Staat - Kirche: Zukunftsperspektiven

Die aktuellen Regierungsbeschlüsse der Kantone Zürich und St. Gallen regen zum Nachdenken über das zukünftige Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften an.

Die Katholische Kirche im Kanton Zürich würde die «kleine Anerkennung» für die orthodoxen Gemeinschaften begrüssen. (Bild: shutterstock.com)

Viele Experten in religionsrechtlichen Fragen, Kirchenvertreter sowie religionspolitisch Engagierte haben sich in den letzten Jahren für die Anerkennung weiterer Religionsgemeinschaften in der Schweiz ausgesprochen. Mehrheitlich favorisieren sie ein zweistufiges Verfahren: als ersten Schritt die «kleine» oder «einfache» Anerkennung von privatrechtlich organisierten Religionsgemeinschaften und als zweiten Schritt die «qualifizierte» Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts. Letztere stellt hohe Anforderungen an die demokratische und rechtsstaatliche Selbstorganisation der Religionsgemeinschaft, zumal sie auch mit der Verleihung des Steuerbezugsrechts verbunden ist.

In einem Zeitungsinterview sprach sich kürzlich auch der Generalsekretär der Schweizer Bischofskonferenz, Erwin Tanner, klar dafür aus, dass den Muslimen «der Weg für eine öffentlich-rechtliche Anerkennung geebnet werden» solle.1 Und die Katholische Kirche im Kanton Zürich sähe es gerne, wenn die orthodoxen Gemeinschaften in den Genuss der «kleinen Anerkennung» kämen, die mehr Verbindlichkeit im Dialog mit den Behörden schafft und den Zugang zur Seelsorge in staatlichen Einrichtungen (z. B. Spitälern) vereinfacht.2

Derzeit keine weiteren Anerkennungen

Wie zuvor schon in anderen Kantonen (z. B. Luzern) zeigen neueste Entwicklungen in Zürich und St. Gallen, dass die Politik diesen Weg jedenfalls derzeit nicht beschreitet, aber Entwicklungen anstossen möchte. So veröffentlichte der Zürcher Regierungsrat am 8. Dezember 2017 eine «Orientierung» zu «Staat und Religion im Kanton Zürich», die zwar nicht von der Anerkennung weiterer Religionsgemeinschaften spricht, aber «klare Handlungsgrundlagen» zum Umgang mit den verfassungsrechtlich nicht anerkannten Religionsgemeinschaften» fordert.3 Und im Kanton St. Gallen hatte die Regierung im Frühling 2017 zwar Vorschläge für ein Religionsgemeinschaftengesetz in die Vernehmlassung gegeben, teilte Ende Jahr aber mit, dass die Parteien dieses Instrument aus unterschiedlichen Gründen ablehnten. Deshalb «verzichtet die Regierung nun darauf, diese Form der Anerkennung im Gesetzesentwurf zu integrieren».4

Trend zur Gemeinwohlorientierung?

Diese beiden Entwicklungen entsprechen einem Trend, auf den der Direktor des Instituts für Religionsrecht an der Universität Freiburg, Prof. René Pahud de Mortanges, schon 2015 aufmerksam gemacht hat: «Das klassische ‹Anerkennungs-Paket›, so wie es etwa vor einem halben Jahrhundert … konstruiert wurde, scheint aus der Mode zu kommen.» Dagegen gewinne die «Gemeinwohlorientierung als neue Legitimation» für finanziellen und anderen Support von Kirchen und Religionsgemeinschaften an Bedeutung, was für diese «gravierende Nachteile» hätte.5 Denn die staatliche Anerkennung und Unterstützung gälte in dieser Logik nur noch dem Nutzen, den die Kirchen und Religionsgemeinschaften mit sozialen und kulturellen Dienstleistungen erbringen. Diese können jedoch auch von anderen erbracht werden. Begrüsst würde eine solche Entwicklung etwa von den Freidenkern, deren Präsident in der NZZ vom 9. Januar 2017 schrieb: Glaubensgemeinschaften sollten «nicht besser als andere zivilgesellschaftliche Kräfte behandelt werden. Für ihre blosse Existenz sollen sie keine staatlichen Mittel erhalten. Und die Privilegien der anerkannten Gemeinschaften müssen reduziert werden.»

Klares Bekenntnis zum bewährten System

So weit ist es allerdings derzeit nicht. Die St. Galler Regierung hält in ihrer Botschaft fest, die öffentlich-rechtliche Anerkennung sei «gerade in der heutigen, von neuen religiösen Konflikten geprägten Zeit … weiterhin gerechtfertigt». Sie verankert «die herausragende Rolle einer Reli- gionsgemeinschaft» und anerkennt den «wichtigen Beitrag» ihrer Aktivitäten zur «gesellschaftlichen Integration».6 Und die Zürcher Regierung wiederum hält fest: Das «System der öffentlich-rechtlichen Anerkennung hat sich bewährt und soll beibehalten werden.» Es verschafft «den anerkannten Körperschaften einen besonderen Status und hebt ihre Rolle als wichtige gesellschaftliche Potenzen hervor». Auf der Grundlage dieses Systems «hat sich ein sehr gutes Zusammenwirken zwischen staatlichen Stellen und anerkannten Religionsgemeinschaften entwickelt. Es ist von regelmässigem Austausch, gegenseitigem Vertrauen und Respekt geprägt.»7

