«Es braucht viel Gelassenheit»

Einsamkeit assoziieren die meisten Menschen mit Singles oder zölibatär Lebenden. Doch oft fühlen sich auch Menschen in einer Beziehung einsam – einsamer sogar noch als vor der Beziehung.

SKZ: Einsamkeit in der Ehe: Das irritiert, heiraten doch manche Menschen gerade, um nicht mehr einsam zu sein.
Beate Boes: Wir Menschen sind individuelle Lebewesen, individuelle Persönlichkeiten. Gleichzeitig haben wir im Leben immer wieder das Gefühl, dass das eigene Leben erst stimmt, wenn wir mit einem anderen Menschen zusammen sind. Von vielen Seiten in der Gesellschaft wird uns vermittelt, dass das Leben erst komplett ist, wenn wir mit einem anderen Menschen zusammenleben. Die Individualität, der eigene Charakter und die persönlichen Ecken und Kanten fallen uns aber vor allem auf, wenn wir mit einem Menschen zusammenleben und ganz nah den Alltag teilen, so wie in einer Lebensgemeinschaft, Partnerschaft und wie in der Ehe. Im Zusammenleben stellen wir auf einmal fest, dass der Andere ein ganz anderer Mensch ist: Der Andere denkt anders, er spricht anders, er fühlt anders, er ist ein anderer Mensch, nicht nur körperlich.
Diese Erfahrung führt dann im Laufe des Zusammenlebens zu Konfliktsituationen. Jetzt fängt jeder an, für sich zu «kämpfen». Die subjektive Erfahrung «Oh, ich bin ein anderer Mensch als mein Partner» wird sprachlich folgendermassen ausgedrückt: «Du verstehst mich nicht!» Diese Formulierung signalisiert Angriff, Vorwurf und wird als Fremdheit empfunden. Auf einen direkten Angriff in der Auseinandersetzung folgt spontan die Rechtfertigung und Verteidigung des Anderen. Jeder fühlt sich in diesem Moment allein, ja einsam, schutzlos, ausgesetzt. Je nach Streittypen und Streitkultur macht sich jetzt das Gefühl der Einsamkeit in einer Beziehung breit.

Es gibt viele Ehepartner, die sich erst nach einigen Jahren Ehe einsam fühlen.
Am Anfang einer Beziehung sind wir häufig mit vielen anderen Dingen beschäftigt: Wohnung einrichten, Urlaubsreisen, Beruf und Karriere, Familiengründung, Hobbys usw. Das spielt alles im Aussen unseres Lebens. Erst nach einer gewissen Zeit oder nach einigen Jahren fragt sich der Mensch: «Wer bin ich denn? Was mache ich hier im Leben? Macht das Sinn, wie ich lebe?» Die Geburt des ersten Kindes, die Phase des Übergangs ins Familiewerden ist die grösste Herausforderung für eine Beziehung. Dort erlebt die Frau auf einmal: «Jetzt bin ich mit meinem Kind allein.» Und der Mann kann – aufgrund der natürlichen Gegebenheiten – nicht das Gleiche erleben. Wir haben das Handwerkszeug fürs Kommunizieren der eigenen Erfahrungen nicht gelernt. Es wird einfach dem Anderen erzählt, was man gerade da so fühlt oder erlebt. Es ist eine Selbsttäuschung, dass der Andere mein Erleben so versteht und genauso erlebt wie ich selbst. Der Überschwang der Gefühle wird dem Anderen unbedacht zugemutet. Und wenn die Reaktion anders ausfällt als erwartet, dann fühlen wir uns allein. Damit ist schlecht umzugehen, wenn ich es in jungen Jahren nicht gelernt habe. Es gibt aber auch die Lebenssituationen von Krankheit, Trauer, Scham, Schuld und Wut, die jeden Menschen ganz alleine in der Auseinandersetzung und im Umgang damit fordern. Der Partner daneben ist in der gleichen Situation dann auf andere Weise auch alleine gefordert. Dies sind dann auch Einsamkeitserfahrungen. Das Leben selbst sorgt dafür, dass jeder auf seinen Füssen steht. Eine Krankheit, ein Unfall, ein Schicksalsschlag ist eine grosse innere Erfahrung, die eine Partnerschaft und Beziehung auch wieder sehr zusammenschweissen kann. Wer so eine existenziell tiefe Erfahrung gemeinsam bewältigt hat, der ist sehr glücklich, dass er es geschafft hat. Zunächst sind aber diese Lebensveränderungen und -übergänge immer ein schmerzhafter, leidvoller Aufbruch innerhalb der Beziehung mit tiefer Einsamkeit.

