Christlich motiviert - vernünftig begründet

Bildungs- und forschungsethische Perspektiven

1. Einleitung: Das Besondere einer christlichen Ethik?

Die theologische Ethik nimmt Erkenntnisse aus der Theologie sowie aus den Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften auf, um ethische Fragen des menschlichen Lebens und Handelns zu reflektieren und auch, um konkrete Urteile zu bilden. Ein Teil der theologischen Ethik ist die angewandte Ethik, die sich z. B. mit Schule und Bildung oder mit der medizinischen Forschung am Menschen befasst. Nun beschäftigen sich beispielsweise mit der Bildungsethik oder der Forschungsethik nicht nur theologische, sondern auch philosophische Ethikerinnen und Ethiker. Worin besteht eigentlich das Spezifische, wenn sich eine Ethikerin aus der Theologie in eine gesellschaftliche Debatte oder in eine Ethikkommission einbringt? Das fragen zum einen Mitglieder der Kirche, und zum anderen wollen nicht mehr christlich gebundene Bürgerinnen und Bürger wissen, inwiefern Diskussionsbeiträge von Theologinnen und Theologen heute für sie noch von Bedeutung sind. Was ist also das Besondere einer christlichen Ethik?

Als spontane Antwort würden Theologiestudierende vielleicht nennen:

  • das Gebot der Nächstenliebe und Jesu Einsatz für Arme und Benachteiligte;
  • das Friedensgebot und das Gebot der Feindesliebe;
  • die Gottebenbildlichkeit des Menschen und dementsprechend die Würde und Gleichheit aller Menschen;
  • die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen mit Endlichkeit und Scheitern und Gottes Gnade;
  • angesichts unterschiedlicher Wesensbestimmungen des Menschen und moralischer Normen in der Bibel muss man durch die Vernunft erschliessen, was aus ethischer Sicht gut und richtig ist.

Im Folgenden wird auf verschiedene Möglichkeiten eingegangen, das Spezifische einer theologischen Ethik zu bestimmen.1 Es wird zudem ausgezeigt, welche Engführungen es zu vermeiden gilt.

2. Antwortmöglichkeiten

2.1. «Materiale» Antwort

Wenn Glaubensinhalte hervorgehoben und korrespondierend gehaltvolle moralische Orientierungen oder Normen genannt werden, beispielsweise das Gebot der Nächstenliebe und Jesu Einsatz für Benachteiligte, handelt es sich um materiale Antworten. Besteht das Besondere christlicher Ethik darin, dass das Christentum einzigartige, ja exklusive moralische Inhalte bietet?

Engführung: Exklusivität materialer Gehalte

Das Weltprogramm des Christentums des Münsteraner Theologen Johann Baptist Metz kennzeichnet die Empfindlichkeit für das Leid der anderen als «die neue Art zu leben».2 Sie ist nach Metz «der stärkste Ausdruck jener Liebe, die er [Jesus] meinte, wenn er – übrigens ganz in der Tendenz seines jüdischen Erbes – von der unzertrennlichen Einheit von Gottes- und Nächstenliebe sprach».3 Die Bereitschaft, das Leid des anderen wahrzunehmen, sich dem Leid zuzuwenden und Abhilfe zu fordern, stellt für Metz die zentrale christliche Forderung dar.

Metz wollte Ende der 1990er-Jahre zeigen, dass sich das Christentum von anderen Religionen unterscheidet. Doch wurde Metz, der das Leiden Christi und die Leidempfindlichkeit als Zentrum des Christentums auszeichnete, teilweise von Kritikern missverstanden, die ihm entgegenhielten, dass ein religionsgeschichtlicher Vergleich – etwa mit dem Judentum oder dem Hinduismus – zeigen würde, dass auch dort das Gebot des Mitleidens eine zentrale Stellung einnehmen kann. Ebenso lasse sich das Gebot der Nächsten- und Feindesliebe in anderen Kulturen oder Religionen nachweisen. Was macht dann aber eine christliche Ethik aus?

