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Tolstoj: Kirchenkritiker – und theologischer Denker?

Als Dichter von Weltrang ist Lev Nikolajevitsch Tolstoj (1828–1910) allgegenwärtig, millionenfach gedruckt, hundertfach übersetzt, dutzendfach verfilmt. Aber er verfocht auch hartnäckig hehre Ideale: Frieden, Gewaltverzicht, Liebe – in seine literarischen Werke meisterhaft verpackt oder in eigenen Abhandlungen, Flugblättern, Broschüren, Büchern sorgfältig ausgebreitet. Eine Bibliographie in dem hier anzuzeigenden umfangreichen Buch1 verzeichnet 74 Titel von theologischen und sozial-religiösen Schriften, aus denen fast 300 Seiten ganz oder auszugsweise hier veröffentlicht sind. Die vollständigen Texte sind als Neudruck in deutscher Übersetzung in 8 Bänden 1990–1994 herausgekommen. Das Gesamtwerk umfasst russisch 90 Bände (davon 30 Bände Briefe), in deutscher Übersetzung bis zu 35 Bände.

Wertvolle Texte und Kommentare

Hier liegt ein eindrucksvolles Werk vor, zu dem neben den vier Herausgebern 16 weitere Autoren und Autorinnen sorgfältig aufeinander abgestimmt zu den unzähligen Ideen und Aussagen und Gegenäusserungen Stellung nehmen.

In einem ersten Teil werden Kernkonzepte abgehandelt (Glaube und Vernunft – Offenbarung und Bibel – Gott – Jesus Christus – Kirche – Religion – Anthropologie – Staat und Gesellschaft – Kunst), in einem zweiten Teil Tolstojs Auseinandersetzung mit der Philosophie und den religiösen Traditionen (Rousseau, Kant, Schopenhauer – Anarchismus, Sozialismus – Orthodoxie, Protestantismus, Katholizismus – Judentum, Islam, Buddhismus), in einem dritten Teil schliesslich Rezeption und Wirkung der Theologie Tolstojs (russische orthodoxe Kirche, russische Religionsphilosophie, protestantische Theologie, Katholizismus – Marxismus, Religiöser Sozialismus in der Schweiz – Ludwig Wittgenstein, Existenzialismus – Mahatma Gandhi, Rudolf Steiner, die Stundisten in der Ukraine, die Duchoborzen in Kanada). Ich beschränke mich auf die Frage nach der möglicherweise bleibenden Aktualität der Ideen Tolstojs und die Stellungnahme zu einigen Aussagen im Werk der Kommentatoren.

"Ich bin kein ausgeklügelt Buch/Ich bin ein Mensch in seinem Widerspruch"

Diese Selbst-Charakterisierung des widerspenstigen Ritters in "Huttens letzte Tage" von C. F. Meyer (im 26. Gesang "Homo sum") passt auch auf Tolstoj. Sein Leben und Werk sind höchst widersprüchlich, sodass die Urteile darüber auch nicht anders als widersprüchlich ausfallen können.

Die grossen Romane "Krieg und Frieden", "Anna Karenina", "Auferstehung" und die Novelle "Kreutzersonate" und viele kleinere Erzählungen sind bekannt, etwa "Herr und Knecht", "Der Tod des Ivan Iljitsch", "Vater Sergius", deren volkserzieherische Absicht überall durchscheint. Weiteste Verbreitung unter den religiösen Schriften fand die "Kurze Darlegung des Evangeliums".

Man kann Tolstoj als unermüdlichen Gottsucher verstehen, der in einem lebenslangen Selbstlernprozess unendlich viele Wissensgebiete erarbeitet und durchdacht hat. Doch der Dilettant (im doppelten Wortsinn als "Liebhaber" und "oberflächlicher Kenner ") macht oft ein ausgewogenes Urteil schwer. Er war Reformpädagoge, aber nicht unbedingt ein guter Lehrer (auch nicht an seinen Kindern), er entwarf von Ehe und Liebe ein übersteigertes Idealbild, dem er selber in keiner Weise entsprach, er bekämpfte alle Institutionen: Staat, Recht, Kirche, und sah nicht ein, wie das bei allen konkreten Verwirklichungsversuchen zu Katastrophen führen muss. Er wollte arm sein, was er, der überreiche Grossgrundbesitzer, aus vielen Gründen einfach nicht zustande brachte; seine Frau, die alles Praktische erledigen musste, dachte an ihre vielen Kinder und wohl auch daran, dass man – um wohltätig sein zu können – wohlhabend sein musste.

