Fasten im Osten und Fastenzeit im Westen

Versuch einer kultursoziologischen Gegenüberstellung

Auf der Strasse vom hinduistischen Siwananda- Ashram (Kloster) zur sogenannten heiligen Stadt Rishikesh am Fusse des Himalaja – dort, wo der Ganges in die scheinbar uferlose indische Ebene mündet – überraschte mich plötzlich ein fröhlicher Gesang. Für uns Europäer ein Singsang – ohne Melodie von weit her kommend und sich in der Unendlichkeit verlierend. Wie verzaubert blieb ich stehen und hörte die Klänge aus einem Loch im Felsen, näherte mich und sah plötzlich zwei grosse pechschwarze Augen. "Ich habe Sie erwartet", sagte der "Sadhu" – wörtlich heiliger Mann – im besten Englisch, das seine Ausbildung an der Universität Oxford oder Cambridge verriet. Einmal am Tag – vor dem Sonnenhöchststand – durfte er sich von dem, was ihm irgendwelche Menschen spendeten, ernähren. "Ihr Westmenschen beherrscht nicht das Wichtigste im Leben: Ihr könnt nicht fasten …, warten …, meditieren …!"

Die herablassende Art, wie er es sagte, missfiel mir. Dann kam mir die Bemerkung des schwedischen Delegierten des internationalen Arbeitsamtes in den Sinn, die er mir gegenüber in New Dehli gemacht hatte. Für ihn gehörten die Inder neben den Franzosen zu den eitelsten Menschen. Am gleichen Tisch neben dem schwedischen Delegierten sass mir gegenüber im Janpath-Hotel in New Delhi Krishna Kumar Jaie. Er lieferte einen besonderen Beweis überlegener indischer Weisheit: "Einen Freund zu betrügen ist schlecht, sich von ihm betrügen zu lassen, ist schlechter." Ich schrieb dieses indische Sprichwort in mein Notizbuch, entdeckte seine tiefe Wahrheit aber erst, nachdem mich der Inder nach manchen zuvorkommenden Hilfeleistungen nach mehreren Rückzahlungen kleinerer Beträge um 500 Rupien erleichterte. Dass ich ihm 35 Jahre später in einem anderen Hotel von New Delhi abermals begegnete, – ein "zgb" sondergleichen – wäre für Medard Boss, dem Autor des Buches "Indienfahrt eines Psychiaters" von 1959 etwas für Indien beinah Selbstverständliches gewesen: "Jeder, der dieses Land auf eigene Faust bereist, kann solches erleben", meinte er 1963.

Ich gab "Sadhu" – um auf die im ersten Abschnitt geschilderte Bemerkung zurückzukommen – den Ramadan der Muslims und unsere 40-tägige Fastenzeit vor Ostern zu bedenken. Diesen Einwand liess der eingemauerte "Sadhu" nicht gelten. "Alles bei den Christen ist auf ihren Herrn Jesus Christus – sein Leben, sein Leiden, sein Sterben, seine Botschaft, seine Aufopferung für alle Menschen – ausgerichtet. Wir Inder kennen keinen entsprechenden Erlöser. Alle auf je eigene Art sind auf sich selbst gestellt, müssen sich selbst erlösen …"

Mir kam in den Sinn, was ich zur Vorbereitung meiner Indienkorrespondenz für viele, auch ausländische Zeitungen gelesen hatte: Mahatma Gandhi, die Seele der Befreiung Indiens von der britischen Kolonialherrschaft auf die menschenmöglichst gewaltlose Art und seither verbindlich, wenn auch von längst nicht allen Indern befolgte Leitfigur, reiste stets in für die Unberührbaren bestimmten Drittklasswagen. Weil jeder wusste, dass alle andern gern mit dem "Erleuchteten" sprechen, ihn aber nicht stören wollten, drängte sich – ohne besondere Aufforderung – niemand vor. Es hätte gegen die heilsversprechende Rücksichtnahme verstossen. Dieser tiefere Grund zeigte sich bei jedem Ort, wo die Bewohner ihn oft seit vielen Stunden erwarteten. Der Mahatma trat ans Fenster, begrüsste alle, bedauerte die lange Wartezeit. Kein Journalist drängte sich vor, betrat den Wagen, um Näheres für sein Medium zu erfahren. Ein gebildeter Inder klärte mich im besten Sinn des Wortes auf: Wer sich vordrängt, tut, was sämtliche Kollegen tun möchten, blamiert sich dann aber vor allen Herumstehenden, mit denen er schliesslich zusammen leben muss …