Stattdessen: theologische Reflexion auf die Kerngehalte der christlichen Botschaft und Entfaltung ihrer Relevanz für die Ethik

Es handelt sich um ein Missverständnis, wenn man meint, die Frage nach dem Besonderen einer theologischen Ethik exklusiv beantworten zu müssen. Vielmehr geht es darum, den Wesenskern des Christlichen zu bestimmen und von dort aus ethische Fragen zu betrachten. Wenn es um die Bestimmung des Kerngehalts des christlichen Glaubens geht, ist die theologische Ethik eine Teildisziplin der Theologie, die in Verbindung mit anderen Quellen des Glaubens (loci theologici) zentrale Inhalte der christlichen Botschaft erschliesst. Wenn sich daraus für die theologische Ethik materiale Forderungen wie «Mitleiden» oder «Nächstenliebe» ergeben, müssen diese nicht exklusiv sein, wohl aber dem Kerngehalt des christlichen Glaubens entsprechen.

Ergänzend: hermeneutische Exegese, Begründungs- und Anwendungsdiskurse

Hinzu kommen dann aber Fragen der normativen Ethik: Zum Mitleiden aufgefordert zu sein, lässt aus ethisch-normativer Perspektive auch fragen, wer leidet – und in Bezug auf welches moralische Gut oder Recht? Ausserdem ist zu klären: Was darf oder soll ich tun, um das Leiden zu lindern? Für konkrete Fragen angewandter Ethik müssen wir ausserdem klären, ob wir uns auf der ethisch-normativen Ebene oder auf der Ebene gelingenden Lebens bewegen, und auf welche Weise Kerngehalte der christlichen Botschaft sich jeweils fruchtbar machen lassen. Bedeutet Metz’ Konzept der «compassion», dass ich eine Haltung der Sensibilität für fremdes Leid einübe, dass Metz also einen Beitrag zur Ethik des guten Lebens leistet? Oder versuche ich, die christliche Forderung der «compassion» auf normative Fragen der Beihilfe zum Suizid oder der medizinisch assistierten Tötung auf Verlangen anzuwenden? Dann muss geklärt werden, auf welche Weise man angesichts des Leidens und des Verlangens anderer Menschen nach Leidenslinderung handeln soll.

2.2. Anthropologische Antworten

Häufig gelangt man auf der Suche nach dem christlichen Proprium der Ethik zu anthropologischen Aussagen. In einer theologischen oder philosophischen Anthropologie bemüht sich der Mensch um ein vertieftes, kritisch geklärtes Verständnis seiner selbst. Zur Entfaltung der anthropologischen Grundlagen bedarf es Einsichten in die verschiedenen Dimensionen des Menschseins: u. a. Leiblichkeit, Autonomiefähigkeit, Gemeinschaftlichkeit, Endlichkeit, Religionsfähigkeit.

Die theologische Anthropologie interpretiert die Natur des Menschen in einem heilsgeschichtlichen Kontext. Sie sieht den Menschen als von Gott geschaffenes und zugleich erlösungsbedürftiges Wesen. Das Theologumenon der Gottebenbildlichkeit und dementsprechend seine Einzigartigkeit und Würde oder das Theologumenon der Geschöpflichkeit und dementsprechend seine Irrtumsfähigkeit und die Begrenztheit des Lebens durch den Tod sind Grundeinsichten einer theologischen Anthropologie. Doch welchen Stellenwert haben diese Überlegungen für eine theologische Ethik?

Bei der Entfaltung einer christlichen Anthropologie geht es zunächst nicht um das Feld der Ethik, sondern um eine hermeneutisch-beschreibende Analyse der Wesenszüge des Menschen und seiner Wirklichkeit. Es geht um ein Verstehen, Deuten der menschlichen Existenz. Der Mensch reflektiert sich selbst und bezieht lebensweltliche und geschichtliche Erfahrungen sowie empirische Erkenntnisse mit ein. Unterschiedlichste Einsichten über den Menschen sind kritisch zu sichten, zu bewerten und in einen konsistenten Zusammenhang zu bringen.

Eine Anthropologie ist immer historisch und weltanschaulich bestimmt, und insofern stets kontrovers. Man denke etwa an so manche Versuche, das Wesen der Frau zu bestimmen, die heute als zeitbedingt, als offenkundig irrig oder machtideologisch abzuweisen sind. Zugleich muss die Frage nach dem Menschen immer auch eine offene bleiben, denn der Sinngehalt anthropologischer Reflexion erlaubt keine vollständige Festlegung übergeschichtlicher und unveränderlicher Bestimmungsmerkmale.

