Experiment soziale Freiheit

Vielfältig sind die Kritiken am real existierenden Kapitalismus. Viele spüren die negativen Auswirkungen eines sich global ausbreitenden wilden Kapitalismus. Auch die katholische Kirche unter Papst Franziskus gehört neuerdings mit der Enzyklika Laudato Si (LS) von Pfingsten 2015 zu diesen Kritikern: Die Weltmächte würden ein weltweites System rechtfertigen, "in dem eine Spekulation und ein Streben nach finanziellem Ertrag vorherrschen, die dazu neigen, den gesamten Kontext wie auch die Wirkungen auf die Menschenwürde und die Umwelt zu ignorieren" (LS 56).

Franziskus folgert: "So wird deutlich, dass die Verschlechterung der Umweltbedingungen und die Verschlechterung im menschlichen und ethischen Bereich eng miteinander verbunden sind." Doch Alternativen zum Kapitalismus, die eine Chance in Richtung mehr Gemeinsinn und Solidarität fördern, fehlen. Bewegungen, die eine politische Kraft hätten, die Werte von Freiheit, Gerechtigkeit, Geschwisterlichkeit und ökologische Nachhaltigkeit in die Gesellschaftspolitik umzusetzen, sind nicht in Sicht. Zwar entnimmt Papst Franziskus dem biblische Befund eine andere Idee für die Zukunft, die er so zusammenfasst: "… dass alles aufeinander bezogen ist und dass die echte Sorge für unser eigenes Leben und unsere Beziehungen zur Natur nicht zu trennen ist von der Brüderlichkeit, der Gerechtigkeit und der Treue gegenüber den anderen" (LS 70). Dies liest sich zwar sehr abstrakt, aber deutlich ist hier eine Anspielung auf die drei Errungenschaften der Französischen Revolution herauszuhören: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Und dies als Summe politischen Denkens der Bibel! Viele Analysten der Enzyklika sprechen von einer Wende im kirchlichen Denken.

Leitideen für ein soziales Miteinander

Interessant ist, dass sich gleichzeitig auch die wichtigste Gegenbewegung gegen den industriellen Kapitalismus auf seine Wurzeln besinnt. In seinem Buch "Die Idee des Sozialismus"1 setzt Axel Honneth, Direktor des Frankfurter Instituts für Sozialforschung und Nachfolger von Jürgen Habermas, ebenfalls bei der Französischen Revolution an. Er zeigt, dass die ursprüngliche Absicht der sozialistischen Denker (von Saint-Simon, Owen, Fourier, Proudhon bis zu Marx) darin bestand, die drei spannungsvollen Prinzipien Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in einem Gemeinschaftsmodell so zusammen zu denken, dass "die individuelle Freiheit als ein Sich-Ergänzen im Anderen so gedeutet wurde, dass sie mit den Erfordernissen der Gleichheit und der Brüderlichkeit vollends zusammenfällt" (48).

Diese ursprüngliche normative Intuition des Sozialismus nennt Honneth "Soziale Freiheit", was mehr bedeutet als die Durchsetzung eines gerechteren Verteilungssystems. Soziale Freiheit meint eine Gesellschaft des Miteinanders im Füreinander. "Die einzelnen Subjekte können ihr Vermögen zur Freiheit nur als Mitglieder einer sozialen Gemeinschaft realisieren, welche ihrerseits aber in dem Sinn frei sein muss, dass die reziproke Erfüllung der allgemein geteilten Absichten ohne Zwang und daher in einer Einstellung der wechselseitigen Anteilnahme erfolgt" (52 f.).

Gegenüber dem Versiegen der utopischen Kraft in der Postmoderne und der von rechts geschürten Resignation und Angst gegenüber Veränderungen geht es Honneth darum, die Idee des Sozialismus neu zu beleben, indem er dessen Grundidee "Soziale Freiheit" aus der Umklammerung alter vergangener Denkgebäude befreien will. Denn es war die Schwäche dieser ersten Entwürfe des Sozialismus, dass sie ihre Grundintuition im Kontext der Folgen der bürgerlich-industriellen Revolution und deren ausbeuterischen Verhältnissen der frühen Industriegesellschaft nur auf den wirtschaftlichen Sektor und deren Produktionsverhältnisse bezogen, sie aber nicht auf die Gesamtgesellschaft und deren politischen Willensprozesse anwandten. Damit vernachlässigte der Sozialismus auch die entstehenden Errungenschaften der Menschenrechtsformulierungen (Stichwort Rechtsstaat), die ja ebenfalls aus den Prinzipien der Französischen Revolution erfolgten. Die Konzeption von sozialer Freiheit und des Sozialismus wurde in Konfrontation mit den damaligen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen kurzgeschlossen, was dazu führte, dass er heute als veraltet erscheint.