Es gibt Menschen, die schätzen an ihren Partnern gerade das «Andere».
Ja, jeder Mensch ist in sich anders aufgestellt und ein anderer Typ, wie er seine Liebe zum Anderen zeigt. Und immer treffen sich zwei völlig verschiedene Typen Mensch, weil jeder ein ganz eigener Mensch ist. Und oft zieht uns gerade das Gegenteil an. Weil wir erkennen: Der Andere hat Anderes, was wir nicht haben, und wir wären gern komplett. Doch je näher wir uns dann sind, desto stärker wird das Andere zur Herausforderung und entwickelt sich zum Unangenehmen. Plötzlich wird der Andere in gewissen Verhaltensweisen völlig abgelehnt.
Es braucht viel Gelassenheit, viel Bewusstheit, viel Liebe, um in dieser Phase den Anderen anders sein zu lassen. Der Andere ist eben nicht so wie ich selbst und er ist nicht für mein Glücklichsein zuständig. Die Fähigkeit, den Anderen wie sich selbst zu akzeptieren, wird schon zu Beginn unseres Lebens festgelegt. Darf das kleine Kind sich so entwickeln, wie es ist? Bestaunen Eltern ihr Kind, das sie geboren haben, liebevoll und fördern sie die persönliche Entwicklung? Oder muss das Kind von Anfang an das tun, was Mama oder Papa gerne hätten? Dann wird es nicht die besten Voraussetzungen für die Beziehungsfähigkeit mitbringen. So wie wir die Erstliebe erfahren haben, tragen wir sie durch unser Leben. In den ersten zehn Jahren werden die Programme in unserem Herzen wie in unserem Geist und Verstand geschrieben, die uns dann als Erwachsene mit mehr oder weniger Selbstbewusstsein prägen.

Gibt es «vorbeugende Massnahmen» gegen die Einsamkeitserfahrung?
«Prüft euch gut, ob ihr zusammenpasst, und entscheidet euch dann für ein gemeinsames Leben!» Das war immer eine Empfehlung der früheren Generationen. Ich möchte diese Lebens- erfahrung konkretisieren: Lebe deine Entwicklungsjahre für dich, aber trotzdem mit anderen Menschen zusammen. Für ein Leben in Beziehung braucht es persönliches Wachsen und Reifen. Heute ist es ja leider relativ leicht, dass zwei junge Erwachsene bei ihren Eltern ausziehen und gleich in eine gemeinsame Wohnung zusammenziehen. Sie merken nicht, was dann mit ihnen passiert. Wie es ist, tagtäglich mit einem Partner zusammen zu sein, über eine lange Zeit des Lebens, kann nicht ausprobiert werden. Es wird immer anders sein, als ich es mir ausgedacht habe. Auch für einen langjährigen Single, der die Erfahrung des Alleinseins und der Einsamkeit mitbringt, wird es anders sein. Tatsächlich Tag für Tag zusammen zu sein, lässt jeden einen anderen Entwicklungsweg zur Persönlichkeit gehen als zuvor gedacht. Wir können es nicht vorhersagen.

Wenn ein Partner merkt, dass er einsam ist, welche Hilfestellungen gibt es?
Der erste Schritt ist die eigene Wahrnehmung der Einsamkeit. Der zweite Schritt, dass ich mir selbst diese Erfahrung erlaube, und der dritte Schritt, dass ich bereit bin, daran für mich zu arbeiten. Da bieten Supervision, Coaching, Therapie und Beratung sehr gute Hilfestellung. Woher kommt diese Einsamkeitserfahrung? Wonach genau sehne ich mich, wenn ich mich einsam fühle? Was empfinde ich als Hilfe zur Heilung meiner Einsamkeit? Mit welchem anderen Verhalten von mir selbst kommt erst gar kein Einsamkeitsempfinden auf?
Die Aufgabe des Partners und auch des Therapeuten ist es, mir im «Spiegel» mich selbst zu zeigen. Es ist nicht so, dass der Andere mich einsam macht. Er weist mich nur auf meine Einsamkeit hin. Das wird in der Beziehung oft verwechselt. Der Andere ist wie der beste Freund. Dieser Transfer ist uns viel zu wenig bewusst. Deshalb ist es so wunderbar, dies in der Beratung gemeinsam anzuschauen. So entsteht viel mehr gegenseitiger Respekt, viel mehr Liebe, weil ich durch die Therapie gelernt habe, woher es kommt, dass ich mit so viel Traurigkeit, Einsamkeit, Scham oder Wut auf das Verhalten meines Partners reagiert habe. Die Wurzeln der Einsamkeit liegen in uns selbst und werden uns durch den anderen Menschen transparenter und bewusster. Dieser Umgang mit Leben braucht eine gewisse Reife, aber auch eine gewisse Offenheit und kann erst dann angegangen und verändert werden.
Es ist spannend, dass gleichzeitig mit der europäischen Überbetonung von Beziehung immer mehr Menschen als Single leben. Weder die Einsamkeit von Verheirateten noch die von Singles ist mehr oder weniger, ist grösser oder kleiner. Einsam ist einsam und fühlt sich nicht gut an. Es bleibt die grosse Herausforderung des Lebens an jeden Menschen: Lerne mit deiner Individualität, mit deiner Einzigartigkeit umzugehen. Liebe dich selbst, dann gelingt es dir besser, auch deinen Nächsten, deinen Partner, deinen Mitmenschen zu lieben. Es braucht Bewusstsein, es braucht Hilfestellung, es braucht psychologisches Handwerkszeug, es braucht immer wieder den Mut von jedem, die Erfahrung der Einsamkeit anzunehmen, mit ihr zu leben, mit ihr zu wachsen – zur eigenen Persönlichkeit. So werden die Einsamkeit und die Liebe ein gutes Paar – in jeder Partnerschaft und Beziehung!

Interview: Rosmarie Schärer


Interviewpartnerin Beate Boes

Dr. Beate Boes-Otte (Jg. 1958) studierte in Freiburg i.Br. und Innsbruck Theologie und absolvierte berufsbegleitend verschiedene Therapieausbildungen. Nach mehreren Jahren Pfarreitätigkeit als Pastoralassistentin ist sie seit 2007 Stellenleiterin und Beraterin bei der Ehe- und Familienberatung Sarganserland-Werdenberg im Bistum St. Gallen.

 

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