Jeder Mensch in Indien hat sich letztlich die eigene Erlösung zu verdienen. "Wir haben keinen Erlöser, an den wir uns verbindlich wenden können. Im Verzicht durch Fasten, Warten- und Meditieren- Können müssen wir uns bewähren und dürfen allenfalls auf eine Nicht-Wiedergeburt hoffen", erklärte mir der freiwillig Eingesperrte. "Nur auf diese Weise können wir alle – auch die Unberührbaren bis hinauf zu den Brahmanen – uns durch Wohlverhalten zur nächst höheren Stufe aufsteigen, um schliesslich das Nirwana zu erreichen."

Der "verkleidete" deutsche Bettelmönch – für ein Jahr oder ein ganzes Leben

In einem buddhistischen Kloster nahe bei Pegu bin ich 1997 einem deutschen Journalisten begegnet. Ein Jahr lang wollte er als buddhistischer Mönch leben, um dann – gleichsam von innen heraus – ein Buch über den Buddhismus und seine Jünger schreiben zu können. Jeden Morgen zog er – als Bettelmönch gekleidet durch die Strassen, empfing Nahrung, die auch arme, aber nicht elende Menschen spendeten. Wenn der Ertrag zu gross war, schenkten die Mönche den Überfluss den Bedürftigen.

Nach einem halben Jahr wusste der deutsche Mönch nicht, ob er nach Europa zurückkehren werde. Das Zusammensein mit den Mönchen und die Begegnung mit den einfachen Menschen hatten ihn sehr beeindruckt, geradezu "gefesselt" …

In Kandi, der alten Hauptstadt Sri Lankas im Innern der Insel, sollte ich unbedingt Nyanaponika, diesen deutschen Mönch, besuchen, empfahl mir der Schweizer Botschafter in New Delhi, J. A. Cuttat. Der Deutsche war als Geiger für ein Konzert nach Colombo gereist, dann aber nie mehr nach Europa zurückgekehrt.

Dem Schweizer Botschafter verdanke ich auch ein längeres Interview mit dem indischen Premier. 30 Minuten lang hätte ich Jawaharlal Nehru interviewen dürfen. Ich wusste vom Schweizer Botschafter, dass Nehru bei einem Gespräch mit einem Schweizer Unternehmer, der Indien eine ganze Fabrik schenkte, eingeschlafen ist. Es galt also, Nehru interessierende Fragen zu stellen, die der Schweizer Botschafter und ich gemeinsam vorbereiteten. So glückte das Interview, es dauerte 45 Minuten.

Faszination der zuvor Lästigen

Die geradezu unheimliche Attraktion Indiens habe ich nach meiner Rückkehr in Rom erfahren, ohne bisher eine zuverlässige Erklärung dafür gefunden zu haben. Der ewige Singsang in den Dörfern während eines Festtages bis zum Morgengrauen liess mich in Indien nicht schlafen. Er war derart lästig geworden, dass ich mir sagte: "Noch vieles hätte mich in Indien interessiert, doch wenigstens davon hat mich die Rückkehr nach Europa befreit."

