Subkutane Sinnstiftungen

Je wärmer es wird, desto öfter sieht man sie: Tattoos. An Armen, Beinen oder am Rücken der Mitmenschen kommen uns Bilder und Wörter entgegen.
Auch im Christentum haben Tattoos eine Tradition.

Körper als Kathedrale: Der französische Tattoo-Künstler Mikaël de Poissy lässt sich von mittelaterlicher Glasmalerei inspirieren. (Bild aus dem Buch «Tattoo und Religion» des Autors)

 

Tätowierungen gehören zu den ältesten Kunstformen der Welt. Man könnte sie sogar als die Mutter der sakralen Kunst bezeichnen, wie man an zahlreichen, nicht nur menschlichen Mumien aus Ägypten oder Südamerika erkennen kann. Der Ägyptologe Jan Assmann zählt sie zum immateriellen Erbe der Antike, wie etwa auch Kochrezepte, Tänze oder Riten. Wie kommen Körper in Bewegung, die durch Tätowierung an ihrer expressiven Ausgestaltung selbst teilnehmen? Hier geben sich Menschen selbst Zeichen; hier stiften Bild oder Schrift Beziehungen zum Nächsten und zum Übersinnlichen. Die Tattoo-Künstler gehen mit gewaltigen Energien der Sinnstiftung um. Hier wird leibhaft, was Menschen wichtig ist. Hier herrscht Respekt vor dem Körper des Anderen. Hier geht es nicht um die Zeichen der Zeit, sondern darum, ein gläubiges Zeichen zu setzen.

Ambivalente Zeichen

Betrachtet man die Anzahl evangelikaler Pastoren und Hillsong-Adepten1, die jüngst mit Tätowierungen ihre Nähe zum Puls der Zeit demonstrieren möchten, könnte man fast glauben, christliche Körperzeichen seien ein weiterer verkrampfter Versuch, christliche Lebensformen mit gesellschaftlichen Trends in Einklang zu bringen. Auf der anderen Seite stehen eher bürgerlich eingestellte (meist) evangelische Christen, die das Thema nur mit spitzen Fingern und selbstgefälligem Besserwissen angehen, sodass man ihnen zurufen möchte: War denn die Religion jemals vernünftig? Legt sich denn der Fakir auf ein Federbett?

Bei den Tätowierungen geht es um inkarnatorische Theologie. Es geht um die Achtung der Motive, womit Menschen reifen. Das Tätowieren ist die katholischste Kunst überhaupt: Tätowierungen existieren im Christentum schon länger als die Messe im lateinischen Ritus. Die Jerusalemer Pilgertätowierung schaut auf eine reich belegte jahrhundertealte Tradition zurück; zahlreiche Pilgerberichte aus der frühen Neuzeit berichten davon, wie z. B. an der Grabeskirche Bettelmönche Pilger tätowieren. Auch heute noch existieren bei der Familie Razzouk in der Jerusalemer Altstadt kleine Klötzchen aus Olivenholz, die zu Stempeln ausgeschnitzt sind, womit z. B. der Heilige Georg oder das Jerusalemkreuz zuerst aufgestempelt und dann nachgestochen werden können. Auch das abendländische Mönchtum involvierte Tattoos in seiner Passionsfrömmigkeit, wie sich im «Horologium sapientiae» des Dominikaners Heinrich Seuse (1295–1366) beobachten lässt. Dieser stach sich in der Imitatio der Leiden Christi das Jesusmonogramm auf seine Brust zum Beweis seiner gottesfürchtigen «Minne».

Es gibt auch eine Diskussion um Galater 6,17: «In Zukunft soll mir niemand mehr solche Schwierigkeiten bereiten. Denn ich trage die Leidenszeichen Jesu an meinem Leib.» Paulus spricht zuvor vom Einmeisseln der Gebote in die Gesetzestafel und die Beschneidung. Ist also «Leidenszeichen» (griechisch steht Stigmata) eigentlich eine Botschaft an die Galater? Während die römischen Herrscher die christlichen Minderheiten schikanieren und mit Straftätowierungen versehen, sagt Paulus hier gewissermassen: «Tragt diese Zeichen der Schande so wie Christus seine Wunden zum Heil trug.» Denn wie für Juden war auch für viele antike Christen vom levitischen Gesetz her, das die Tätowierung verbietet, die Tätowierung eine besonders demütigende Strafe der Römer. Manche Exegeten lesen daher Galater 6,17 als ein politisches Zeichen des Paulus, der die Zeichen der Demütigung zu Zeichen des Heils uminterpretiert. Tatsächlich berichtete die «New York Times» jüngst von zahlreichen Enkeln von Überlebenden der Schoah, die sich die KZ-Matrikel ihrer Grosseltern eintätowieren lassen, um ein Zeichen der Erinnerung und der Solidarität zu setzen.