Darüber hinaus besteht zwischen Anthropologie und Ethik ein gewisser Abstand: Aus einer hermeneutisch angelegten Anthropologie heraus können nicht unmittelbar moralische Normen oder ethische Urteile abgeleitet werden, da es der normativen Ethik um Präskription geht, also darum, wie wir handeln sollen. Bei einem normativ verstandenen Sollen bedarf es der Angabe von Gründen, die mit philosophischen Begriffen und Mitteln als logisch stringent oder zumindest als plausibel ausgewiesen werden.

Ausserdem sind ethisch-normative Anwendungsfragen immer sehr viel konkreter als anthropologische Bestimmungen: Wenn der Mensch in seiner Würde zu achten ist, ist noch nicht geklärt, auf wen die Rede von der Gottebenbildlichkeit anzuwenden ist. Wer ist denn Träger von Menschenwürde? Die Antwort «der Mensch» bedeutet eine Verschiebung auf die Frage «Wer ist ein Mensch»? Der theologische Zuspruch Gottes zum Menschen beinhaltet keine Definition des Menschen im Sinne eines moralischen Status. Über das Statusproblem und die Schutzwürdigkeit menschlichen Lebens muss also eigens philosophisch nachgedacht werden. Wenn beispielsweise die Frage der Forschung mit menschlichen Embryonen zur Debatte steht, könnte man sich mit philosophischen Argumenten für den Schutz befruchteter Embryonen aussprechen, indem man sich auf Potentialität, Kontinuität und Identität des Menschen von Anfang an bezieht.

Stattdessen: christliche Anthropologie als Motivation und Orientierung für die theologische Ethik

In der Anthropologie geht es um die Selbsterkenntnis des Menschen im Kontext seiner Erfahrungen. Daher gibt die Anthropologie der Ethik eine grundlegende Motivation und Orientierung. Motivation verstehe ich hier im Sinne eines «Beweggrunds». Eine Anthropologie kann aufzeigen, dass sich der Mensch nicht über die Bedingungen seines Daseins hinwegsetzen sollte, da er sonst «sein Wesen» oder seinen Sinn leicht verfehlen kann.4 Damit können anthropologische Bestimmungen für eine Ethik, die nach dem Gelingen des Lebens fragt, Hinweise geben: Wenn sich der Mensch als Beziehungswesen versteht, das auf andere und auf die Zuwendung Gottes angewiesen ist, dann kann er seine Identität und Würde nicht aus sich selbst heraus konstituieren und das «Sta-dium der Unmündigkeit» hinter sich lassen. Vielmehr ist ihm deutlich, dass er sein Leben in einer unaufhebbaren Dialektik von Abhängigkeit und Selbständigkeit führt.

Zudem kann die Anthropologie eine kritische Sichtweise in ethisch-normative Reflexionen einbringen: Die anthropologische Bestimmung des Menschen als eines leiblichen, auf Schutz und Fürsorge anderer angewiesenen Wesens wirkt der Tendenz, die eigene Verletzbarkeit und Endlichkeit zu übersehen, entgegen. In Bezug auf Selbstbestimmung wird deutlich, dass es zahlreiche Voraussetzungen und Begrenzungen für freie Entscheidungen und Handlungen gibt. In Bezug auf Forschung und technische Neuerungen regt die Einsicht in die Irrtumsfähigkeit des Menschen z. B. zu Vorsichtsmassnahmen an.

2.3. «Erkenntnistheoretische» Antworten

Nun kommen wir zur letztgenannten Antwortmöglichkeit: Theologische Ethik muss mit Mitteln der Vernunft zeigen, was gut und richtig ist. Auch die moralischen christlichen Normen und ethisch relevanten Aussagen über das Wesen des Menschen müssen mit philosophischen Begriffen und Theorien erschlossen und begründet werden. Diese Form des Antwortens lässt sich als «erkenntnistheoretisch» bezeichnen. Sie bezieht sich auf das Verhältnis von autonomer Moral und christlichem Glauben oder anders gesagt auf das Verhältnis von Vernunft und Glauben.

Autonome Moral im christlichen Kontext

Der Ansatz einer autonomen Moral im christlichen Kontext, der sich in den 1960er- bis 1980er-Jahren herausgebildet hat (für ihn stehen u. a. Alfons Auer, Franz Böckle, Josef Fuchs, Johannes Gründel, Bruno Schüller) wird heute innerhalb der deutschsprachigen theologischen Ethik in der einen oder anderen Form vertreten. Der damalige Streit um die Autonomie der Moral im Kontext des christlichen Glaubens und die so genannte Glaubensethik sind heute weitgehend beigelegt. Man ist sich einig darin, dass die Begründung ethischer Urteile mit philosophischen Mitteln erfolgen muss, dass also kein Sonderweg gesucht wird, sondern die Kommunikabilität und Konvergenz mit dem philosophischen Argument.

