Tanz mit dem Tod

Sterben können im Mittelalter und im Jahr 2015*

Er hat gehen können" oder "sie hat sterben dürfen" sind Redewendungen, die vor wenigen Generationen noch zum Alltag gehörten. Wer so sprach, dachte an einen nahe stehenden Menschen, für den der Tod eine Erlösung bedeutete. Die Ausdrucksweise hebt das Prekäre des ausgehenden Lebens ins Bewusstsein, jene letzten Wochen, Tage und mittlerweile auch Monate, die jemanden der Hilflosigkeit, dem Schmerz und der Einsamkeit aussetzen können. Die Erfahrung des prinzipiell nicht autonom verfügbaren Endes beunruhigt mit zunehmender Lebenserwartung, und sie befeuert die Debatten über Autonomie und Würde des zu Ende gehenden Lebens. Wie kaum ein anderes Thema der Ethik ist die Auseinandersetzung auf diesem Feld gezeichnet von mitunter irritierender Emotionalität, was anhand zahlreicher Episoden leicht aufzuweisen ist: An der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Luzern war ein Vertreter einer Sterbehilfeorganisation zwei Mal dazu eingeladen, mit Studierenden und Wissenschaftlerinnen über seine Erfahrungen zu debattieren. Die eine Gelegenheit nahm er wahr, die andere nicht. Er begründete dies in einem offenen Brief unter anderem damit, dass allein schon die Teilnahme eines Theologen an einer solchen Veranstaltung für ihn ein unüberwindlicher Hinderungsgrund sei; keinesfalls wolle er "als Knochen für die römischen Hunde" zur Verfügung stehen. Ähnlich emotional scheint es auf der politischen Bühne zuzugehen: Der Bundesrat wurde aufgefordert, zur Frage des assistierten Suizides eine Regelung zu erlassen. Im Jahr 2007 schickte er zwei Varianten in die Vernehmlassung, am Ende freilich kam er zum Schluss, es bestehe ja gar kein Handlungsbedarf.

Starke Gefühle zeigen neben den Interessenvertretern und den politisch Verantwortlichen auch die Betroffenen selbst. Die Zahl jener, die sich bei "Exit" als Mitglieder eintragen lassen, dürfte um ein Vielfaches höher liegen als die Zahl jener, die später je eine Freitodbegleitung in Anspruch nehmen – ein sicheres Indiz dafür, dass nicht aktuelles Leiden, sondern vielmehr Unsicherheit und Sorge mit Blick auf die eigenen letzten Tage die Menschen bewegt. Sie fürchten sich davor, im Alter hilflos und abhängig zu sein oder gar die Kontrolle über sich selbst zu verlieren. Auf der Suche nach Abhilfe sind ganz unterschiedliche Angebote willkommen. Die Ängste wecken das Bedürfnis, aktiv etwas zu unternehmen, und der jährliche Mitgliederbeitrag an eine Interessenvereinigung macht es möglich, diesem Bedürfnis gerecht zu werden. Auch andere Wege stehen offen: Im Kanton Luzern gibt es mehrere Dörfer, in denen sich die Behörden in den vergangenen Jahren verstärkt mit der Frage der Betreuung von Menschen auf dem letzten Lebensabschnitt auseinandergesetzt haben. Sie sind zur Einsicht gelangt, dass die Schaffung einer eigenen Pflegeeinrichtung zwar ein wichtiges Bedürfnis sei, dass aber angesichts der aktuellen Finanzlage das Geld dafür nicht aufgebracht werden könne. Mehrere Gemeinden haben deshalb den "halböffentlichen" Weg beschritten und die Steuerzahlenden aufgefordert, mit privatem Geld die Gründung unabhängiger Pflegeeinrichtungen zu ermöglichen. Das Vorgehen bewährt sich, und die Erfolge sind beeindruckend: Geld lässt sich auf diese Weise sammeln. Offenkundig sind die Menschen dankbar für Angebote, die es ihnen erlauben, in guten Tagen für die als bedrohlich empfundenen letzten Wochen irgendwie Vorsorge zu treffen, und sie sind bereit, dafür auch zu bezahlen.