Kirche, Sinn des Lebens, Religionen, Ethik

Die Herausgeber des Sammelbandes erklären gleich zu Beginn: "Dass [Tolstoj] vor allem in den letzten drei Jahrzehnten seines Lebens zahlreiche theologische und kirchenkritische Schriften verfasste, die breit rezipiert wurden, geriet gegenüber der alles überragenden Wirkung der literarischen Texte schnell in den Hintergrund" (11) – und diesem Mangel soll also mit ihrem umfangreichen Buch abgeholfen werden. Man müsse sich bewusst sein, heisst es weiter, "dass Kunst und Moral, Narration und Predigt bei Tolstoj stets Hand in Hand gehen". Er sei auch immer von der Religion angezogen und früh überzeugt gewesen, eine neue Religion gründen zu sollen, eine "Religion Christi, aber befreit von Glauben und Geheimnis, eine praktische Religion, die nicht zukünfige Glückseligkeit verspricht, sondern Glückseligkeit auf Erden schenkt". Es wird ein deutliches "religiöses Sendungsbewusstsein " bei ihm ausgemacht, aber er wird mehr und mehr provokativ und aggressiv gegen die russsische orthodoxe Kirche und jede kirchliche Struktur: "Der Roman Auferstehung (1899) markiert einen Höhepunkt in seinem Kampf gegen alle staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen" (12).

Er beschränkte sich nicht auf literarische Angriffe, sondern studierte die theologischen Grundlagenwerke genau, v. a. die fünfbändige orthodoxe dogmatische Theologie des Moskauer Metropoliten Makarij (Bulgakov), 1816–1882; eine Kurzfassung davon war unter dem Titel "Leitfaden zur dogmatischen Theologie" das am meisten verbreitete Seminarlehrbuch der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der bedeutende orthodoxe Theologe G. Florovsky sagt zum grossen Werk, es sei eine Kompilation von Texten, in keinerlei Weise Darstellung von Zeugnissen und Wahrheit, es sei "leblos und lahm, (…) innerlich nicht überzeugend".2 Sie entspricht der scholastischen Methode, der sich die russische orthodoxe Theologie damals anschloss. Aus den Beschreibungen Tolstojs muss man schliessen, dass auch die gottesdienstlichen Handlungen nicht (immer) mit der nötigen Transparenz und Würde vollzogen wurden. Die Beschreibung des Gottesdienstes im Roman "Auferstehung" soll zwar bewusst "verfremdet" sein; sie zeugt von einer genauen Kenntnis der Abläufe, wirkt aber bösartig und abstossend.