Schwachpunkte eines veralteten Sozialismus

Drei Schwachpunkte identifiziert Honneth bei der marxistischen Ausformulierung der Idee des Sozialismus, die die Grundintention der sozialen Freiheit eingeengt hat:

• Marx verkürzt die Vorstellung eines gesellschaftlichen Zusammenlebens auf den rein wirtschaftlichen Aspekt. Er spricht von Arbeit nur noch im Kontext der Produktionsverhältnisse, die Errungenschaften der politischen Dimension von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit wird ausgeklammert. Es hängt mit der Frühphase des modernen Kapitalismus zusammen, dass man im klassischen Sozialismus auf die Idee kam, "in Zukunft nicht mehr der demokratischen Aushandlung gemeinsamer Zielsetzungen zu bedürfen und daher die gesamte Sozialintegration dem vereinten Willen der miteinander kooperierenden Produzenten überlassen zu können" (80).

• Der damaligen Arbeitssituation (Ausbeutung, Lohnsenkungen usw.) zuzuschreiben ist es auch, dass allein im Proletariat die entscheidende verändernde Kraft eines Gesellschaftssystems erkannt wurde. Deshalb wurden Klassenkampf und Kampf um Anteilhabe an den Produktionsmitteln politisch erstrangig.

• In der Tradition der Aufklärung steht auch ein optimistischer Geschichtsautomatismus, der sich auf Technik und die damaligen Verbesserungen der Lebensumstände abstützte. In absehbarer Zukunft wird die sozialistisch bezeichnete Gesellschaftsform sich zwangsweise durchsetzen. Diese geschichtsphilosophische Konzeption ist nach Honneth aber zu dekonstruieren, soll die Idee der sozialen Freiheit auch in Zukunft wirksam bleiben. Jeder Fortschritt muss immer wieder experimentell und empirisch überprüft werden.

Honneth macht sich nun daran, einen Sozialismus ohne die Mängel der Entstehungszeit zu denken, der gegenwartstauglich und zukunftsträchtig werden könnte. Dabei knüpft er an der Idee der sozialen Freiheit an, welche neu bedacht die eigentliche Idee des Sozialismus schon immer gewesen ist.

Historischer Experimentalismus statt Geschichtsdetermination

Trotz aktueller Tendenzen, die den Kapitalismus heute wieder in seinen verheerenden Auswirkungen angreifbar machen, darf Marktwirtschaft nicht einfach mit Kapitalismus gleichgesetzt werden. Vielmehr muss experimentell, und nicht einfach geschichtsmetaphysisch, jedes Wirtschaftssystem auf seine Ermöglichung oder Verhinderung von sozialer Freiheit überprüft werden. Honneth bringt hier Gedanken ins Spiel, wie sie John Dewey entwickelt hat: Kriterium der Beurteilung von gesellschaftlichen Massnahmen ist, wie Barrieren beseitigt werden können, "die der ungezwungenen Kommunikation der Gesellschaftsmitglieder zwecks intelligenter Problemlösung entgegenstehen" (97). Dewey ist überzeugt, dass die soziale Kraft der Veränderung darin liegt, dass jede von der Interaktion bislang ausgeschlossene Gruppe um der Freiheit ihrer Mitglieder willen gegen ihren Ausschluss aufbegehrt. Statt Geschichtsspekulation zu betreiben, kann so eine empirisch überprüfbare Gesellschaftsentwicklung analysiert werden: Historisch-gesellschaftliche Experimente führen zu umso besseren, stabileren Lösungen, "je umfassender die von dem jeweiligen Problem Betroffenen in deren Erkundung einbezogen sind" (99). So bleibt es weiterhin Aufgabe eines sozialistischen Denkens, jede Wirtschaftstheorie zu bekämpfen, die den kapitalistischen Markt als das einzig effiziente Mittel einer Koordinierung wirtschaftlichen Handelns unter Bedingungen von Bevölkerungswachstum und entsprechenden Bedürfnissteigerung rechtfertigt. Es gilt den Begriff des Marktes "von allen ihm nachträglich zugefügten Beimischungen kapitalismusspezifischer Eigenschaften erst wieder zu reinigen, um ihn so auf seine moralische Belastbarkeit hin prüfen zu können" (109). Träger des Sozialismus sollen nicht mehr aufbegehrende Subjekte oder protestierende Kollektive (das Proletariat oder andere Bewegungen als revolutionäres Subjekt) sein, sondern – wie Kant es genannt hat – "Geschichtszeichen": Man orientiert sich an objektiv gewordenen Verbesserungen und institutionellen Errungenschaften, wie zum Beispiel im Bereich der Wirtschaft an der Sozialgesetzgebung des beginnenden 20. Jahrhunderts (Altersversicherung, Mitbestimmungsregelung, Mindestlohnbestimmungen usw.). All das sind Schritte eines mühsam erkämpften Fortschritts, die in die Zukunft hinein verlängert werden müssen.

