Tausend Jahre Einsamkeit

Heute greifen viele kirchliche Mitarbeiter auf die Weisheiten der Wüstenväter und -mütter zurück. Aus welchen harten Kämpfen diese Weisheiten entstanden sind, ist ihnen dabei oft nicht bewusst.

Einsiedelei in der Nähe des Klosters Mar Saba am Kidron in der Wüste Juda, Palästina. Hier wohnten schon im 4. Jahr
hundert Mönche. (Bild: Meinrad Blank)

 

Wenn die «Kirchenzeitung» die Einsamkeit zu ihrem Thema macht, dann dürfen die Mönche nicht fehlen. Schliesslich tragen sie das Alleinsein in ihrem Namen: Das Wort Mönch, griechisch monachos, ist von monos, «einzig, allein, einsam», abgeleitet. Der Begriff hat, wie die Freiburger Patristikerin Françoise Morard gezeigt hat, einen semitischen Hintergrund.1 Er bezeichnet einen Menschen, der aus religiösen Gründen auf Ehepartner, Familie und Gesellschaft verzichtet. Ursprünglich war monachos negativ konnotiert (etwa: «Obdachloser», «Randständiger», «Schutzloser»). Doch bereits das Thomasevangelium aus dem 2. Jahrhundert lässt Jesus sagen: «Selig sind die Einsamen» – wörtlich monachos –  «und Auserwählten, denn ihr werdet das Königreich finden, da ihr daraus seid und dorthin zurückkehren werdet» (Thomasevangelium, 49). Im 4. Jahrhundert wird das Wort allmählich zur Standardbezeichnung für christliche Asketen und ebenso Asketinnen, die sich von der Gesellschaft absondern, um Christus nachzufolgen.

Ausgestossene begegnen Gott

Sehen die frühen Mönche in der Einsamkeit also einen erstrebenswerten Kontext, dass sie sich danach benennen? Die Bibel bezeugt doch an zahlreichen Stellen, dass, wer sich ohne Sippe und Obdach in die Abgeschiedenheit zurückzieht, an einem Ort der Erwählung und der Gottesbegegnung lebt. Ja, aber die Schrift spricht auch davon, dass die Einsamkeit Ort der Versuchung und Prüfung sei, wo Kampf und Bewährung gefordert sind. In der frühen monastischen Literatur hat Einsamkeit sowohl eine positive als auch eine negative Konnotation. Isolation und Verlassensein stehen Ruhe und Stille gegenüber. Die ältesten Quellen zum Mönchtum bezeugen, dass viele der ersten Wüstenväter nicht freiwillig in die Einsamkeit ziehen. Sie gehören zu den Heerscharen der aus der Gesellschaft Ausgestossenen und Ausgeschlossenen ihrer Zeit, die als Schmuggler, Räuber, Diebe und entlaufene Sklaven in die Wüste fliehen. Dort aber begegnen sie Gott und gründen eine Gegengesellschaft, die auf dem Evangelium basieren soll. Ihr Ideal ist die Urgemeinde, wie sie Lukas beschrieben hat (Apg 2,43–47 und 4,32–35). Die Abgeschiedenheit bietet ihnen einen Zufluchtsort, der zugleich Raum für neue Formen der Lebensgestaltung er- möglicht.

Ein Leben nur für wenige

Als Antonius seinem geistlichen Vater erklärt, er wolle Einsamkeit suchen und die Wüste bewohnen, sagt ihm dieser schroff: «Das hat keine Tradition» (Vita Antonii, 11). Ein hartes Verdikt, ist doch «keine Tradition haben» synonym zu häretisch. Warum aber dieses negative Urteil? Spätere Wüstenväter legitimieren ihre Lebensweise mit dem Hinweis, dass doch schon Mose und das Volk Israel in der Wüste Gott begegnet seien, wie später auch der Prophet Elija oder Johannes der Täufer. Und weilte nicht auch der Herr in der Einsamkeit? Ja, aber sie alle kehrten zurück. Ganz alleine in der Wüste zu bleiben, dies hat keine Tradition. Dauernde absolute Einsamkeit, so der Konsens der frühen monastischen Literatur, ist nur für wenige hochgeehrte Mönche eine Berufung, für die meisten jedoch Versuchung und Sünde. «Es ist nicht gut, dass der Mensch alleine sei», sagt Gott gleich nach der Erschaffung Adams (Gen 2,18). Unzählige Mönchsgeschichten berichten denn auch von Eremiten, die alleine in die Irre gehen oder wahnsinnig werden. «Unsere Väter», heisst es in Apophthegma 1745, «hatten die Sitte, die Wohnorte der noch unerfahrenen Brüder zu besuchen, die in der Einsamkeit leben wollten, und sie zu überwachen, damit sie nicht etwa von den Dämonen versucht würden und Schaden nähmen an ihrer Seele.» Jeder Mönch, lebt er noch so abgeschieden, braucht Begleitung. Ein oft wiederholtes Apophthegma warnt: «Frage: Wie vermag der Mensch in der Einsamkeit zu leben? Antwort: Wenn ein Athlet nicht mit vielen anderen zusammen kämpft, kann er die Kunst des Sieges nicht erlernen, sodass er nachher den Zweikampf bestehen könnte mit dem Gegner. So ist es auch beim Mönch. Wenn er nicht inmitten anderer Brüder erzogen wird und die Kunst des Umgangs mit den Gedanken erlernt, vermag er nicht allein zu leben, noch auch den schlechten Gedanken zu widerstehen.»2