Als Offenbarung lässt Tolstoj (nach C. Münch) nur gelten, was "vernunftgemäss" ist. Als "Glaube" gilt eine "Lebenskraft [verstanden] im Sinne einer existenziellen Gewissheit über den Sinn des Lebens" (340). Offenbarung kann in der Seele jedes Menschen geschehen, und so nimmt Tolstoj auch die heiligen Schriften anderer Religionen wohlwollend an, als Zeugnisse einer göttlichen Offenbarung (344). Er glaubt, die Offenbarung in ihrer ursprünglichen Unmittelbarkeit erschliessen zu können, lernt Griechisch, um das Neue Testament im Urtext lesen zu können, aber er liest es als Künstler, das heisst mit grosser Beliebigkeit. Dass dies "eine ebenso produktive wie subjektive Deutung" sei und "heute noch lesenswert", sodass sie "ihre Bedeutung und Berechtigung neben vielen anderen Auslegungen der vieldeutigen Bibelstellen" habe (350), erscheint mir eine mehr als grosszügige Interpretation, gipfelnd in der Behauptung: "Es geht um die Erfassung und Wiedergabe des Offenbarten oder Erfahrenen in seiner ursprünglichen Unmittelbarkeit und zeitlos-universalen Wahrheit" (351). Von einem andern Autor (E. Bryner) kann man lesen, Tolstoj verfahre mit seinen Quellen sehr willkürlich durch Streichungen und Auslassungen alles dessen, was ihm nicht passe (549). "Er ging mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen der neutestamentlichen Forschung sehr frei und grosszügig um und manipulierte manches zugunsten seiner eigenen Ansichten über die Lehre Jesu" (551). Dies alles trug ihm natürlich viel Gegnerschaft ein, u. a. von Vladimir Solovjev (1853–1900), wie Regula Zwahlen schön darstellt (594–607) oder vom hl. Johannes von Kronstadt, seinem Zeitgenossen (1829–1908), der auf Tolstoj heftigst reagierte (12, 249, 589).

Dass ausgerechnet ein Werk wie die Kurz- Evangelien auf Ludwig Wittgenstein einen tiefgreifenden Einfluss ausüben konnte, ist erstaunlich;3 er war wohl von Tolstojs Deutung des Lebenssinns, oft identifiziert mit Gott, beeindruckt. Ihm ist darum ein eigenes Kapitel gewidmet (von R. Hodel), der zeigt, wie Tolstoj in Wittgensteins Tagebüchern, im "Tractatus logico-philosophicus" und in den "Philosophischen Untersuchungen" in Spuren nachweisbar ist. Der Einfluss Tolstojs hat mit den ersten Kriegserfahrungen 1914 des jungen Philosophen zu tun; er ist dort – in einer fast unerträglichen militärischen Umgebung – intensiv mit der Gottesfrage und mit seiner Sexualität befasst; leider wird nirgends darauf hingewiesen, dass Wittgenstein schon bald Dostoevskij offenbar für wegweisender hält.4

Aufgrund seiner Lebenserfahrungen (Militärdienst, Krieg, Gutsbesitz, Ehe und Familie, Schriftstellerei usw.) stellt sich Tolstoj also seinen eigenen Glauben zusammen, dessen ethische Konsequenzen aber nicht nur individuell gemeint sind, sondern eigentlich für die ganze Welt gelten sollten: 1) Du sollst nicht zürnen, 2) Du sollst deine Frau nicht verlassen, 3) Du sollst nie, nichts und niemandem schwören, 4) Du sollst dem Bösen nicht gewaltsam Widerstand leisten, 5) Du sollst Menschen anderer Völker nicht für deine Feinde halten (115–124 beinhalten das Kapitel "Hierin besteht mein Glaube – Resümee" aus der Schrift "Mein Glaube" [1884]). Die ersten beiden Prinzipien haben mit Tolstojs eigenen Trieben zu tun (irascibilis und concupiscibilis, der Zorn- und der Begehrtrieb), das vierte stellt nicht erst heute vor ungeheure Probleme angesichts weltweiter Terrorunternehmen, das fünfte findet gewiss verbal Zustimmung, wenn auch nicht Verwirklichung.

Er schrieb: "Nicht auslegen will ich Christi Lehre; nur eines möchte ich verhindern, dass sie ausgelegt wird" (21). Gemeint ist die Auslegung der Kirche (und anderer Instanzen), was dazu führt, dass er sich selbst ausserhalb ihrer Gemeinschaft stellt; er leugnet die Lehre von der Dreifaltigkeit, von der Gottessohnschaft Christi (denn wir seien alle Söhne Gottes), von seiner jungfräulichen Empfängnis, von seiner Auferstehung, vom künftigen Leben, von den Sakramenten und der Wirkung des Heiligen Geistes usw. Er findet die Bergpredigt stilistisch "noch schlechter geschrieben als Dostoevskij" (21) und die Evangelien dringend der Kürzung und Überarbeitung bedürftig. "An die Stelle der Autorität des biblischen Textes tritt das Wahrheitskriterium der Verständlichkeit. " Für Tolstoj gab es keinen Zweifel, dass seine eigenen Zusammenfassungen des Evangeliums höher als der Originaltext standen" (21). Er reduzierte die gesamte Theologie schliesslich auf einzelne Maximen und Spruchweisheiten, die oft sehr schöne Gedanken enthalten (22). Wie kommt man da aber dazu, ihn überhaupt als einen Theologen bzw. einen theologischen Denker zu bezeichnen? Das wird in der sorgfältigen Einleitung der vier Herausgeber und in mehreren Einzelbeiträgen zu begründen versucht.

