prozent und die Flüchtlings- und Migrationspastoral zu 70 Prozent.
Frau Gässlein, damals standen Befürchtungen im Raum, dass sich City-Seelsorge und traditionelle Pfarreiseelsorge konkurrenzieren könnten. Wie hat sich dies entwickelt?
Ann-Katrin Gässlein (AG)**: Von Konkurrenz spricht jetzt, nach fast fünf Jahren, niemand mehr. Es gibt aber Überschneidungen, und es ist gut, diese auch zu benennen. Einerseits fühlen sich Mitglieder der Kerngemeinden auch von den Programmen der Cityseelsorge angesprochen, engagieren sich dort freiwillig und kommen zu entsprechenden Veranstaltungen. Da gab es schon hin und wieder Ängste. Heute sehen die meisten, dass die Arbeit des Cityteams in erster Linie Entlastung bedeutet – weil wir uns um Bereiche kümmern, für die immer zu wenig Zeit und Energie blieb. Wir haben jetzt viel Erfahrung mit der Öffentlichkeitsarbeit, von der auch unsere Kolleginnen und Kollegen in den Pfarreien profitieren. Sie sehen, dass wir z. B. mit den «neuen Spiritualitäts- und Gottesdienstformen» wirklich Menschen erreichen, die sonst auf kirchlicher Distanz bleiben würden. Auf der anderen Seite sind die meisten in unserem Team auch in der territorialen, pastoralen Arbeit tätig. Wir kennen Abdankungen, Religionsunterricht, Firmvorbereitung oder Jugendarbeit. Das ist hilfreich, um die Kolleginnen und Kollegen zu verstehen und gegenseitig Wertschätzung zu zeigen.
Für Sie war dies ein spannendes Projekt, in dem Sie neu aufbauen konnten, ohne viel Rücksicht auf traditionelle Strukturen zu nehmen. Zeigen sich heute schon Trends ab, wohin die Reise gehen wird?
RR: Diese Beobachtung teile ich voll und ganz! Die Entlastung von traditionellen Strukturen wie der treibende Rhythmus des Kirchenjahres, wöchentliche Gottesdienste oder die Forderungen der schrumpfenden Kerngemeinde wirkt sehr befreiend. Sie schafft einen weiten Raum für Innovation und Kreativität. Das Team war in den vergangenen fünf Jahren der Schlüssel zum Erfolg. Die Pflege der gemeinsamen Spiritualität, die gegenseitige Wertschätzung und das vernetzte Denken über das eigene Ressort hinaus waren entscheidend. So waren Einzelerfolge immer auch Teamerfolge und wurden von aussen auch so wahrgenommen. Doch auch Scheitern spielt eine zentrale Rolle und soll mit einer Failabration2 gefeiert werden. Denn nur wer scheitern darf, kann mutig experimentieren. Weiter organisieren und realisieren wir alles mit Freiwilligen oder Partnern. Wir haben keine eigenen Räume, die wir dauerhaft betreiben, sondern nutzen die Räume unserer kirchlichen und nichtkirchlichen Partner. Wir evaluieren unsere Arbeit laufend und selbstkritisch. So waren folgende Projekte Flops: Predigtgespräch in der Beiz, Theatergottesdienst – in Luzern klappts, hier nicht –, Trostweihnachten, zweite Runde Krippenwege nach Corona, BrotgeDanken und Jahreszeitenritual. Tops hingegen waren: Beim Namen nennen3, Pop-up-Store Stadtwald4, Grusswerkstatt, Podiumsgespräch im KinoK, Aschekreuz to go, Schwimm-/Velokurs, Living Stones, WaldGwunder, St. Nikolaus in der Altstadt, interreligiöse Bettagsfeier, Deutschkonversation, Wiborada 2021/22, Coronabibel und KostBar im öffentlichen Raum.
Welche Erfahrungen haben Sie mit der von der Pastoraltheologie vermuteten These, dass sich Menschen heute nicht mehr längerfristig binden bzw. engagieren lassen?
AG: Eine längerfristige Bindung – wie man sie vor hundert Jahren aus der Zeit des Milieukatholizismus kannte – ist nicht unser Ziel und wäre zudem unrealistisch. Natürlich knüpfen wir an Bindungen an: An positiven Erfahrungen, die Menschen vielleicht früher mit der Kirche gemacht haben, oder an grundsätzlichen Haltungen von Menschen, die sich dort engagieren möchten, wo es ihren Werten entspricht. Wir arbeiten projektorientiert und das bedeutet: Jedes Mal kann es zu neuen Kooperationen und Allianzen kommen. Jedes Mal haben wir die Chance, mit einer neuen Person in Kontakt zu treten. Das ist nicht nur anstrengend, sondern auch befreiend. Für uns alle ist es wichtig, diesen Menschen eine positive Erfahrung mit der Kirche zu vermitteln. Das kann beitragen, Klischees über «die Kirche» zu revidieren.
