Theologie im postökumenischen Zeitalter

«Theologie im post-ökumenischen Zeitalter» – mit diesem Untertitel setzt das Doktoratsprogramm «De civitate hominis» an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg Schweiz Zeichen. Dem Freiburger «Institut für Ökumenische Studien» geht es um einen neuen theologischen Zugang zur Aufgabe der Ökumenischen Bewegung: Nicht die klassischen kontroverstheologischen Themen stehen im Vordergrund, sondern die gemeinsame Verantwortung angesichts zeitgenössischer Herausforderungen für Kirche und Theologie. Wie kann heute die «civitas Dei», von der Augustinus spricht, sich als «civitas hominis» bewähren, als grosse Hoffnung für das Gelingen der sozial verfassten Menschheit? Die vielfältigen kirchlichen Hintergründe und Verwurzelungen der Doktorandinnen und Doktoranden werden hermeneutisch reflektiert und kon- struktiv als Bereicherung in den theologischen Austausch eingebracht. Über die fachspezifische Begleitung durch die verantwortlichen Doktorväter und -mütter hinaus erhalten die angehenden Forschenden Einblicke in die grössere Wissenschaftsgemeinschaft, um die Einheit der Theologie zu wahren und eine kritisch-konstruktive Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Reflexionsformen des Glaubens einzuüben.

Am 13. November 2015 fand im Rahmen dieses Programms ein besonderer Studientag statt: Die Doktorandinnen und Doktoranden der Theologischen Fakultät Freiburg sowie mehrerer Partnerfakultäten im In- und Ausland waren eingeladen. Über 100 junge Forschende nahmen teil: Die Freiburger Doktorierenden selbst reisten teilweise aus ihren Wohnorten ausserhalb von Freiburg i. Ü. an. Hinzu kamen Teilnehmende der reformierten Fakultäten von Bern, Zürich und Genf, von der «Staatsunabhängigen Theologischen Hochschule Basel», vom Institut für höhere Studien in Orthodoxer Theologie in Chambésy bei Genf sowie grössere orthodoxe Delegationen aus Moskau, von den Theologischen Fakultäten in Cluj und Bukarest in Rumänien, aus Sofia in Bulgarien. Der Vielzahl der theologischen Traditionen entsprach die Vielstimmigkeit der Muttersprachen, neben der deutsch-französischen Prägung Freiburgs auch Englisch, Italienisch, Rumantsch, Spanisch, Katalanisch, Portugiesisch, Schwedisch, Niederländisch, Slowakisch, Ungarisch, Griechisch, Serbisch, Rumänisch, Russisch, Ukrainisch, Bulgarisch, Polnisch, Armenisch, Afrikaans, Igbo, Fon, Eton, Tsailuba, Tamil, Malagasy, Ivrit – nach eigenen Angaben der anwesenden Doktorierenden.

Dank dem Hauptreferenten des Tages, Prof. John Milbank aus Nottingham, wurde aus dieser Vielfalt keine babylonische Verwirrung, sondern ein anregender theologischer Austausch. Milbank ist der Gründer und einer der führenden Vertreter der theologischen Erneuerungsbewegung «Radical Orthodoxy», die im deutschen Sprachraum bislang wenig bekannt ist. Entstanden 1997 an der «Divinity Faculty» in Cambridge, ist sie gegenwärtig eine informelle Denkgemeinschaft aus Theologinnen und Theologen verschiedener christlicher Traditio-nen und verschiedener theologischer Interessen, die einige Grundannahmen und Ziele miteinander teilen, wie sie in Milbanks Vortrag exemplarisch zur Geltung kamen. Der kämpferische, provokante Ton, der «Radical Orthodoxy» bereits dem Namen nach kennzeichnet, zeigte sich bereits im ersten Satz: «Säkularisierung ist abzulehnen, denn aus dem Tod Gottes folgt notwendig der Tod des Menschen.» Der nächste Absatz entfaltete die komplementäre These: «Das Christentum selbst ist Quelle einer positiven Säkularisierung, wenn darunter die Desakralisierung politischer Macht und Gesetzlichkeit und die neue Verknüpfung des Sakralen mit den freien Kräften des menschlichen Geistes verstanden wird.»