Tolstoj Theologe?

Die Kennzeichnung "Theologe" stehe ihm zu, weil sich christliche Theologie "bis ins hohe Mittelalter nicht, und seitdem in weiten Teilen nicht in erster Linie als akademische Disziplin verstanden" habe (16).

Darüber hinaus stehe Tolstoj "dem traditionellen Theologieverständnis der östlichen Orthodoxie" nahe, das so zusammengefasst wird: 1) Glaubenssätze (Dogmen) haben nicht die alles überragende Hauptrolle, wesentlicher sei der Akt des Gotteslobes, des orthodoxen Gottesdienstes, der Liturgie. 2) Die negative Theologie (Undefinierbarkeit und Unaussagbarkeit Gottes) sei das Gegengewicht zu den positiven dogmatischen Aussagen über Gott. 3) Die persönliche Gotteserfahrung des Einzelnen sei Grundlage der Aussagen über Gott. 4) Theologie sei zuerst eine spirituelle, erst dann eine akademische Disziplin, mit einer mystischen Komponente. 5) Sie wolle das tägliche Leben prägen, sei also praktische Theologie. 6) Sie sei eine persönliche Lebensdisziplin zur allmählichen Vergöttlichung des Menschen (17). – Noch verstärkend wird Tolstoj als Theologe verteidigt im Beitrag über seine Gotteslehre (M. George, 356 f.).

Der auf S. 356 für die apophatische Redeweise von Gott zitierte Johannes von Damaskus aus dem 8. Jahrhundert, dessen "Genaue Darlegung des orthodoxen Glaubens" "bald als normative Zusammenfassung der Theologie der griechischen Kirchenväter galt" (356), ist doch wohl Repräsentant einer "akademischen Disziplin". In dieser gelehrten Abhandlung schreibt Johannes recht viel über den unbeschreibbaren Gott!5 Das apophatische (Nicht-)Reden wächst eben aus der Fülle des Glaubens, und die "Vergöttlichung " (Theosis) des Menschen ist nicht so sehr Frucht einer strammen Lebensdisziplin als des dankbar entgegengenommenen Gnadengeschenk Gottes.6

Zur Erwähnung des kirchlichen Lobpreises Gottes wäre zu betonen, dass gerade darin das ganze Glaubensgut der orthodoxen Kirche enthalten ist und dass man nicht die Liturgie gegen das Dogma ausspielen kann. Die Tatsache, dass Tolstoj in den letzten Jahrzehnten seines Lebens der Liturgie und den Sakramenten fern stand, ja sie lächerlich machte, stellt ihn einfach ausserhalb der Kirche. Ob man jemanden, der irgendwie über Gott schreibt (wie Tolstoj dies gewiss ehrlich und inständig tat) schon als Theologen bezeichnen kann, wird wohl Gegenstand der Auseinandersetzung bleiben; mir scheint die Kennzeichnung Tolstojs als religiösen oder religiös-ethischen Denkers oder als Religionsphilosophen zutreffender zu sein.