Angst vor der Stunde des Todes

Die grosse Sorge um das eigene Ende verbindet unsere Generationen mit den Erfahrungen in anderen Epochen, in denen freilich völlig verschiedene Lebensbedingungen herrschten. Sensibel wurde die Aussicht auf den eigenen Tod in der als "Geburt des Individuums " charakterisierten Zeit des späten Mittelalters; denn der Tod trifft individuell. Er steht jeder und jedem mit Sicherheit bevor. Bis vor fünf oder sechs Generationen war er allen aus eigener Anschauung bekannt: Wer immer das Erwachsenenalter erreichte, hatte mindestens einmal miterlebt, wie jemand aus seinem Verwandtenkreis gestorben war.1 Die Gestaltung des Sterbens wurde im 15. Jahrhundert verstärkt als Problem des nun als Individuum erfahrenen Menschen wahrgenommen. Zunächst setzte dies voraus, dass man sich auf das eigene Ende einstellte – kaum etwas war gefürchteter als die "mors subitanea". Die Sache selbst war nicht vorhersehbar, doch auf das gute und richtige Sterben kam es an – deshalb war der plötzliche, "gäche" Tod eine Bedrohung. Gilt es heute als Segen, rasch und schmerzlos aus dem Leben gehen zu können, so war dies einst gerade umgekehrt. Das vorbereitete, gute und richtige Sterben gehörte zum Leben und war Teil der christlichen Existenz. Entsprechende Bedeutung hatte das Feld für damalige Formen der Seelsorge: Zum guten Sterben wurden Anleitungen verfasst; sie legten dar, auf welchem Weg jemand die Möglichkeit erhalte, umfassend vorbereitet aus dem Leben zu scheiden. Als wahrhaftes Können wurde die entsprechende Kompetenz verstanden, die Rede war von der "ars moriendi". In der Sicht des späten Mittelalters war der gut sterbende Mensch fest im Glauben gegründet, zeigte Geduld und Demut, haderte nicht und vor allem sorgte sich nicht um das, was er an irdischen Gütern zurückliess. Die Aufgabe bestand darin, sich durch ein gottgefälliges Leben auf diese Herausforderung vorzubereiten. Die Angst vor dem plötzlichen Tod war begründet in der Furcht, dass bei überraschendem Eintritt des Todes keine Zeit für die angemessene Vorbereitung bliebe. Daraus erklärt sich die stete Vergegenwärtigung, auch im Gebet und in der religiösen Praxis allgemein. Das Ave Maria wurde erweitert um einen nichtbiblischen Teil, in welchem die Fürbitte für den Moment des eigenen Sterbens zentrale Bedeutung erhielt: "Sancta Maria, Mater Dei, ora pro nobis peccatoribus nunc et in hora mortis nostrae". Die Stunde des Todes als zentrales Anliegen. Hilfen bot auch der kirchliche Alltag: Wer sich in eine Gut-Tod-Bruderschaft aufnehmen liess, beteiligte sich in solidarischer Sorge um eine gute Sterbestunde und um das fortdauernde Gebet – und vor allem: Sie oder er verschaff te sich Gewissheit, dereinst selbst von solcher Unterstützung zu profi tieren. Wer das Sanctissimum oder eine Christophorus- Darstellung anschaute, war am betreff enden Tag bis Sonnenuntergang geschützt vor der "mors subitanea" – eine volksfromme Praxis, von der die eigens hierzu übergross in den Kirchen oder praktischerweise an deren Aussenwänden angebrachten Christophorus- Darstellungen bis heute beredt Zeugnis geben. Allzu leicht konnten sie zum Nährboden für abergläubische Vorstellungen werden und provozierten damit die Kritik der Humanisten.