Soziale Freiheit an gesellschaftliche Differenzierung anpassen

Die Idee des Sozialismus sollte aus der rein ökonomischen Sphäre herausgelöst werden, die deren Wirkmächtigkeit bisher im alten Denkgehäuse beeinträchtigt hat. Die Idee der sozialen Freiheit muss auf alle anderen gesellschaftlichen Sphären, wie zum Beispiel die Politik, aber auch auf persönliche Beziehungen wie z. B. Ehe- und Familienformen usw. ausgeweitet werden. Der Wirtschaftsmonismus der Sozialisten führte zu einer Blindheit den Grundrechten gegenüber, weil Freiheit immer verdächtigt wurde, dem wirtschaftlichen Egoismus des Kapitalisten zu nützen. So blieb das Potenzial der Befreiung von Kommunikationsbarrieren durch die Institutionalisierung der liberalen Grundrechte den Sozialisten verschlossen. Das gilt auch für die private Sphäre. Man nahm die normative Eigenbedeutung privater Beziehungen nicht zur Kenntnis, was beispielsweise zu einem unglücklichen Verhältnis der sozialistischen Arbeiterbewegung zu feministischen Anliegen führte. Frauen sollten bloss in den ökonomischen Arbeitsbereich integriert werden, patriarchalische Zuschreibungen des Weiblichen wurden aber nicht hinterfragt. Die Chance, die soziale Freiheit auch auf andere Sektoren ausserhalb der Wirtschaft anzuwenden, wurde verpasst, bleibt aber eine Chance für die Zukunft. Die drei Freiheitssphären (die persönlichen Beziehungen, die demokratische Willensbildung und das wirtschaftliche Handeln) müssen in Zukunft derart aufeinander bezogen werden, dass jede dabei so weit wie eben möglich ihrer Funktionslogik und ihren Normen folgt, sie gemeinsam aber die beständige Reproduktion der übergeordneten Einheit der Gesamtgesellschaft bewirken. Honneth entwirft so eine neue Zukunftsvorstellung: "Die Gesellschaft der Zukunft soll nicht mehr als eine von unten, von den Produktionsverhältnissen, zentrisch gesteuerte Ordnung vorgestellt werden, sondern als ein organisches Ganzes unabhängiger, aber zweckgerichteter zusammenwirkender Funktionskreise, in denen ihrerseits die Mitglieder jeweils in sozialer Freiheit füreinander tätig sein können" (146), was er kurz auch demokratische Lebensform nennt.

Eine Politik demokratischer Lebensformen

Es bleibt die Frage: Welche Instanz motiviert und steuert den Weg zu einer demokratischen Lebensform sozialer Freiheit? In der Vergangenheit des Sozialismus war es das Proletariat, an das sich die Theorie des Sozialismus richtete, gerade weil nur die ökonomische Sphäre interessierte. Angesichts der verschiedenen Freiheitssphären (persönliche Beziehungen, Staat und Wirtschaft) kann nicht mehr auf nur einen Akteur der Veränderung gesetzt werden. Mit John Dewey stellt sich Honneth abschliessend die Frage, "welches soziale Organ in einer komplexen Gesellschaft zur reflexiven Steuerung eines als wünschenswert begriffenen Wachstumsprozesses in der Lage wäre" (150). Die Antwort: Es ist die politische Öffentlichkeit. Bürgerinnen und Bürger beraten, wie inmitten des arbeitsteiligen Zusammenwirkens differenzierter unabhängiger Freiheitssphären das Gesamte wachsen soll. Nur sie können es sein, die durch Ermutigung zum verändernden Handeln dazu gewonnen werden, Schranken und Blockaden bei der Verwirklichung eines zwangslosen Füreinanders in allen zentralen Gesellschaftssphären zu überwinden. Alle Emanzipationsbestrebungen in allen Teilsystemen (nicht nur im ökonomischen!) müssen von der Idee der sozialen Freiheit durchdrungen werden. Auch wenn der Sozialismus nach wie vor ein internationales Projekt in der Tradition von Freiheit, Gleichheit, Solidarität bleibt, muss er die Ungleichzeitigkeiten der nationalstaatlichen Umsetzungen von sozialer Freiheit berücksichtigen.