Staat, Gesellschaft, Militär, Justiz

Bei Tolstoj ist ein steter Gegensatz zwischen Echtem, Natürlichem und Überzüchtetem, Verfeinertem festzustellen, und er betreibt eine "Rhetorik der Entlarvung " (J. Herlth, 449), und wie gegen die Kirche als Institution ("Unter allen gottlosen Begriffen und Ausdrücken gibt es keinen gottloseren als den Begriff der Kirche") richtet er sich gegen den Staat. "Echtes" Christentum und Staatlichkeit schliessen sich aus. Tolstoj stellt den Widerspruch zwischen dem "Geist" des Christentums und seiner Realität fest. Der Staat wolle gar nicht sich selbst schützen, sondern das Volk disziplinieren, und indem er das Böse ausrotten wolle, verewige er es. Noch vehementer ist er gegen das Recht: "Selbst die Theologie eingeschlossen, gibt es nichts, was die Menschen so unvermeidlich verdürbe " (455). Er lässt nur Familie und traditionale Dorfgemeinschaften gelten. "Eigentum ist Diebstahl" sei eine "absolute Wahrheit" (vom Anarchisten P.-J. Proudhon übernommen, 516, 523).7 Zusammenfassend heisst es: "Tolstoj (…) ist in seiner ganzen All- Einheits-Philosophie, seinem Authentizitätskult und Absolutheitsanspruch vor allem ein radikaler Individualist ", gesprochen wird von seiner "extrem gesteigerten Subjektivität" (460). Ähnliches hört man über Kunst (Silvia Sasse, 462 ff.), v. a. über die Schrift "Was ist Kunst?".

Das katholische Echo

Die Fragen lauten: Wie hat Tolstoj den Katholizismus wahrgenommen und wie hat man in der katholischen Kirche auf Tolstoj reagiert?

Zur ersten Frage: "Tolstoj lehnte den römischen Katholizismus grundsätzlich ab" (U. Schmid, 554) – was nicht besonders verwunderlich ist, da er jede Kirche ablehnte. Aber dass Tolstoj als einzige katholische Denker "Apostaten" gelten liess, worunter als erster Pascal genannt wird, erstaunt denn schon ein wenig. Pascal Apostat? Darüber ist kein Wort zu verlieren, eher versteht man, wenn der Autor de Lamennais dazu zählt, aber "Apostat" ist auch für ihn eine verkürzte Aussage.

Auf die zweite Frage antwortet der gleiche Autor, es gebe keine "prominente Rezeptionslinie in der römisch-katholischen Theologie. (…) Die wenigen Urteile katholischer Denker sind ablehnend, bisweilen sogar aggressiv" (620). Der Autor hätte wenigstens das "Lexikon für Theologie und Kirche" (2. Auflage, 10. Band, 1965) unter dem Stichwort "Tolstoj" konsultieren und dort ein sehr wohlwollendes Urteil des hoch angesehenen Slavisten Wilhelm Lettenbauer (1907–1984) finden können.8 Der "Dictionnaire de Spiritualité" (Bd. XV, 1991) stellt Tolstoj sehr objektiv auf neun Spalten mit 20 Titeln von Sekundärliteratur vor (verfasst von einem Redaktor des DSp, André Boland SJ 1926–1992). Solche Lexika sind repräsentativ für die katholische Theologie und bedeuten für die Verbreitung der Ideen mehr als ein wissenschaftlicher Artikel in einer Fachzeitschrift. Hilfreich wäre es auch gewesen, wenn dem Autor Prinz Max von Sachsen vor Augen gekommen wäre, der von 1924 bis 1950 nicht weniger als siebzehnmal an der Universität Freiburg i. Ü. meist zweistündige Vorlesungen über Tolstoj gehalten hat und 1930 in einer Zeitschrift der englischsprachigen Studenten dieser Universität einen sehr tiefgehenden Artikel über "What may we learn from Tolstoj?" geschrieben hat. Dass weder die Vorlesungen vor äusserst wenigen Studenten (einmal zwar als öffentliche Abendvorlesung) viel Echo fanden noch der Artikel im bescheidenen Blättchen Aufsehen erregte, ist begreiflich, doch ist der Artikel später deutsch zugänglich gemacht worden.9 Dieser deutsche Prinz, Priester und Theologieprofessor war zudem in Lebensprinzipien und Lebensstil offensichtlich von Tolstoj, den er sehr verehrte, stark beeinflusst. Ob der letzte Satz der Einleitung ("Zu zaghaft und allzu sehr beladen mit Vorurteilen hat man sich bisher auf Tolstojs theologische Entwürfe eingelassen" (29) die Sachlage richtig einschätzt, mag dahingestellt bleiben. Mir scheint, man habe genügend Gründe, auf diesen Bereich seiner Werke etwas auf Distanz zu gehen.