Zum Schluss: Was sagen Sie zur wohl schlimmsten Krise unserer Kirche seit nun bald 20 Jahren, den nicht enden wollenden Berichten über sexuelle Übergriffe und Missbrauch durch Kleriker?
AG: Die Sache ist sehr komplex. Die Berichte und Gutachten über sexuelle Übergriffe erstrecken sich über eine sehr lange Zeit, und vieles, was jetzt über Vorfälle in den 1960er- oder 1980er-Jahren zu Tage tritt, wird – gerade in den Medien – umstandslos «der Kirche an sich» angelastet. Die Vorwürfe treffen die heutigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die das Thema «Nähe und Distanz» sehr ernst nehmen und sich entsprechend weiterbilden – auch weiterbilden müssen! Im Gegensatz zum Staat, der mit Hinweis auf andere Zeiten oder andere Parteien einfach ein neues Gesetz verabschieden und sich distanzieren kann, bleibt in der Kirche alles ewig hängen. Dazu haften wir Katholikinnen und Katholiken stets weltweit: Eine negative Schlagzeile aus dem Erzbistum Köln wirkt sich direkt auf unsere Arbeit in St. Gallen aus! Die Wut und die Frustration speisen sich aber auch aus dem Umstand, dass die tiefer liegenden Ursachen der Misere – der Klerikalismus, das Pflichtzölibat, die Diskriminierung von Frauen, die (Un-)Kultur der Intransparenz und Vertuschung – nicht wirklich angegangen werden. Diese Verantwortung ist direkt der kirchlichen Leitungsebene anzulasten, vor allem der weltweiten. In anderen Organisationen wäre der Druck schon längst so hoch, dass die Leitung zurücktreten müsste, um Raum zu schaffen für eine Neuaufstellung. Mitsprache und Mitwirkung aller katholischer Gläubigen wäre ein Gebot der Zeit. In der Schweiz sind wir eigentlich auf einem guten Weg, aber auch bei uns ist zu wenig Mut für wirkliche Veränderung, wirkliches Aufräumen spürbar.
RR: Eine unserer Freiwilligen ist selber von einem schweren sexuellen Missbrauch durch einen verstorbenen Priester aus dem Bistum St. Gallen betroffen. Trotzdem engagiert sie sich noch heute für die Kirche und auch für die Cityseelsorge. Zusammen mit ihr und unterstützt durch die Fachgremien des Bistums St. Gallen haben wir den Anlass «Missbrauch in der Kirche – die City-Seelsorge hört zu» vorbereitet und durchgeführt. Ich empfehle allen pastoralen Teams, das Thema Missbrauch in der Kirche aktiv anzugehen, im Idealfall in Zusammenarbeit mit Betroffenen aus der Region oder der Interessengemeinschaft für Missbrauchsbetroffene im kirchlichen Umfeld. Es führt kein Weg an einer gründlichen Aufarbeitung und an der Auseinandersetzung mit dem geschehenen Leid vorbei!
Interview: Heinz Angehrn
Beispiele der City-Seelsorge (zwei weitere im Bonus):
Beim Namen nennen
Am Weltflüchtlingstag 2022 führten wir zum zweiten Mal die interreligiöse Aktion «Beim Namen nennen – 48 647 Opfer der Festung Europa» durch. Mit verschiedenen Aktivitäten am Wochenende nahmen viele Leute Anteil am Schicksal der Männer, Frauen, Kinder, Babys, die, beim Versuch nach Europa zu flüchten, gestorben sind. Wir lasen in einer 24-Stunden-Gedenkfeier in der evangelisch-reformierten Kirche St. Laurenzen St. Gallen ihre Namen und benannten die Umstände ihres Todes. So machten wir ihr Schicksal der Öffentlichkeit sicht- und hörbar. An mehreren Orten schrieben Freiwillige die Namen der Verstorbenen auf schmale weisse Stoffstreifen – einerseits als stiller Protest und anteilnehmender Ausdruck einer tief verwurzelten Güte in den Menschen, und andererseits als stiller Ausdruck einer kollektiven Anerkennung, dass wir immer noch nicht das sind, was wir sein sollen: eine Menschheitsfamilie, wo das Leid des einen zum Schmerz und Leid des anderen wird, und ein Ausweg gesucht wird. Diese Stoffstreifen wurden als Mahnmal an Schnüren an der Fassade der Laurenzenkirche angebracht.