Dieser Denkhorizont brachte alle Mitwirkenden in ihren jeweiligen theologischen und kirchlich verwurzelten Sensibilitäten in eine Bewegung des Nachdenkens. Es geht Milbank um nichts Geringeres als um einen verantworteten Bezug zur modernen und postmodernen Welt, gründend in einer stupenden Kenntnis der gesamten Geistes- und Kulturgeschichte, die selbst Doktoratsstudierende aufs Äus-serste herausforderte. Milbanks Affinität zur dominikanischen Prägung der Freiburger Fakultät wurde deutlich: «Radical Orthodoxy» sieht den ambivalenten geistesgeschichtlichen Ursprung der Moderne in dem franziskanischen Denker Johannes Duns Scotus (gestorben 1308) und seiner Lehre von der «Univozität des Seins». Wenn Gott in derselben Weise «ist» wie die Welt, dann treten Schöpfer und Schöpfung, ja auch die Wirklichkeiten dieser Welt, potentiell zueinander in eine gewaltanfällige Konkurrenz. Gottes Gebote sind dem Menschen äusserlich. Glaube wird zu einem Gehorsamsgeschehen, und das Leben in dieser Welt ist durch Ethik ohne inneren Bezug zum Glauben bestimmt. Milbank plädiert demgegenüber für eine zeitgemässe Erneuerung der Analogielehre im Sinne der dominikanisch-thomistischen Tradition: Die Welt ist nur zu verstehen «als Teilhabe an Sein, Wahrheit, Güte und Einheit Gottes», als Mitwirkung am göttlichen Handeln. Deshalb ist die Liturgie die höchste Form menschlichen Handelns. Doch «Radical Orthodoxy» ist kein klassischer «Thomismus», sondern greift in kritischer Auseinandersetzung auf Elemente der Postmoderne zurück: Die Bewegung plädiert entschieden für die Wahrheitsfähigkeit der menschlichen Vernunft und integriert zugleich die zeitgenössische Suche nach ästhetischen Formen der Wahrheitsvermittlung und nach einem sozial-politischen Engagement aus den Quellen des Glaubens.

Die Qualität des theologischen Beitrags von John Milbank erwies sich daran, dass die intensive Arbeit in Workshops nicht auf die Frage «Radical Orthodoxy – pro oder contra?» verkürzt wurde. Nicht selten kamen kritische Anfragen an Milbanks Ansatz zur Geltung, doch stets im Dienst einer geschärften theologischen Argumentationsfähigkeit. Es wirkten mit: die altkatholische Professorin Angela Berlis aus Bern und ihr Oberassistent Dr. Adrian Suter; Daniel Bogner, Professor für Moraltheologie in Freiburg, zusammen mit Dr. Stefan Orth, Redakteur der Herder Korrespondenz; der emeritierte Professor der systematischen Theologie aus Lausanne und Genf Denis Müller; Dr. Michael Quisinsky, Privatdozent für Fundamentaltheologie; Prof. Mikhail Seleznov, Moskau; Prof. Harald Seubert, Basel/ München; der Dekan der Theologischen Fakultät Freiburg, Prof. Hans-Ulrich Steymans. Der neue Ehrendoktor der Freiburger Fakultät, Prof. Denis Edwards, aus Adelaide/Australien, der für seinen Entwurf einer «ökologischen Theologie» geehrt wurde, nahm ebenfalls an den Diskussionen teil. In der Podiumsdiskussion wurden Verdienste und mögliche Schwächen eines so «ganzheitlichen» theologischen Ansatzes wie «Radical Orthodoxy» gewürdigt und in eine Aufgabenbeschreibung für theologisches Arbeiten in den verschiedenen Kontexten umgemünzt. Der Moskauer Exeget Mikhail Seleznov bezog die Impulse von «Radical Orthodoxy» auch ausdrücklich auf die kirchlich-orthodoxe Welt am Beispiel der spät- und nachsowjetischen Entwicklungen in Russland. Die Aufgabe einer Inkulturation der Theologie in verschiedene Kontexte wurde lebhaft diskutiert.

Die Bilanz des Studientages war äusserst ermutigend: Die ökumenische Dynamik der Theologie kann in einer fruchtbaren Weise für das gemeinsame kreative Weiterdenken in theologischen Fragen genutzt werden und belebt das gegenseitige Verständnis der kirchlichen Traditionen. In ermutigenden Impulsen für die jungen Forschenden resümierte Milbank sein Plädoyer für eine «theologische Theologie», die auf der Grundlage biblischer und patristischer Quellen ihren spezifischen und unverzichtbaren Beitrag zur Wissenschaftsgemeinschaft und zur öffentlichen Debatte leistet. Dabei lud er zu einem ständigen intensiven Austausch mit philosophischem Denken ein. Theologie ist nur gut als «Theologie und …», die sich dialogisch allen Bereichen der Weltdeutung öffnet. Zum Abschluss forderte Milbank die Doktorandinnen und Doktoranden auf, in der sprachlichen Vermittlung kreativ zu bleiben: Sass vielleicht im Hörsaal ein künftiger Autor, der wie C.S. Lewis theologischen Gedanken eine literarische Gestalt zu geben weiss und damit über Jahrzehnte hinweg Millionenauflagen erreicht, mit Übersetzungen, so zahlreich wie die Muttersprachen der Freiburger Doktorierenden? 


Barbara Hallensleben

Prof. Dr. Barbara Hallensleben (Jg. 1957) ist Professorin der Dogmatik an der Theologischen Fakultät der Universität Fribourg und Direktorin des Zentrums für das Studium der Ostkirchen.