Es wird davon ausgegangen, dass Moral von der Freiheit, Verantwortlichkeit und Vernunftfähigkeit des Menschen her zu denken ist: In der Realisierung seiner Freiheit entdeckt der Mensch, was seine moralische Pflicht ist. Dabei ist die Vernunft der Massstab. Weil die theologische Ethik auf der christlichen Botschaft gründet, ist diese für die Entdeckung ethischer Probleme und die Motivation, verantwortlich zu handeln, relevant. Allerdings relativiert die christliche Botschaft die Bedeutung der Moral, wenn es um eine letzte Beurteilung des Menschen geht: Das Zentrum des Menschseins besteht nicht aus seiner Moralfähigkeit, sondern aus seiner Begrenztheit und Heilsbedürftigkeit.

Engführung: Autorität besonderer Erkenntnisquellen und hermeneutische Verkürzungen

Eine Antwort, die zu kurz greifen würde, bestünde darin, dass man eigenständige, zusätzliche oder nicht mit der so genannten «säkularen» Vernunft nachvollziehbare moralische Normen nennen würde, die auf besonderen Zugängen zur Offenbarung beruhen. Es ist beispielsweise problematisch, wenn moralische Einsichten – ohne Berücksichtigung hermeneutisch-kritischer Methoden – recht unmittelbar aus dem Neuen oder Alten Testament erschlossen werden. So gibt es beispielsweise biblizistisch-fundamentalistische Vertreter, die moralische Normen und Urteile unmittelbar aus der Bibel entnehmen und ihre partikulare Lesart der Schrift als die einzig mögliche darstellen. Ausserdem gibt es Vertreter, die einer religiösen Autorität, etwa dem römischen Lehramt, in moralischen Fragen gesteigerten oder gar exklusiven Anspruch auf die richtige Auslegung der Quellen des Glaubens und der Vernunft beimessen. Aber auch Vertretern religiöser Hierarchien oder spirituell gereiften Gläubigen wird teilweise ein besonderes Erkenntnisvermögen zugeschrieben. Doch Fragen religiöser Erfahrung und Einsicht sind zu unterscheiden von Fragen der Moral. Wie wir in der Welt handeln sollen, lässt sich nicht unmittelbar aus religiösen Einsichten ableiten, und ein tiefer Glaube verleiht uns auch nicht per se bessere Einsichten in das aus ethischer Sicht richtige und gute Handeln. Man denke etwa an Bernhard von Clairveaux, der 1146 in der Kathedrale von Vézelay aus tiefer Glaubensüberzeugung und als beeindruckender Prediger zum gewaltvollen zweiten Kreuzzug aufrief.

Als Beispiel für eine biblizistische Herangehensweise könnte man etwa das fünfte Gebot des Dekalogs «Du sollst nicht töten» nennen und betonen, dass das Tötungsverbot ohne Ausnahme gilt. Es lässt sich aber zeigen, dass für die Begründung und Anwendung dieser so gewichtigen religiösen Norm philosophische Begründungsstrukturen erforderlich sind.5 So hat es in der Tradition, etwa bei Augustinus oder Thomas von Aquin, immer schon Einschränkungen des Tötungsverbots gegeben: Tötung zur Lebensrettung eines anderen Menschen, Tötung in Notwehr oder Selbsttötung zur Vermeidung schlimmerer Handlungen, zum Beispiel einer drohenden Vergewaltigung. Töten im «gerechten» Krieg oder als Todesstrafe galt ebenfalls als Einschränkung. In Europa haben wir seit der Nachkriegszeit die Todesstrafe abgeschafft, weil wir sie als falsch erkannt haben.