Was bleibt?

Es sind die Fragen, die Tolstoj eh und je umtrieben und die immer wieder neu gestellt werden: Frieden, ethisch verantw ortetes Leben, Toleranz, seine Triebe im Zaum halten, sodann, religiöser gefärbt: die aufrichtige Absicht, den Willen Gottes zu tun, Gott zu verehren, andere Religionen oder in der eigenen Kirche das schlicht-gläubige Leben der einfachen Leute achten, überall Liebe walten lassen, v. a. in der Ehe, die Glaubensüberzeugungen nachvollziehbar formulieren usw. – aber die Antworten sind, heute erst recht, ungenügend. Man konnte damals viele seiner Reaktionen erklären mit dem damaligen Zustand der Kirche (aber es gab auch gescheite und fromme Leute), mit der grausamen Überwachung und Zügelung der Gesellschaft durch das Zaren-Regime (aber mit den Sowjets wurde es nicht besser) und mit der komplexen Persönlichkeit des Autors. Gestalten wie Tolstoj werden wohl immer wieder als Mahnmal nötig sein. Konkret aber geht es darum, wie man für die grösstmögliche Anzahl der Menschen das grösstmögliche Wohlbefinden bewerkstelligen kann, mit grösstmöglicher Hilfe, wenn das nicht wünschbar erreicht wird, und das ist seit Jahrtausenden nur möglich bei bestmöglicher Organisation, die angesichts der Natur des Menschen mit Sanktionsmöglichkeiten ausgestattet sein muss.

Eine kleine Gruppe von Idealisten, die nach den gleichen Idealen leben wollte, wie sie Tolstoj vertrat, ist kläglich gescheitert (im Buch S. 719–730 von A. Donskov geschildert): Die Duchoborzen (= Gottkämpfer) sind eine von der orthodoxen Kirche stark abweichende Sekte, die aus dem 18. Jahrhundert (ab etwa 1750) bekannt sind. Im 19. Jahrhundert wurden sie in besondere Siedlungsgebiete eingewiesen und in ihrer Freiheit stark beschränkt. Seit dem Ende des 19. und dem Anfang des 20. Jahrhunderts begannen man sie zu diskriminieren und zu vertreiben. Viele wanderten in die USA und nach Kanada aus oder wurden von der zaristischen Regierung nach Ostsibirien verbannt. Tolstoj sammelte Geld für sie, damit sie auswandern konnten. Ein Sohn von ihm begleitete sie auf einmal ins Exil. "Die Duchoborzen lehnen eine weltliche Regierung, die göttliche Inspiration der Bibel und die Göttlichkeit Jesu ab (Nichttrinitarier). Darüber hinaus sind sie strenge Pazifisten, verweigern den Kriegsdienst ebenso wie den Eid" (Wikipedia). Mit anderen Worten: Sie bekennen als Gruppe, was Tolstoj als sein persönliches Glaubensbekenntnis bezeichnet. Die Nachkommen in Kanada werden auf 20 000–40 000 geschätzt. 2011 wurden nur noch 2290 Personen als gläubige Duchoborzen verzeichnet. Infolge ihrer störrischen Haltung kamen sie nicht nur mit den jeweiligen Behörden in Konflikt, sondern hatten auch untereinander Spannungen bis zu Gewalttätigkeiten (wovon im Buch keine Rede ist, nur in Wikipedia!). Die wohlwollende Erinnerung an Tolstoj ist noch weit verbreitet, wie eine wissenschaftliche Erhebung ab 2001 ergab.