Die Spannung zwischen der steten Vergegenwärtigung des Todes in Sorge um ein gutes, wohlvorbereitetes Ende auf der einen und der Angst angesichts permanenter Bedrohung auf der anderen Seite fand seinen visuellen Niederschlag in der Tradition des Totentanzes. Ganz zuerst ist er ein Furcht erregendes "memento mori": Alle Menschen jeden Standes sind zu jeder Zeit vom Tod bedroht: Vornehme und Einfache, Reiche und Arme, Geistliche und Weltliche, Üppige und Asketinnen. Dargestellt wurde es in eingängigen Bildfolgen, welche die ubiquitäre Gegenwart ebenso wie die kalte Überraschung erschreckend ins Licht rückten. Das Sterben durchbrach die Ordnung der Lebenden und machte diese obsolet, es begründete eine Egalität, die in den standesgeprägten Augen der Zeit geradezu obszön wirken musste. Der Totentanz war Illustration und Aktualisierung jener Wahrheit, die im 8. Jahrhundert Notker Balbulus von St. Gallen wohl als einer der ersten in hymnische Verse gefasst hatte, beginnend mit dem dramatischen Anruf: "Media vita in morte sumus", und endend mit der schon auf den letzten Tag gerichteten, fl ehentlichen Bitte: "Sancte et misericors salvator: amarae morti ne tradas nos!" Die Inszenierung des Totentanzes greift dabei weit hinaus über vordergründige, eindruckheischende Visualisierung, denn sie macht ein singuläres Paradox sichtbar: Auf der einen Seite die Vergegenwärtigung des per se Leblosen und Erkalteten, auf der anderen Seite ausgerechnet ein kommunikatives Handlungsspiel par excellence: der Tanz, gewöhnlich Ausdruck von Lebensfreude, Spiel, Ausgelassenheit, vor allem aber auch von liebender Zuwendung.2 Welch ungeheure Spannung! Last und Lust treten in Erscheinung Hand in Hand, Auge in Auge, fast schon grotesk. Die französische Sprache beschreibt die Kunstgattung treffend als "dance macabre"; Alois Haas charakterisierte das Treiben als "eigentümliche Schocktherapie".3 Eine in jeder Hinsicht treff ende Zuschreibung angesichts des mittelalterlich-kirchlichen Kontextes, in dem der Tanz stets Anlass gab zu abgrundtiefem Misstrauen. Im Zuge von Konfessionalisierung und Sozialdisziplinierung sollten entsprechend rigorose Beschränkungen erfolgen: Weltliche und geistliche Obrigkeiten der Frühen Neuzeit, evangelisch wie katholisch, waren in höchstem Eifer darum bemüht, das persönliche Leben der Untertanen zu regulieren und zu reglementieren. Der Tanz wurde, wie alle anderen Lustbarkeiten auch, säuerlich beschränkt und an vielen Tagen ganz verboten. So sehr sollte die Distanz wachsen, dass jedenfalls zwischen religiösem Rahmen, der Vorbereitung auf das Sterben und dem Tanzen sicher keine Berührungsfl äche übrig blieb: kein Tanz zu heiligen Zeiten, in der Liturgie und schon gar nicht auf dem Friedhof. Beide waren auf ihre Weise suspekt: Tod und Tanz. Erschienen sie nun gemeinsam, so steigerte dies die Spannung bis an die Grenze. In der Perspektive mittelalterlicher Religion konnten sie angesichts des jederzeit möglichen Sterbens zusammen gehören; beide rührten an das Unberechenbare und damit an das Dämonische, beide verbreiteten Schrecken. Ganz dramatisch trug die Liturgie dem abgründigen des Sterbens Rechnung: Zum Requiem gehörte die eindringliche, ja drohende Warnung vor dem "dies irae". Die trauernden Überlebenden setzte man dem Schrecken aus. Jeder Mensch sollte daran erinnert werden, dass auch er eines Tages den Ton der Posaune hören und die kalte Hand auf seiner Schulter spüren würde.

Bewältigung von Kontingenz

Bedrohung, Angst und dauernde Vergegenwärtigung des bevorstehenden Endes trieben zu Tat und Aktivität. Die Lebenden eilten den bereits Verstorbenen zu Hilfe, indem sie Seelgeräte stifteten, eine Jahrzeitmesse vielleicht oder in der Stadt einen Nebenaltar in einer Kirche. Die Anstrengung kam beiden zugute: Der Seele des Verstorbenen half sie aus dem Fegefeuer, dem Donator wurde sie als gutes Werk zugerechnet. In der Neuzeit erfolgte eine umfassende Institutionalisierung. In den vielen Kirchen gab es nun spezielle, dem Totengedenken gewidmete und entsprechend gekennzeichnete "privilegierte Altäre".4 Ausgestattet mit den notwendigen Vorrechten sicherten sie allen, die dort eine heilige Messe feierten oder feiern liessen, einen vollkommenen Ablass zu. Er liess sich der Seele eines bereits verstorbenen Menschen zuwenden, die dadurch aus dem Fegefeuer befreit wurde. Diese Einrichtung, geschaffen ursprünglich von Gregor XIII. (1572–1585), popularisierte die Möglichkeit zur Stiftung von Seelgeräten, indem sie auch wenig vermögenden Gläubigen den Zugang zur effizienten Totensorge ermöglichte. Der grosse Gewinn bestand im Angebot, angesichts der vorhandenen Bedrohung selbst aktiv zu werden und etwas zu bewirken.