Wenn Vernunft und Offenbarung zu wenig aufeinander bezogen werden, entsteht eine erkenntnistheoretisch problematische Opposition, die die Wissenschaftlichkeit der theologischen Ethik in Frage stellt. Man würde dann von einer theonomen Moral sprechen, die nur einer durch den Glauben geprägten und damit spezifischen Vernunft zugänglich wäre. Ein solcher Zugang zur Moral wurde in einem Grundlagenstreit zwischen Moraltheologen in den1970er-Jahren als «Glaubensethik» bezeichnet. Vom Glauben her begründete moralische Urteile lassen sich schwerlich in eine Gesellschaft vermitteln, die nicht mehr durchgängig christlich geprägt ist oder die an einzelnen moralischen Geboten der Amtskirche zweifelt. Als extreme Engführungen sind Biblizismus oder Lehrpositivismus zu nennen, die die hermeneutisch-historisch-kritischen Methoden der Exegese und Dogmatik übergehen. Eine unmittelbare Ableitung moralischer Normen und Urteile aus den Quellen des Glaubens brächte mit sich, dass christliche Moral als eine Form religiöser Moral gleichgültig neben vielen anderen stehen und in einer pluralen Gesellschaft als eine Stimme unter vielen Gehör finden würde.

3. Anwendung: Gerechtigkeit in der Bildung

Gehen wir nun zur eingangs gestellten Frage zurück: Was charakterisiert eine Ethikerin, einen Ethiker aus der Theologie in einer Debatte um Gerechtigkeit und Bildung? Die Zahlen der PISA-Erhebungen seit 2001 und die OECD-Bildungsberichte führen immer wieder an, dass die Chancengleichheit im Bildungswesen in zahlreichen europäischen Ländern noch zu gering ist: Der Bildungserfolg hängt immer noch sehr stark von Herkunft und sozioökonomischem Hintergrund des Kindes ab. Vergleicht man etwa die Lesekompetenz von Kindern, deren Eltern in sozioökonomischer Hinsicht gut gestellt sind, mit der entsprechenden Kompetenz von Kindern aus anderen Familien, so erreichen Kinder von Eltern aus der oberen sozioökonomischen Schicht im Vergleich zu Kindern aus den unteren Schichten doppelt so viele Punkte. Es ist naheliegend, eine kausale Beziehung zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg anzunehmen: Die berufliche Stellung und die ökonomische Lage der Eltern, aber auch ihr Bildungsstand, ihr Kommunikationsverhalten, das Vorhandensein so genannter «klassischer» Bildungsgüter im familiären Haushalt und die in der Familie gesprochene Sprache beeinflussen demnach die schulischen Leistungen von Kindern.

Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind aus einem sozial schwachen Umfeld durch Bildung stärker als die Eltern am gesellschaftlichen Wohlstand teilhaben könnte, ist in der Schweiz und in Deutschland laut OECD deutlich geringer als z. B. in den nordeuropäischen Staaten.

Ist es ungerecht, wenn Kinder mit vielleicht gleicher Begabung nicht die gleichen Chancen haben? Sollte man daher verpflichtend und kostenfrei vorschulische Bildung für alle Kinder ab dem 4. Lebensjahr bereitstellen, wie dies die Schweiz seit kurzem zu bewerkstelligen sucht, damit nicht schon vor der Primarschule Nachteile entstehen – Nachteile, die dazu führen, dass diese Kinder weniger gute Schulabschlüsse machen und seltener angesehene und gut dotierte Berufswege einschlagen? Also durchgängig mehr Chancengerechtigkeit durch einen für alle früheren Bildungsbeginn?

Schon unter dem Gesichtspunkt von «Differenzgerechtigkeit» lässt sich ein Vorschulprogramm, das aus unseren Kindern lese- und rechenkompetente Schüler/ innen machen will, die sich später gut in den wirtschaftlichen Bedarf einfügen, kritisieren. Wäre es nicht besser, die Kinder entsprechend ihren individuellen Vorlieben und Talenten zu fördern, d. h. auch musische und sportliche Aspekte nicht zu vernachlässigen oder insbesondere soziale Kompetenzen zu stärken? Sollten Kinder nicht vor allem die Möglichkeit erhalten, ihr jeweiliges Potenzial zu entwickeln? Ein ausdifferenziertes Vorschul- oder Schulbegleitprogramm zur umfassenden Entwicklung der Persönlichkeit wäre dann vonnöten und weniger ein auf Lesen und Rechnen bezogener Vorschulunterricht.

Man könnte jedoch drittens auch fordern, dass eine Art Bedürfnisgerechtigkeit gewährleistet werden sollte: Jedes Kind sollte im Ergebnis ein bestimmtes, für die gesellschaftliche Teilhabe allermindestens erforderliches Bildungsniveau tatsächlich erreichen. Was darüber hinaus geschieht, obläge dem Kind und seinem eigenen Bemühen. Hier könnte man dann Leistungsgerechtigkeit walten lassen. Wer also intensiv und eigeninitiativ lernt, würde dann auch umso mehr Bildungsangebote erhalten.