Anderorts dienen winzige, z. B. an der Handwurzel oder der Stirn angebrachte Kreuze als Zeichen der Zugehörigkeit, wie es etwa bei den Kopten in Ägypten oder den Christen in Eritrea, Indien, auf dem Balkan und in Äthiopien üblich ist. In solchen Diaspora-Situationen haben sogenannte In-Group-Markierungen praktische Funktionen: z. B. sich beim Eingang zum Gottesdienst ausweisen zu können oder (etwa bei Stirntätowierungen) sich in der Öffentlichkeit unverkennbar als Christ präsent zu machen. Solche identitätsbildenden Interventionen in den Körper haben in den Weltreligionen zahlreiche Analogien – von der Beschneidung bis hin zur Tonsur.

Hier spielt auch eine sakramentale Vorstellung mit, dass Glaube den Menschen innerlich wie äusserlich umformt. Daher wird die christliche Taufe als character indelebilis bezeichnet, also ein unauslöschliches Prägemal. Tattoo und Taufe sind gewissermassen wie ein Ei, das man brät und dann nicht mehr entbraten kann.

Insgesamt ist heute die Tätowierung vielleicht am stärksten als Memento und Souvenir religiös geprägt. Sicher wimmeln Arme und Schenkel, Torsi und Nacken nur so von Madonnen, Rosenkränzen, Kruzifixen, Engeln oder anderen expliziten Motiven. Schon die italienische Volkskundlerin Caterina Pigorini Beri (1845–1924) dokumentierte die umfangreiche Ikonografie der Tätowierungen im Umkreis der Santa Casa in Loreto, wo die Franziskaner und Jesuiten bis in die 1920er-Jahre hinein Gläubige tätowierten. Doch die individuelle Gestaltung des Körpers an sich zeugt bereits von einer postsäkularen Religiosität, die den Körper als den ultimativen Ort der Auseinandersetzung mit dem Selbst wahrnimmt. Sei diese nun in Form der Schönheitschirurgie, der Ernährung, der Athletik oder eben der Tätowierung – eine neue Sorge um den Körper als Weltbezug sollte nicht so leicht als oberflächlich abgetan werden.

Tätowierung und Seelsorge

Hatten die Kunsthistoriker im 20. Jahrhundert deshalb Vorurteile gegenüber Tattoos, weil in Abwesenheit von Fotografie frühe kriminalforensische Schilderungen (wie etwa Inquisitionsakten) mit Tätowierungen als eindeutigen Erkennungszeichen voll sind und die bunten Leiber ins Milieu der Verbrecher rückten? Christen hingegen sind sichtbare Zeichen ihres Glaubens wichtig: Kein Berggipfel scheint zu hoch, keine Grotte zu klamm, um ein Kruzifix zu tragen. Christliche Künstlerinnen und Künstler wissen von Elfenbein, Achat, Perlmutt bis hin zu Messing und Lindenholz jedes Material zu bearbeiten. Warum nicht am Material Mensch beginnen? Warum übersehen wir heute die Haut der Gläubigen als stolze Trägerin der Heilszeichen?

Es ist an der Zeit, die Tätowierung stärker ins katholische Leben einzubeziehen – etwa als Option bei der Erwachsenentaufe, als Hilfe in der Busskatechese, in der Trauerarbeit oder der Ehevorbereitung. Könnte man nicht überlegen, ob signifikante (sakramentale) Momente im Leben der Gläubigen auch mit dem Entwurf, der Reflexion und Praxis von Zeichen begleitet werden, die dann entweder nach dem Gottesdienst oder währenddessen tätowiert werden? Viele Menschen tragen die Namen oder Sterbedaten oder Symbole für verstorbene Angehörige: Warum weiss die kirchliche Trauerarbeit nicht mit dieser Form der dermatografischen Pietät umzugehen?

Wir leben in einem visuellen Zeitalter. Bilder sind durch soziale Medien inflationär, desto beruhigender ist vielleicht, dass Menschen durch Tätowierungen nach einer gewissen Beständigkeit der Bilder suchen. Dies gilt es ernst zu nehmen. Seelsorger sollten Tätowiererinnen und Tätowierer beneiden wegen ihrer hohen Professionalität, ihrer Achtung vor dem Körper und den seelsorgerlichen Gesprächen, die bei mehrstündigen Tattoo-Sitzungen stattfinden.

Paul-Henri Campbell

 

1 Die Hillsong Church wurde 1983 in Australien gegründet und war bis 2018 Mitglied der Australian Christian Churches. Sie wurde international vor allem durch ihre Musikgruppen und Fernsehsendungen bekannt.

Buchempfehlung: «Tattoo & Religion. Die bunten Kathedralen des Selbst». Von Paul-Henri Campbell. Heidelberg 2019. ISBN 978-3884236062, CHF 51.90. www.wunderhorn.de


Paul-Henri Campbell

Paul-Henri Campbell (Jg. 1982) wurde in Boston (USA) geboren. Er studierte Theologie und klassische Philologie in Frankfurt a. M. (D) und Maynooth (IRL) und arbeitet als Theologe, Schriftsteller und Übersetzer. Er erhielt 2017 den «Bayerischen Kunstförderpeis» sowie 2018 den «Herrmann-Hesse-Förderpreis».