Das Buch, aus dem hier einige Aspekte herausgehoben wurden, ist eine höchst wertvolle Quelle für die Thematik über Tolstoj hinaus, die Beiträge sind ertragreich und mit allen nötigen Quellenangaben versehen, den Herausgebern gebührt für diese Arbeit aufrichtiger Dank.

1 Martin George / Jens Herlth / Christian Münch / Ulrich Schmid (Hrsg.): Tolstoj als theologischer Denker und Kirchenkritiker. Übersetzung der Tolstoj- Texte von Olga Radetzkaja und Dorothea Trottenberg, Kommentierung von Daniel Riniker. (Vandenhoeck & Ruprecht) Göttingen 2014, 774 S. – Seitenzahlen im vorliegenden Text beziehen sich auf dieses Buch.

2 Zitiert bei Sergii Bortnyk: Kommunion und Person. Die Theologie von John Zizioulas in systematischer Betrachtung. Berlin 2014, 40 f.

3 Ich habe es in seiner italienischen Fassung konsultiert: Il Vangelo di Lev Nikolaievic Tolstoj. Introduzione di Italo Mancini. Urbino 1983, 234 pp. Die Einleitung des Theologen und Philosophen I. Mancini (S. 5–70) unter dem Titel "Fede e Violenza" (Glaube und Gewalt) ist fesselnd.

4 Wilhelm Braun: Wittgenstein im Ersten Weltkrieg. Die "Geheimen Tagebücher" und die Erfahrungen an der Front (1914–1918). Klagenfurt-Wien 2014, 168 S. – Über Tolstoj und Dostoevskij in der Zeit seiner Kriegsgefangenschaft im Monte Cassino ist wichtig das Zeugnis seines Mitgefangenen Franz Parak S. 133 ff. (im Personenregister nicht angezeigt!). Alles schon in: Ludwig Wittgenstein: Geheime Tagebücher 1914–1916. Hrsg. und dokumentiert von Wilhelm Baum. Vorwort von Hans Albert. Wien 1991, 147 ff. Dass der erstgenannte Band auf weite Strecken ein Nachdruck des anderen ist, wird nirgends erwähnt.

5 Ich benütze folgende Ausgabe: Johannes von Damaskus: Genaue Darlegung des orthodoxen Glaubens. Aus dem Griechischen übersetzt und mit Einleitung und Erläuterungen von Dionys Stiefenhofer. München- Kempten 1923.

6 Christoph Schönborn: Über die richtige Fassung des dogmatischen Begriffs der Vergöttlichung des Menschen, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 4 (1987), Heft 1–2, 3–47. – Kurzfassung in: Ders.: Existenz im Übergang. Trier 1987, 35–51.

7 Henri de Lubac: Meine Schriften im Rückblick. Freiburg 1996, 71–74 (Kap. über sein Buch über Proudhon von 1945).

8 Auch die 3. Auflage (10. Band, 2001) bringt eine kurze wohlwollende Darstellung.

9 Iso Baumer: Max von Sachsen. Priester und Professor. Seine Tätigkeit in Freiburg/ Schweiz, Lemberg und Köln. Freiburg/Schweiz 1990, 210, 212 f., 301–310 (Vorlesungsverzeichnis); ders: Max von Sachsen. Primat des Andern. Texte und Kommentare. Freiburg/Schweiz 1996, 192–197 (anschliessend ein Aufsatz über Solovjev). – Auch im zweiten Band dieser Monographie (Max von Sachsen. Prinz und Prophet. 1992) wird Tolstoj fünfmal, z. T. über mehrere Seiten hinweg, erwähnt.

Iso Baumer

Iso Baumer

Dr. Iso Baumer, geboren 1929 in St. Gallen, studierte Sprach- und Literaturwissenschaft und war als Gymnasiallehrer in Bern und Lehrbeauftragter für Ostkirchenkunde an der Universität Freiburg (Schweiz) tätig. Er befasste sich früh mit Theologie und verfasste viele Publikationen zur westlichen und östlichen Kirchengeschichte (religiöse Volkskunde, Ostkirchenkunde).