Staat – Markt – Wertewandel

Welches sind die Gründe, die zur Krise des Sozialstaates geführt haben? Tony Judt, ein Fachmann für die Geschichte Europas im 20. Jahrhundert, hat in seinem Buch "Dem Land geht es schlecht" die Gründe erforscht. Francesco Papagni würdigt sein Werk kritisch.

Die 2008 ausgebrochene Finanzkrise, die sich in vielen Ländern zu einer bis heute nicht überwundenen Wirtschaftskrise ausgeweitet hat, beschäftigt auch die Intellektuellen. Wo liegen die tieferen Gründe dafür? Welche Entwicklungen haben dazu geführt, dass die westliche Welt beinahe kollabiert wäre?

Tony Judt, Spezialist für die Geschichte Europas im 20. Jahrhundert, hat mit diesem Buch so etwas wie sein politisches Testament geschrieben. 1 Zur Zeit der Abfassung wusste er von seiner tödlichen Krankheit. Der Autor beschreibt, wie Westeuropa nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges einen Sozialstaat errichtete, der national verschieden ausgestaltet war, der aber überall vom Credo getragen wurde, dass der Staat in den Markt eingreifen müsse, um Fehlfunktionen zu korrigieren und unerwünschte Folgen zu mindern. Dieser Konsens war wesentlich ein Resultat der kollektiven Erfahrungen der Zwischenkriegszeit, wo verzweifelte und ressentimentgeladene Bürger für faschistische oder kommunistische Parteien gestimmt und damit einen Prozess der Selbstzerstörung der Demokratien eingeleitet hatten.

Aufbau der Nachkriegsordnung und ihre Infragestellung

Nach 1945 wollten die Verantwortlichen ein System der Ordnungssicherheit errichten, ein System, das der Politik der Angst keinen Raum mehr liess. Es war die Zeit der öffentlichen Infrastrukturprojekte, die durchaus auch von Konservativen initiiert wurden. So baute der republikanische Präsident Eisenhower ein kolossales Autobahnnetz mit staatlichen Geldern. Diese Politik war bis in die 70er-Jahre erfolgreich. Dann begann eine neoliberale Gegenbewegung, durch Margret Thatcher in Grossbritannien und Roland Reagan in den USA angeführt. Der Staat wurde schlechtgeredet, Privatisierung und Deregulierung waren die Schlagworte der Stunde. In Grossbritannien wurde die Eisenbahn privatisiert und die neuen Betreiber mit staatlichen Zuschüssen geködert, so dass diese gar kein unternehmerisches Risiko eingingen. Das Resultat ist bekannt: Die Eisenbahn funktioniert schlechter als vorher, den Steuerzahler kostet dieser Service public aber mehr als zu Zeiten des Staatsbetriebs.

Der Wertewandel als tiefere Ursache

Die wesentliche Veränderung war aber moralischer Natur: Bis in die 70er-Jahre waren viel Geld und Karriere kein Lebensziel für talentierte junge Menschen, die Stellung in einer Bank dementsprechend wenig attraktiv, Business Schools waren ausserhalb der USA so gut wie unbekannt. Junge Menschen wollten Ärztin oder Luftfahrtingenieur werden. Ohne den Wertewandel dieser Jahre ist die nachfolgende Entwicklung nicht zu verstehen.

Der Angriff auf den Staat erfolgte nicht nur von rechts. Die 68er-Bewegung war anti-etatistisch, Selbstverwirklichung ihr individualistisches Ideal. Noch die 80er-Bewegung in Zürich schrieb "Macht aus dem Staat Gurkensalat" an die Mauern. Der Autor verteidigt demgegenüber den Nationalstaat, der allein in der Lage ist, bestimmte Dienste für alle anzubieten. Hierhin liegt die Grösse, aber auch die Grenze dieser Gedankengänge, denn heute sind wir mit vielen Problemen konfrontiert, die nicht einmal mächtige Staaten im Alleingang lösen können, man denke etwa an die Bankenregulierung oder an die ökologischen Herausforderungen. Eine andere Schwäche des Buches liegt in der Ausblendung der inneren Gründe, die zur Krise des Sozialstaates geführt haben, so z. B. in der Tendenz vieler Politiker, sich die Stimmen mittels Geschenken an die eigene Klientele zu erkaufen – Wahlgeschenke, die zur Verschuldung vieler Staaten beigetragen haben.

Nicht die Fehler der Zwischenkriegszeit Wiederholen

Interessant ist der Fall Schweiz, den der Autor nicht erwähnt: Wir erlebten keine Verstaatlichung der Schlüsselindustrien wie in anderen Ländern, wir erlebten aber auch keine systematischen Privatisierungen öffentlicher Dienste. Unser Gemeinwesen ist liberal organisiert, Kantonalbanken, die Eisenbahn und die Stromerzeuger sind jedoch in öffentlicher Hand. Dieses Zusammenspiel von Öffentlich und Privat hätte dem britisch-amerikanischen Historiker wohl gefallen. Das vorliegende Buch richtet sich an die junge Generation, die in Wohlstand aufgewachsen ist und naturgemäss nicht über die Erfahrungen des Krieges und der Nachkriegszeit verfügt. Sich zu erinnern, wieso die wirtschaftliche Ordnung Europas mit ihrer Verschränkung von Staat und Markt aufgebaut worden ist, soll helfen, nicht die Fehler der Zwischenkriegszeit zu wiederholen. Trotz der genannten Grenzen hat Tony Judt ein beeindruckendes Buch geschrieben, beeindruckend kenntnisreich und beeindruckend klarsichtig.

 

 

1 Tony Judt: Dem Land geht es schlecht. Ein Traktat über unsere Unzufriedenheit, München 2011 (urspr. englisch, London 2010).

 

Francesco Papagni

Francesco Papagni

Francesco Papagni ist freier Journalist. Er lebt in Zürich.