Dies entspricht auch dem «Fazit» von Claudius Luterbacher-Maineri zu den religionsverfassungs- rechtlichen Entwicklungen in der Schweiz: «Wo eine öffentlich-rechtliche Anerkennung … existiert, scheint diese im Grundsatz in den aktuellen Entwicklungen unhinterfragt.»8

Profilierter Beitrag zum Gemeinwohl

Ob dieses Bekenntnis auch längerfristig Bestand hat, ist nicht nur – und vielleicht nicht einmal in erster Linie – von religionsstatistischen Entwicklungen abhängig, sondern auch davon, ob die Kirchen schicksalsergeben zu «wohltätigen Non-Profit-Organisationen» mutieren oder ob sie sich auf ihren gleichzeitig Gott und den Menschen zugewandten Grundauftrag besinnen. Tun sie Letzteres, können sie einen profilierten und unverwechselbaren Beitrag zum Gemeinwohl leisten, der in ihrer spezifisch religiösen Überzeugung verankert ist, ohne andere auszugrenzen oder abzuwerten. Denn sie erfüllen dann ihren religiösen, gottgewollten Auftrag und dienen gleichzeitig einem friedlichen und solidarischen Miteinander. Für die christlichen Kirchen und für andere grosse Religionsgemeinschaften ist das kein «fauler Kompromiss» mit dem Zeitgeist oder mit staatlichen Erwartungen, denn es entspricht ihrem Selbstverständnis, das in einem von Barmherzigkeit, Gerechtigkeit und Liebe zur Welt geprägten Gottesbild wurzelt.

Wie geht es weiter?

Ob die Kantonsregierungen auch in Zukunft vom «bewährten Anerkennungssystem» sprechen und auf dieser Basis «klare Handlungsgrundlagen» für das Verhältnis zwischen Staat und Religionsgemeinschaften schaffen, hängt nicht nur von gesellschaftlichen Entwicklungen ab, sondern auch von den Kirchen und Religionsgemeinschaften selbst. Dass die St. Galler Regierung zwar derzeit die «kleine Anerkennung» nicht gesetzlich regeln will, aber ausdrücklich festhält, dass sie die Diskussion darüber «für wichtig» erachtet, zeigt vonseiten des Staates ein bestehendes Interesse an zukunftsfähigen Regelungen, die den Gemeinwohlbeitrag der Religionsgemeinschaften würdigen, ohne diesen auf die grossen Kirchen zu beschränken.9

Wenn es den anerkannten Kirchen und Religionsgemeinschaften gelingt, ihren in der jeweils eigenen Identität verankerten Einsatz für das Gemeinwohl in ökumenisch und interreligiös versöhnter Verschiedenheit zu erbringen und glaubwürdig sichtbar zu machen, tragen sie nicht nur zum religiösen Frieden bei. Vielmehr arbeiten sie damit zugleich an Voraussetzungen für ein künftiges Verhältnis von Staat und Kirche, das die Religionsfreiheit, die Autonomie der Religionsgemeinschaften und auch die religiöse Vielfalt achtet. Sie sorgen gerade deshalb weiterhin für gute Rahmenbedingungen für die besonderen Aufgaben der Religionsgemeinschaften.

Daniel Kosch

1 Vgl. Tanner, Erwin, «Der Kuchen der Kirchensteuer würde neu aufgeteilt», www.tagesanzeiger.ch, 20.11.2017.
2 Vgl. Katholische Kirche im Kanton Zürich, «Kirche begrüsst Debatte um Staat und Religionen», auf: www.zhkath.ch/news.
3 Vgl. Kanton Zürich, «Staat und Religion im Kanton Zürich. Eine Orientierung», Dez. 2017, auf: www.zh.ch.
4 Kanton St. Gallen, Gesetz über die Religionsgemeinschaften, auf: www.sg.ch und www.ratsinfo.sg.ch.
5 Vgl. Pahud de Mortanges, René (Hg.), Staatliche Anerkennung von Religionsgemeinschaften. Zukunfts- oder Auslaufmodell?, Zürich 2015, S. 22.
6 Vgl. Kanton St. Gallen, Gesetz über die Religionsgemeinschaften, a.a.O.
7 Vgl. Kanton Zürich, Staat und Religion im Kanton Zürich, a.a.O.
8 Luterbacher-Maineri, Claudius, Religionsverfassungsrechtliche Entwicklungen in der Schweiz, in: Ohly, C. u. a. (Hg.), Theologia Iuris Canonici, Berlin 2017, S. 801–823, hier 822.
9 Vgl. Kanton St. Gallen, Gesetz über die Religionsgemeinschaften, a.a.O.


Daniel Kosch

Dr. theol. Daniel Kosch (Jg. 1958) ist seit 2001 Generalsekretär der Römisch-Katholischen Zentral-
konferenz der Schweiz mit Sitz in Zürich.