Anlässlich einer Einladung in Rom wurde eine indische Schallplatte mit dieser sich nach Anfang und Ende in der Unendlichkeit verlierenden Musik aufgelegt. Bereits nach den ersten Klängen erfasste mich eine Sehnsucht nach Indien, sodass – hätten es die Umstände erlaubt – ich noch am gleichen Abend nach New Delhi geflogen wäre. Bis zum heutigen Tag kann ich mir dieses scheinbar oder wirklich widersprüchliche Erlebnis nicht erklären. Gut so, dass wir ein Leben lang aufgefordert sind, im Verständnis der Missverständnisse eine Brücke über alle Grenzen hinweg zu schlagen, zu schlagen versuchen. Stets im Bewusstsein, dass jeder Versuch auch eine blosse Versuchung sein kann!

Asiatische Gegner oder indogermanische Zwillinge?

Im berühmten Satz von J. R. Kipling, "Der Osten ist der Osten und der Westen ist der Westen, und nie werden sich die beiden treffen", wird manchmal "The two" durch "the twins" (die Zwillinge) ersetzt. Ich kann mir vorstellen, dass der in Indien geborene englische Schriftsteller ihn nach beiden Seiten hin uns zu verstehen geben wollte. Wir Europäer sind nicht nur Gegner, sondern auch innerhalb der indogermanischen Sprachengemeinschaft Schicksalsgefährten. Die Inder stehen uns nicht nur geografisch, sondern auch gedanklich näher als die Ostasiaten. Der berühmte Satz von Thomas von Aquin, einem vorreformatorischen Kirchenvater: "Ohne Zweifel gibts keinen (vertieften) Glauben", ist für die Hindus vielleicht selbstverständlicher als für die Buddhisten, deren Glaubensbekenntnis von vielen Gelehrten als "blosse" Weltanschauung, keine eigentliche Religion bezeichnet wird, dies jedenfalls Gegenstand einer interessanten theologischen Auseinandersetzung sein kann … oder nicht?

Die Bedeutung des Fastens

So oder so: Fasten gehört letztlich in den Bereich des Verzichts, der Rücksichtnahme und der Bescheidenheit, das Fasten darf nach orientalischem Empfinden deshalb angesichts des fast weltweit verbreitenden und da und dort aufkommenden Hungers nicht in einen zeitlichen Rahmen gepresst werden. Jedenfalls müssen wir das grosse Votum der Römischen Bischofssynode unter Leitung Johannes’ XXIII. zur Vorbereitung des Konzils zu Herzen nehmen: "So lange ein Mensch auf dieser Erde hungert, hat kein anderer, am wenigsten ein Christ, das Recht auf Luxus." Pointiert ausgedrückt – dem Sinn nach: Wer hungert, kann gar nicht fasten.

Der bisher behutsame Papst Franziskus – wenigstens gegenüber den Gläubigen – wird vielleicht gegen Ende der Fastenzeit allen danken, die während der 40 Tage etwas zum Wohl der Elenden, nicht nur der Armen getan haben und es weiter tun werden. In der allseitig bedrohten Welt von heute müssen alle Menschen voneinander lernen, nur so besteht eine Chance für das Leben und Überleben der Menschheit!

P.S. "Ein Leben reicht nicht aus, um Gott zu danken"

Das erwähnte Kürzel "zgb" bedarf einer Erklärung. Für mich bedeutet es nicht einfach Zivilgesetzbuch, sondern Zufall oder Gott-Befohlenheit. Was auch immer geschieht: Manches in unserem Leben lässt sich nicht erklären, fällt wie vom Himmel, was wir gelegentlich erst nach Jahrzehnten erkennen. Es lässt den alten gläubigen Menschen – völlig unmodern – auf die Knie sinken und etwas begreifen oder wenigstens erahnen, was Albino Luciani/Johannes Paul I. nach einer abgeschlagenen Bitte im grossen Satz "Ein Leben reicht nicht aus, um Gott zu danken" in sein Tagebuch vom 21. Dezember 1958, kurz vor der Bischofsweihe in Rom durch Johannes XXIII., niedergeschrieben hat. 

 

 

Victor J. Willi

Victor J. Willi

Der langjährige Rom-Korrespondent von Radio DRS und Journalist für viele Zeitungen beschäftigt sich auch nach seiner Pensionierung mit der katholischen Kirche und Zeitfragen