Ziel eines im Sinne von Honneth revidierten Sozialismus wäre dann ein sozial erweiterter Liberalismus: "Nur wenn jedes Gesellschaftsmitglied sein mit jedem anderen geteiltes Bedürfnis nach körperlicher und emotionaler Intimität, nach ökonomischer Unabhängigkeit und nach politischer Selbstbestimmung derart befriedigen kann, dass es sich dabei auf die Anteilnahme und Mithilfe seiner Interaktionspartner zu verlassen vermag, wäre unsere Gesellschaft im vollen Sinne des Wortes sozial geworden" (166).

Folgen auch für die katholische Lebensgemeinschaft

Die Kirche und ihr Denken sind gut beraten, sich zur Vertiefung ihrer Werte weiterhin mit den modernen philosophischen Grundlagen von Politik auseinanderzusetzen. Analog zu Honneth könnte man von den drei Gefahren des Katholizismus nach der Französischen Revolution sprechen:

• Analog zum Geschichtsdeterminismus des Sozialismus entwickelte sich im 19. Jahrhundert im katholischen Denken ein Autoritätsautomatismus. Was die Französische Revolution für alle Zukunft ablehnte, nämlich das Gottesgnadentum des Königs, emigrierte in den Katholizismus, wurde auf den Papst und die Hierarchie übertragen. So entwickelte sich der Katholizismus bis Mitte 20. Jahrhundert zu einem Gehorsamschristentum.

• Die Ausdifferenzierung der Gesellschaft führte dazu, dass das Religiöse in Europa zu einem Teilsektor der Gesellschaft abgedrängt wurde, denkerisch isoliert wurde und den Kontakt zu Entwicklungen in den anderen Sektoren verlor. Christliche Lebensgestaltung wurde – wie Soziologen wie Franz Xaver Kaufmann u. a. gezeigt haben, durch die "Verkirchlichung des Christentums" auf Rituelles und Bekenntnisdruck eingeengt.

• Für die Zukunft wird der Glaubenssinn des Volkes Gottes in den Kirchen neu belebt und öffentlich fruchtbar gemacht werden müssen. Dies kann nur im freien Dialog der Glaubenden (Frauen genauso wie Männer!) geschehen, was eine neue Kompetenz des interreligiösen Dialogs aller religiösen Menschen erfordert. Dass dabei soziale Rücksichtnahme auf die Glaubensformen des je andern nötig sein wird, könnte die Leitidee "Soziale Freiheit " ebenfalls mit beinhalten.

Es ist ein Glück, dass Papst Franziskus die Prinzipien von "Brüderlichkeit, der Gerechtigkeit und der Treue gegenüber den anderen" (LS 70) im Sinne eines biblischen Befundes aufgegriffen hat. Nur gilt das nicht nur als Prinzip für die andern in der Gesellschaft. Um der Glaubwürdigkeit willen gelten diese Prinzipien genauso für das gemeinschaftliche Zusammenleben der katholischen Lebensgemeinschaft nach innen, also für die eigene "Verfassung" der katholischen Kirche. Wir alle wissen, dass die katholische Lebensgemeinschaft gerade in ihren eigenen Strukturen immer noch Nachholbedarf hat, was eine glaubwürdige Praxis sozialer Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit betrifft.

Eine solche Gelegenheit der vertieften Auseinandersetzung bietet die Lektüre des Buches "Die Idee des Sozialismus" von Axel Honneth. Wäre es nicht hoffnungsvoll, wenn sowohl Sozialismus wie Kirchen ihre alten Denkgebäude auf soziale Freiheit hin revidierten? Denn wir können als Einzelne nur frei sein, wenn wir füreinander schauen und unsere Vorstellungen immer wieder öffentlich und experimentell überprüfen, im freien Miteinander/Füreinander!

1 Axel Honneth, Die Idee des Sozialismus. Versuch einer Aktualisierung, Berlin 2015. Die im Text folgenden Zahlen verweisen auf die Seitenzahlen aus diesem Buch.

Toni Bernet-Strahm

Toni Bernet-Strahm

Dr. theol. Toni Bernet-Strahm war Leiter Romero-Haus Luzern und von 1980 bis 1999 Bereichsleiter Kommunikation und Bildung sowie Mitglied der Geschäftsleitung des Fastenopfers.