Chika Uzor erzählt: «Lehrpersonen, Schülerinnen und Schüler, Pfarreien und Moschee, Einzelpersonen und Familien schickten diese beschrifteten Namenstreifen ein. Ich leerte alle in die Schalen hinein. Mir stockte der Atem. Welch eine Menge! Tausende! Unsichtbar drängten sie gesehen und gehört zu werden, ihr Namen, ihre gemeinsame Sehnsucht nach Schutz und Leben. Emsig versuchten Freiwillige dem Drängen nachzukommen. Und an der Kirchenfassade wuchsen sie in die Höhe. Ein unübersehbares Heer hoffnungsvoller Menschheit! Sie klagen uns nicht an. Nein. Sie möchten uns anspornen, an einer menschlicheren Welt hart und unablässig weiter zu schaffen, jede und jeder an seinem / ihrem Ort. Und wenn wir das Unsere getan haben, machen wir, wie es ein Freiwilliger in der Nachtstunde tat: Voller Ehrfurcht stand er barfuss und las bedächtig die Namen der Verstorbenen in die leere Kirche hinein, Gott, dem Schöpfer, ans Herz. So legt er, wie alle anderen Lesenden, die Hoffnung dieser Menschen, unsere eigene Ohnmacht, unser ungeteiltes Ja zum Leben eines jeden Menschen Gott in die Hand.»
Chika Uzor,Flüchtlings- und Migrationsseelsorger
WaldGwunder
Was sich im englischsprachigen Raum schon seit einigen Jahrzehnten einer grossen Beliebtheit erfreut, fasst nun auch bei uns langsam Fuss: An mehreren Orten entstehen seit Kurzem «Forrest Churches». In St. Gallen hatte Pfarrer Uwe Habenicht von der evangelisch-reformierten Kirchgemeinde Straubenzell 2018 mit einer «Waldkirche» begonnen und 2019 sind wir von der Cityseelsorge in dieses Projekt mit eingestiegen. Dabei hat sich ein spannender Weiterentwicklungsprozess ergeben, der zu einem grossen Teil vom Engagement Freiwilliger getragen wurde. Sie liessen sich begeistert auf das Projekt «Kirche im Wald» ein. Es wurde ausprobiert und das spirituelle Experimentierfeld Wald erkundet. Ein Waldkirchentag diente der Reflexion der bereits gemachten Erfahrungen; eine Architektur der neuen Waldkirche wurde entwickelt, die uns bis heute als liturgisches Grundgerüst dient, und ein neuer Name wurde gefunden, der auch Kirchenfernen die Option bieten sollte, sich darauf einzulassen. Und «WaldGwunder» war geboren!
Unter freiem Himmel und in der Natur Gott auf der Spur sein. Erfrischend anders Glauben leben – spirituell, inspirierend, naturverbunden! Das ist WaldGwunder – unser St. Galler Forrest-Church-Format. Unsere Hoffnung ist, dass WaldGwunder eine spirituelle Heimat für diejenigen werden kann, die das Göttliche ausserhalb traditioneller kirchlicher Formen suchen und es leichter draussen im Wald finden als drinnen im Kirchenraum. Dazu treffen wir uns einmal zu jeder Jahreszeit an einem Samstagvormittag im Wald. Eine wichtige Grundhaltung besteht darin, dass wir nicht einfach das im Wald machen, was wir auch im Kirchenraum machen könnten. In verschiedensten Stationen suchen wir nach den Möglichkeiten, die uns nur der Wald und die Natur bieten, um Leben und Glauben spirituell zu vertiefen. Uns ist es dabei wichtig, unser Menschsein auf ganz unterschiedlichen Ebenen anzusprechen: meditativ, handwerklich, erzählend, haptisch, poetisch, experimentierfreudig, theologisch oder philosophisch. Die Erfahrungen, die die Einzelnen dabei machen, kann bei WaldGwunder immer auch in der Gemeinschaft reflektiert werden. So bleiben wir nicht nur auf der individuellen Ebene verhaftet. Glaube braucht das Du – auch im Wald.
Matthias Wenk, Ressort Spiritualität / neue Gottesdienstformen