«All diesen Menschen bist du Vater!»

«Herr, lehre uns beten», baten die Jünger und Jesus lehrte sie das Vaterunser. Für Franziskus und seine Brüder war es das tragende Gebet, wie Niklaus Kuster in seinem Buch darstellt.

SKZ: Wieso ist das Vaterunser in der franziskanischen Spiritualität so wichtig?
Niklaus Kuster: Dafür gibt es spirituelle und praktische Gründe. Franz von Assisi ermutigt seine Brüder, «den Fussspuren Jesu zu folgen». Deshalb betet er auch so, wie Jesus es tat und lehrte. Dass Gott der Vater aller Menschen ist, gehört zu den Schlüsselerfahrungen des jungen Franz. Sie erklärt seinen Bruch mit einer Stadt, die Reiche schützte und Arme ausgrenzte. Die ersten Franziskaner lebten zudem nicht in Klöstern, sondern wie Pilger unterwegs und zurückgezogen in einsamen Bergwäldern. Da fehlte es an Gebetsbüchern, doch nicht an Beherztheit.

Die sechste Vaterunser-Bitte wird zurzeit kontrovers diskutiert. Kann uns hier Franziskus weiterhelfen?
In seiner Meditation zum Jesusgebet hält sich Franz bei dieser Bitte am kürzesten: «Und führe uns nicht in Versuchung – weder in unsichtbare noch in absehbare, weder in vorübergehende noch in hartnäckige!» Hilfreich finde ich, wie frei Franz mit vorformulierten Gebeten umgeht. Er kombiniert öfter biblische Verse neu und verbindet sie mit eigenen Worten. In dieser Freiheit bete ich die sechste Vaterunser-Bitte persönlich kurz und knapp: «Und führe uns!» Damit ist alles gesagt – für jede Situation.

Was bedeutet Ihnen persönlich das Vaterunser?
Ich bin oft unterwegs zu den Zeiten, in denen meine Brüder im Kloster beten. Da suche ich mich auch in der Bahn oder in Stadtgassen zu sammeln. Wie Muslime tue ich es in fünf Zeitfenstern über den Tag verteilt. Auf dem Weg zur Universität morgens mitten in Pendlerströmen durch Luzerns Bahnhof zu gehen und innerlich «Vater unser» zu sagen, lässt mich oft staunen: «All diesen Menschen bist du Vater! Sie alle begleitest du durch den Tag! Ihnen bin ich Bruder.» Alltagspraktischer könnte Beten nicht sein!

Die Begegnung mit dem Islam prägte Franziskus. Unter anderem inspirierte sie ihn zu einer Namen-Gottes-Litanei.
Menschen anderer Religion innig betend zu erleben, hat etwas tief Verbindendes. Gottes Geistkraft führt auf verschiedensten Wegen zum einen grossen DU aller. Franziskus staunt über die islamische Weisheit der 99 schönsten Namen Gottes. Sie lehrt, von Gott nicht eng zu denken, sondern weit und tief. Anders als Muhammad fügt Franziskus in den eigenen Lobpreis Gottes auch zahlreiche weibliche Gottesnamen ein. Unser katholisches KG und seine moderne Gottesnamenlitanei (KG 803) hinkt da weit hinter Franziskus' spiritueller Weisheit zurück.

Ihr Buch führt vom Vaterunser über die Gottesnamen bis zur Erklärung von Abu Dhabi. Worin besteht der rote Faden?
Die fünf Kapitel setzen alle beim Gebet Jesu an. Das erste Kapitel übersetzt die staunende Vater-unser-Betrachtung von Bruder Franz für heutige Menschen: mittelalterliche Dichtung will poetisch übersetzt werden. Das zweite Kapitel gibt eine neu entdeckte Vaterunser-Predigt wieder, die ein früher Franziskaner um 1230 in der Karwoche gehalten hat: Sie zeigt, welche Konsequenzen es zwischenmenschlich hat, wenn Gott als Vater aller angesprochen wird. Das dritte Kapitel behandelt die weiblichen Gottesnamen und im vierten Kapitel nutzt ein Lehrmeister der frühen Franziskaner das Vaterunser für eine inspirierende kurze Gebetsschule. Das fünfte Kapitel könnte aktueller nicht sein: Vor einem Jahr unterzeichneten Papst Franziskus und Grossimam al-Tayyeb von Kairo eine gemeinsame «Erklärung über die Geschwisterlichkeit aller Menschen»: Mein Buch übersetzt diese sensibler als die Webseite des Vatikans. Der christlich-islamische Glaube an den einen Schöpfer und Vater aller fordert Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und Religionen auf, als Menschheitsfamilie gemeinsam für eine friedlichere Welt einzustehen.

Interview: Rosmarie Schärer

 

Buchempfehlung: «Unser aller Vater. Beten wie Franz von Assisi». Von Niklaus Kuster. Ostfildern 2020. ISBN 978-3-8436-1219-7, CHF 28.90. www.patmos.de

 


Niklaus Kuster

Br. Niklaus Kuster (Jg. 1962) ist Kapuziner und promovierter Theologe. Er studierte Geschichte, Theologie und Spiritualität in Freiburg i. Ü., Luzern und Rom. Er lebt heute im Kloster Olten und lehrt an der Universität Luzern sowie den Ordenshochschulen München und Madrid.
Der Autor zahlreicher Bücher vernetzt mit dem Tauteam die franziskanische Schweiz und begleitet Kurse, Intensivzeiten und spirituelle Reisen.