Und selbst der erste Einsiedler Antonius, der noch ganz alleine in der Wüste war, erhält einen Engel an die Seite gestellt. Dieser leitet ihn zu einem strukturierten Leben an, denn im Wechsel von Beten und Arbeiten werde er gerettet (Apophthegma 1). Antonius ordnet nicht nur den Tagesablauf, sondern wechselt zwischen völliger Abgeschiedenheit in der Einsiedelei und dem Leben in Gemeinschaft, wo er Brüder und Gäste empfängt.

Zwischen Einsamkeit und Gesellschaft

Nicht nur der geistliche Vater des Antonius, auch der grosse Kirchenvater Basilius von Cäsarea kritisiert das Leben in der Wüste. Die Idee, aus der Gesellschaft auszusteigen, um wie Antonius in der Einsiedelei oder wie Pachomius in der Klostergemeinschaft abseits eine neue, alternative Lebensweise einzuführen, will ihm nicht behagen. Schliesslich weilte die Urgemeinde in Jerusalem – und nicht in der Wüste. Basilius verlangt in seinen längeren Regeln zwar ein zurückgezogenes Leben (Regel 6), aber nicht in der Einsamkeit, sondern innerhalb einer kirchlichen Gemeinschaft (Regel 7). Wer ganz isoliert von anderen lebe, schaue egoistisch nur auf seine eigenen Bedürfnisse. Anderen gebe er keine Gelegenheit, ihm zu helfen und ihn zu korrigieren, und seine Charismen würden der Kirche vorenthalten. Das alles widerspreche dem Gesetz der Liebe (1 Kor 10,33). Ihm schwebt ein Mönchtum vor, das in der Gesellschaft, genauer in den Ortskirchen, verankert ist, und das mit Gebet, aber auch mit Gastfreundschaft, Krankenpflege und Schulung dient. Diese Ansicht übernehmen Johannes Cassian und in seinem Gefolge auch der Autor der «Regula Magistri» und Benedikt. Sie rühmen zwar den Einsiedler, doch wer ihre Texte aufmerksam liest, dem fällt auf, dass diese Anerkennung schnell in eine verdeckte Kritik des Anachoretentums und in ein Lob des Gemeinschaftslebens kippt. Benedikt hält in der ersten Regel bezüglich der Einsiedler fest: «Nach langer Prüfungszeit im Kloster – nicht im Neulingseifer eines Mönchslebens – und geschult durch die Mithilfe vieler lernten sie, gegen den Teufel zu kämpfen. Für den Einzelkampf in der Wüste wurden sie in der Reihe der Brüder gut gerüstet. Furchtlos und auch ohne den Beistand eines andern vermögen sie nun mit Gottes Hilfe eigenhändig und im Alleingang gegen die Laster des Fleisches und der Gedanken zu kämpfen.»

In seiner knappen und besonnenen Art bringt Benedikt es auf den Punkt: Einsamkeit ist ein Kampf. Mit Mass und der persönlichen Konstitution angepasst, kann diese Form der Askese heilsame Wirkung entfalten. Doch wer sie übt, braucht Anleitung und muss von einer Gemeinschaft ausgesandt werden, in die er wieder zurückkehren kann. So wie alle Verzichtsübungen kann ein Rückzug in die Einsamkeit helfen, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und ein Zuviel auszubalancieren. Dann und nur dann liegt ein Segen darin, wie auch im Fasten und Schweigen. Aber Einsamkeit besitzt keinen Wert an und für sich – im Gegenteil: Sie ist, wie Hunger und mangelnde Kommunikation, ein grosses Übel in der Welt.

Gregor Emmenegger

 

1 Vgl. Morard, Françoise, Monachos, moine: Histoire du terme grec jusqu’au 4e siècle. Influences bibliques et gnostiques, in: FZPhTh 20 (1973), 333–425.

2 Siehe Apophthegma 1624 und Angaben zu den Parallelen in: Schweitzer, Erich (Hg.), Apophthegmata Patrum (Teil 2). Die Anonyma,   Weisungen der Väter 15, Beuron 2011, 335.

 


Gregor Emmenegger

Prof. tit. Dr. theol. Gregor Emmenegger (Jg. 1972) unterrichtet an den Universitäten Freiburg i. Ue. und Luzern Patristik und alte Kirchengeschichte. Er ist verheiratet und Vater von zwei Kindern.