Offensichtlich kann mit dem Begriff Gerechtigkeit in der Ethik sehr Unterschiedliches gemeint sein. Aus christlicher Sicht wird man vermutlich nicht umgehend auf Leistungsgerechtigkeit, etwas in Form von Begabtenförderung, zusteuern. Man wird auch Bildung um des Menschen willen und nicht allein um eines gesellschaftlichen Nutzens willen befürworten. Doch angesichts einer christlichen Option für Arme bzw. Benachteiligte wird man fragen, wer eigentlich in welcher Hinsicht Nachteile hat und daher Ausgleichmassnahmen erhalten sollte. Denn benachteiligt können sich Menschen in vielerlei Hinsicht fühlen. Was sind aus ethischer Sicht relevante Benachteiligungen? Worauf hat jedes Kind Anspruch und warum? Dies ist mit gut begründeten Gerechtigkeitstheorien und Vernunftargumenten zu klären. Man wird auch darüber streiten müssen, wie viel Fördermassnahmen finanziert werden müssen, um soziale oder individuelle Begabungsnachteile auszugleichen.

Hinzu kommen die schwierigen empirischen Fragen der Wirksamkeit von Massnahmen. Wenn Kinder aus armen Familien im Schulsystem trotz gleichverteilter biologischer Begabungsvoraussetzungen weniger Erfolg im Beruf haben: Wie liesse sich das denn ändern, wenn man es wollte? Der Streit um Schulsysteme und öffentlich finanzierte Frühfördermassnahmen geht zum Grossteil darum, ob kindliche Frühförderung tatsächlich ein wirksames Mittel für mehr Chancengleichheit darstellt. Hier muss jede anwendungsbezogene Ethik interdisziplinär arbeiten: sozialwissenschaftliche Studien und Lehrerfahrungen aus unterschiedlichen Ländern und Schultypen müssen methodenkritisch gesichtet und interpretiert werden.

4. Anwendung: Forschung am Menschen

Wenn wir als Patienten ins Spital oder in eine Arztpraxis kommen, kann es sein, dass wir um die Mitwirkung an einer klinischen Studie gebeten werden: Eine in ihrer Unschädlichkeit oder Wirksamkeit noch nicht gesicherte Behandlung soll getestet werden. Die medizinische Forschung am Menschen steht unausweichlich in einem Spannungsfeld: Einerseits zielt sie auf Erkenntnisgewinn im Allgemeinen und auf Therapieverbesserungen für künftige Patienten, andererseits bedarf sie dazu konkreter Versuchspersonen, die Belastungen und Risiken ausgesetzt werden. Fragt man nun, wie gross die potenziellen Schädigungen und Belastungen der Versuchsteilnehmerinnen und -teilnehmer sein dürfen, ergeben sich in der philosophischen Ethik je nach Argumentationsrichtung bzw. ethischer Theorie unterschiedliche Urteile: Eine klassisch utilitaristische Argumentationsrichtung wird entsprechend dem obersten Prinzip der Maximierung des Nutzens aller von einer Handlung Betroffenen von den angefragten Patienten erwarten, dass sie sich für ein Erfolg versprechendes Experiment zur Verfügung stellen – sofern der Nutzen vieler künftiger Patienten wahrscheinlich grösser ausfallen wird als die Belastungen einiger weniger Versuchspersonen. Eine vertragstheoretische Argumentationsrichtung wird hauptsächlich das Recht der Versuchspersonen auf informierte Zustimmung ins Zentrum stellen und dementsprechend eine ausführliche Aufklärung fordern. Die Entscheidung über das Inkaufnehmen von Belastungen und Schädigungen wird dann dem angefragten Patienten obliegen – auch die Frage, wie viele und welche Risiken er auf sich zu nehmen gewillt ist. Inwieweit ein Patient als medizinischer Laie vielleicht trotz allen Bemühens nicht sämtliche Sachverhalte verstehen kann oder sich als so genannter austherapierter Kranker unrealistische Hoffnungen auf Heilung macht, ist bei einer vertragstheoretischen Argumentationsrichtung kaum Thema. Wichtig ist hier zwar, dass der Patient informiert und freiwillig zustimmt, doch die Voraussetzungen, die seine Entscheidung beeinflussen, etwa, dass er verzweifelt ist, seinen Arzt nicht verärgern oder seine Verständnisschwierigkeiten nicht zugeben möchte, spielen hier kaum eine Rolle.

Eine Argumentationsrichtung, die von individuellen moralischen Rechten und Pflichten ausgeht, würde angesichts des Rechts jedes Menschen auf Schutz von Leib und Leben zunächst abzuklären versuchen, ob das Experiment schwerwiegende Risiken und Schädigungen mit sich bringen kann. Erst wenn sich dies mit grosser Wahrscheinlichkeit ausschliessen liesse und wenn das potenzielle Erkenntnisinteresse in einem angemessenen Verhältnis zu den Belastungen der Versuchspersonen steht, dürfte mit einem Forschungsvorhaben an die Patienten herangetreten werden.

Diese grob dargestellten Argumentationsrichtungen sollen einen Eindruck vom so genannten Theorienpluralismus in der Ethik geben. In der angewandten Ethik müssen sich philosophische wie auch theologische Ethiker, ob sie wollen oder nicht, zu diesem Theorienpluralismus verhalten. Doch die methodische Frage ist bislang ungelöst: Entweder man kritisiert die Normenbegründung einer Argumentationsrichtung bzw. einer ethischen Theorie und befindet den Begründungsweg einer anderen Theorie für stringenter. Oder man zeigt auf, welche moralischen Urteile eine bestimmte Argumentationsrichtung mit sich bringt und hofft, dass die konkrete Urteilsbegründung allen Diskutanden plausibel erscheint. Doch ein eindeutiges Richtig oder Falsch scheint damit in der anwendungsbezogenen Ethik nicht immer möglich zu sein.

Davon abgesehen lässt sich auch eine philosophische Argumentationsrichtung mit ihren mehr oder weniger begründeten Normen wählen, die mit materialen christlichen Normen und Theologumena am ehesten korrespondiert. So wählt man als theologische Ethikerin vielleicht eher eine auf individuellen Rechten beruhende Argumentationsrichtung, da diese der Einzigartigkeit und Schutzbedürftigkeit des Menschen entspricht und den Menschen vor schwerwiegenden Instrumentalisierungen zu bewahren sucht. Ein philosophischer Ethiker wäre offener in seiner Wahl zwischen den genannten Argumentationsrichtungen, könnte die rechtsbasierte Argumentationsrichtung aber durchaus auch wählen. Es ist sicherlich kein Zufall, wenn eine theologische Ethikerin, ein theologischer Ethiker in einer Ethikforschungskommission immer von der Schutzbedürftigkeit und Verletzbarkeit der Patienten und ihrer moralischen Rechte ausgehen und manchmal mit Kommissionsmitgliedern aneinandergeraten, die den potentiell grossen Forschungsnutzen einer Studie höher veranschlagen. Soll z. B. eine Druckkammeruntersuchung mit Krebspatienten durchgeführt werden, um zu erforschen, ob künftigen Krebspatienten weiterhin von Hochgebirgstouren abzuraten ist? Darf Patienten zur Testung eines neuen Sportschuhs eine Kniespiegelung mit dem Risiko einer Infektion zugemutet werden?

Auch legte sich durch eine Option für besonders verletzbare Patienten nahe, nach dem Vorsichtsprinzip zu verfahren und, sofern möglich, über die Formulierung von Einschluss- oder Abbruchskriterien besonders gefährdete oder belastete Patienten aus dem Experiment herauszuhalten. So sollten z. B. Krebspatienten mit besonders hohem Operationsrisiko aus einer randomisierten Studie, die nach einer zufälligen Gruppeneinteilung untersucht, ob Chemotherapie, Bestrahlung oder Operation bessere Ergebnisse ergeben, nicht angefragt werden.

Gleichwohl können diese Optionen durchaus auch Mitstreiter aus den Reihen der nicht kirchlich gebundenen Kommissionsmitglieder finden. Ebenso ist in der Helsinki-Deklaration des Weltärztebundes,6 die dem ärztlichen Ethos Ausdruck verleiht, die Priorität des Schutzes der Versuchsperson, also eine rechtebasierte Argumentationsrichtung, verankert. Gleichwohl hängt angesichts der Spannung zwischen dem Schutz des Individuums und dem Forschungsinteresse die Frage, ob eine Studie Patienten offeriert werden darf, schon davon ab, welche potentiellen Schädigungen und Belastungen noch als zumutbar erachtet werden. Das konkrete Urteil der Mitglieder einer Ethikkommission wird von den Grundpositionen abhängen, die sie vertreten.

Und schliesslich ist es für theologische Ethikerinnen und Ethiker vielleicht naheliegender, angesichts der Fehlerfähigkeit des Menschen eine forschungskritische Sicht einzunehmen. Dies kann bedeuten, wissenschaftliche Heilungsversprechungen kritisch zu reflektieren und Fremdinteressen und wissenschaftliche Selbstüberschätzung nicht zu übersehen. Denn nicht selten vernachlässigen Ärztinnen und Ärzte, die über eine experimentelle Studie vielleicht um der Forschung willen zu positiv informieren, eher die damit verbundenen kurz- und langfristigen Risiken. Jedoch ist eine solche Hermeneutik des Verdachts nicht nur theologischen Ethikerinnen und Ethikern vorbehalten, sondern kann ebenso von systemkritischen, unabhängigen philosophischen Ethikern vertreten werden. Wie dem auch sei: Man sollte sich immer dafür interessieren, welche Argumentationsrichtung eine Ethikerin oder ein Ethiker auf einem Podium zu Bildungsfragen oder in einer Ethikkommission vertritt.

5. Schluss

Anhand der beiden Themen der anwendungsbezogenen Ethik wurde illustriert, dass christliche Orientierungen im Sinne von Voreinstellungen die Analyse und Diskussion eines ethischen Problems mitstrukturieren. Wenn eine theologische Ethik bestimmte christliche Optionen hervorhebt, können und müssen diese argumentativ eingeholt werden, wenn man – wie eine autonome Moral im Kontext des christlichen Glaubens es tut – von der Ununterschiedenheit der Kriterien der praktischen Vernunft und der ethisch relevanten Aussagen der Glaubenslieferung ausgeht.

Den Fokus auf die Option für Verletzbare und Leidende zu legen, stellt ein wichtiges Proprium des christlichen Glaubens dar. Auch die Gleichheit und Besonderheit des Menschen vor Gott ist ein christliches Proprium, ebenso wie seine Geschöpflichkeit und Erlösungsbedürftigkeit. Es ist Aufgabe der theologischen Ethik, die zentralen Glaubensinhalte und Erfahrungen des Christentums für ethische Fragen fruchtbar zu machen. In der anwendungsbezogenen Ethik – etwa im Bereich der Bildung oder Medizin – können mit philosophischen Mitteln begründete christliche Positionen in gesellschaftliche Debatten eingebracht werden. Eine theonom begründete Ethik oder andere Engführungen sind zu vermeiden, da sonst die christliche Position lediglich als partikulare Perspektive neben anderen geltend gemacht werden kann. Nur über vernünftig nachvollziehbare Begründungen eines moralischen Urteils kann sich eine auf Anwendung bezogene theologische Ethik – gemeinsam mit anderen Disziplinen und gesellschaftlichen Gruppierungen – um das Humanum bemühen.

 

1 Vgl. dazu ausführlicher: Monika Bobbert / Dietmar Mieth: Das Proprium der christlichen Ethik. Zur moralischen Perspektive der Religion. Luzern 2015. Bei dem hier abgedruckten Text handelt es sich um Prof. Bobberts Antrittsvorlesung an der Universität Luzern.

2 Vgl. Johann Baptist Metz: Das Christentum im Pluralismus der Religionen und Kulturen, in: Luzerner Universitätsreden 14 (2001), 3–12.

3 Ebd., 6.

4 Vgl. Reiner Wimmer: Anthropologie und Ethik. Erkundungen in unübersichtlichem Gelände, in: Christoph Demmerling u. a. (Hrsg.): Vernunft und Lebenspraxis. Frankfurt 1995, 215–245.

5 Vgl. Dietmar Mieth: Töten gegen Leiden, in: Klaus Biesenbach (Hrsg.): DIE ZEHN GEBOTE. Dresden 2004, 1–5.

6 Vgl. Weltärztebund, Deklaration von Helsinki. Ethische Grundsätze für die Forschung am Menschen. Fortaleza 2013.  

Monika Bobbert

Monika Bobbert

Prof. Dr. Monika Bobbert ist Professorin für Theologische Ethik und Leiterin des Instituts für Sozialethik an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern; im Frühjahr 2016 übernimmt sie den Lehrstuhl für Moraltheologie an der Katholisch- Theologischen Fakultät der Universität Münster in Westfalen.