Die moderne Verlagerung der Ängste auf die Wochen vor dem Sterben, verstanden als Pendant zu nach-aufgeklärter, ins Innerweltliche gewandten Heilssorge, fügt sich auffällig zum Grundmuster, wie es sich seit dem 15. Jahrhundert ausgebildet hat. Hier wie dort sind es hoch gehende Gefühle und Bedürfnisse nach eigener Aktivität, die bedeutende Energien freisetzen oder zumindest den Griff in den Geldbeutel erleichtern. Eigenes Handeln, das den Umgang mit dem Bedrohlichen und Unausweichlichen möglich macht, hilft den Menschen, ein unvermeidbar bevorstehendes Schicksal zu verkraften. So rücken mittelalterliche Vergabungen für Seelgeräte oder andere fromme Zwecke in auffällige Nähe zu Spenden für Pflegeeinrichtungen im 21. Jahrhundert. Thema ist jeweils der Umgang mit der Angst vor dem eigenen Ende, aber auch die Solidarität mit der Aussicht, dereinst selbst davon zu profitieren. Beträchtlich verändert hat sich freilich die Zeichensprache: Wer Todesanzeigen liest oder den künstlerischen Schmuck von Gemeinschaftsgräbern betrachtet, wird auf alle möglichen, vielfach kryptischen Symbole treffen, kaum aber auf eine Darstellung von Tanzenden. In Erwartung der letzten Stunde scheint kein Platz zu sein für Ausgelassenheit. Im Gegenteil: Die Sorge richtet sich danach, über das Sterben so weit als immer möglich autonom zu verfügen und auf keinen Fall sich der Abhängigkeit und der Fremdbestimmung überlassen zu müssen.

Das Sterben soll so weit als möglich selbst gestaltet sein – und am liebsten auch noch die Zeit danach. Menschen erlassen detaillierte Vorschriften darüber, wie die soziale Umwelt dereinst auf den eigenen Tod reagieren müsse, ob eine Bestattung stattfinde, ob diese öffentlich oder geheim durchzuführen sei, welche Musik zur Aufführung kommen solle – selbst Tenüvorschriften werden den Trauergästen zugemutet. Mag das mittelalterliche "memento mori" irritieren durch seine wahrhaft makabre und längst nicht mehr erträgliche Direktheit: Immerhin bereitete es vor auf eine unmittelbare Konfrontation Auge in Auge, und es mahnte den glaubenden Menschen zur steten Wachsamkeit. Die Kunst der wohlvorbereiteten letzten Stunde bestand auch darin, das Schicksal anzunehmen und einmal definitiv die Welt loszulassen, weil es einen Tag danach und eine zweite Chance hienieden mit Gewissheit nicht gibt. Tanz mit dem Tod! 

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* Der vorliegende Artikel gibt den Vortrag wieder, den Prof. Dr. Markus Ries am 22. März 2015 im Rahmen der Fastenvorträge der Theologischen Fakultät der Universität Luzern in der Jesuitenkirche Luzern, die 2015 dem Thema "Selbstbestimmtes Sterben?" gewidmet waren, gehalten hat.

 

 

 

1 Zu diesem Abschnitt siehe: Kurt Messmer: "Gwüss ist der Tod, ungwüss sein Zeit". Der Totentanz in der Zentralschweiz. Luzern 2014; Philippe Ariès: Geschichte des Todes. München 122009; Paul Hugger: Meister Tod. Zur Kulturgeschichte des Sterbens in der Schweiz und in Liechtenstein. Zürich 2002; Josef Brülisauer/ Claudia Hermann (Red.): Todesreigen – Totentanz. Die Innerschweiz im Bannkreis barocker Todesvorstellungen. Luzern 1996; Peter Jezler (Hrsg.): Himmel Hölle Fegefeuer. Das Jenseits im Mittelalter, Zürich 1994; Nidel F. Palmer: Ars moriendi und Totentanz: Zur Verbildlichung des Todes im Spätmittelalter, in: Arno Borst u. a. (Hrsg.): Tod im Mittelalter. Konstanz 1993, 313–334; Martin Illi: Wohin die Toten gingen. Begräbnis und Kirchhof in der vorindustriellen Stadt. Zürich 1992; Philippe Ariès: Bilder zur Geschichte des Todes. München-Wien 1984.

2 Alois M. Haas: Der Totentanz aus religiöser Sicht, in: BrülisauerHermann, Todesreigen (wie Anm. 1), 127–145.

3 Ebd. 138.

4 Siehe: Christine Göttler: "Jede Messe erlöst eine Seele aus dem Fegefeuer". Der privilegierte Altar und die Anfänge des barocken Fegefeuerbildes in Bologna, in: Jezler, Himmel (wie. Anm. 1), 149–164.

Markus Ries

Markus Ries

Prof. Dr. Markus Ries (Jg. 1959) studierte Theologie in Luzern, Freiburg i. Ü. und München. Seit 1994 ist er Professor für Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern.