Die Buchbranche im Wandel

«Den ganzen Nachmittag verbrachte ich in der Buchhandlung. Dort gab es nicht etwa Bücher. Seit fast einem halben Jahrhundert wurden keine mehr gedruckt. ... Keiner konnte mehr in Regalen stöbern, schwere Bände in der Hand wiegen, ihr Volumen richtig auskosten, das den Umfang des Lesevergnügens voraussagte. Die Buchhandlung erinnerte an ein elektronisches Labor. Bücher waren kleine Kristalle mit gespeichertem Inhalt. Lesen konnte man sie mit Hilfe eines Optons. Der sah einem Buch sogar ähnlich, allerdings mit nur einer einzigen Seite zwischen den Einbanddeckeln. Berührte man dieses eine Blatt, so erschienen hintereinander die Textseiten in ihrer Reihenfolge. Aber es wurde – wie mir der Roboter-Verkäufer sagte – von den Optonen wenig Gebrauch gemacht. Das Publikum zog die Lektonen vor – sie lasen laut vor, und man konnte sie auf eine beliebige Stimmart, Tempo und Modulation einstellen. Nur wissenschaftliche Publikationen eines recht beschränkten Bereichs wurden noch auf Plastseiten, die Papier imitierten, gedruckt» (S. 83).

Digitale Revolution

Was der polnische Autor Stanislaw Lem hier in seinem utopischen Roman «Transfer» von 1961 beschreibt, ist Wirklichkeit geworden. Diese Zeilen sprechen vom heute längst vertrauten E-Book und seinen Lesegeräten, den E-Book-Readern, oder den Multifunktionsgeräten wie Smartphones oder Tablet-PCs. 550 Jahre nach dem Tod von Johannes Gutenberg (*1400 bis 3. Februar 1468), dem Erfinder des Buchdrucks, steht die Buchbranche in einem gewaltigen Umbruch. Mit Begriffen wie «digitale Revolution», «grosse Zeitenwende» oder «Zeitalter eines umfassenden Medienwechsels» charakterisiert die Buchbranche den Wandel, in dem diese sich seit der Einführung der digitalen Technologie befindet. Dabei steht sie nach Detlef Bluhm erst am Anfang dieses Umbruchs1, der aber radikaler und tiefgreifender sein wird als die Erfindung der Bleilettern-Technik und der Druckerpresse durch Johannes Gutenberg im 15. Jahrhundert.2

Von der Handschrift zum Buchdruck

Die Erfindung des Buchdrucks und die Entwicklung der Druckkunst bedeuteten damals einen Wendepunkt in der Kulturgeschichte und fanden geistesgeschichtlich am Vorabend der Reformation und der Neuzeit statt. Sie haben die damalige Welt grundlegend verändert. Breite Bevölkerungsschichten bekamen Zugang zu Informationen, Wissen und Bildung. Bis anhin dauerte der Wissenstransfer um einiges länger und die Reichweite der Wissensverbreitung war begrenzt. Es braucht Zeit, ein Buch von Hand zu schreiben, für das zuvor das Material in der eigenen Klosterbibliothek gesammelt, und wenn es nicht vorhanden war, bei anderen Bibliotheken auf brieflichem Weg erfragt werden musste. Oft waren verschiedene Personen an der Erstellung eines Buches beteiligt: Verfasser, Schreiber und Bibliothekare. Mit der Einführung des Buchdrucks änderte dies grundlegend. Der Autor rückt ins Zentrum, die Urheberschaft wird eindeutig zuschreibbar. Auch unterlaufen bei der Vervielfältigung eines Textes erstens keine Abschreibfehler mehr und zweitens können keine Bemerkungen, inhaltliche Zusätze usw. eingefügt werden. Der Text erhält somit – auch bei einer 1000-fachen Vervielfältigung – eine Homogenität.3 Des Weiteren starben herkömmliche Berufe wie die des Schreibers in den Skriptorien aus, dafür entstanden neue Berufe wie jener des Setzers. Buchhandel und Verlagswesen gewannen an wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Bedeutung. Es blieb aber nicht bei äusseren, sichtbaren Änderungen.

Veränderung der Sinneswahrnehmung

Marshall McLuhan macht in seinem Buch „Die Gutenberg-Galaxis“ auf die Veränderung bei der Sinneswahrnehmung aufmerksam. „Wenn eine Technik, sei es von innen oder aussen, in eine Kultur eingeführt wird und wenn sie dem einen oder anderen unserer Sinne ein neues Gewicht oder einen neuen Auftrieb gibt, dann verschiebt sich das gegenseitige Verhältnis aller unserer Sinne. Wir fühlen uns nicht mehr als dieselben, und auch unsere Augen, Ohren und anderen Sinne bleiben nicht mehr dieselben“ (S. 37). So wird aus seiner Sicht mit dem Buchdruck das Visuelle gegenüber dem Auditiven und damit das Objektive gegenüber dem Einfühlungsvermögen verstärkt (vgl. ebd. S. 42). Dies führte dazu, dass mit dem Buchdruck das laute Lesen langsam verschwunden ist. Wenn wir heute lesen, bewegen sich einzig die Kehlkopfmuskulaturen. Es ist ein innerlich lautes Lesen. 

Die digitalen Technologien ermöglichen nun, Bücher und Textpassagen nicht nur zu lesen, sondern auch zu hören. Im Jahr 2013 wurden in Deutschland über 14 Millionen Hörbücher auf CD verkauft. Darüber hinaus wächst der Markt im Bereich herunterladbarer Audiodateien markant.4 Folgt man der These von McLuhan, der von einer gegenseitigen Abhängigkeit und einem Wechselspiel der Sinne ausgeht, werden die neuen Technologien – ganz abgesehen von der vielseitigen intensiven Nutzung der Smartphones – die Sinneswahrnehmungen anders akzentuieren und damit eine neue Weltsicht und Weltgestaltung erzeugen. Wie diese aussehen werden, das wird sich durch die mehrjährige Nutzung einer breiten Masse zeigen.

Neue Nutzungsmöglichkeiten

Wahrnehmbar sind jetzt schon die Änderungen im Bereich der Buchnutzung. Dank der digitalen Technologie gehe ich nicht mehr in eine Buchhandlung und kaufe dort ein Buch, das ich nach Hause trage und nach dem Lesen im Regal aufbewahre, sondern ich erwerbe mir Nutzungsrechte. Diese ermöglichen mir, alles Gekaufte an jedem beliebigen Ort zu jeder Zeit mittels des erforderlichen Geräts zu konsultieren. Im Gegensatz zum Buchladen, der räumlich begrenzt ist, verfügt das Internet über eine unbegrenzte Speicherkapazität an Daten, zu denen ich mir über die entsprechende Software und das Recht zur Nutzung Zugang verschaffe. So stehen mir nicht 3'000 Bücher zur Auswahl, was schon beträchtlich ist und meine Kaufentscheidung erschwert, sondern es werden 3’000’000 und mehr Bücher angeboten. Hingegen ist das Buch das langlebigste Speichermedium, das je erfunden wurde. Und Bücher sind Zeitdokumente: Sie sind Dokumente aus einer anderen Zeit und erzählen über den Inhalt hinaus etwas über die Buchkunst und die Lesekultur. Sie sind Zeitzeugnisse.

Neue Publikationsmöglichkeiten

Es ist absehbar, dass die Digitalisierung nicht nur die Lesekultur und die Praktiken der Lektüre sowie den Buchhandel nachhaltig ändern wird, sondern sie hat auch Auswirkungen auf die Autoren. Die technischen Möglichkeiten erlauben dem Schriftsteller zum Beispiel seinen Roman im Netz multimedial zu publizieren. Neben der Sprache kommen Bilder, Musik, Games usw. zum Einsatz, um die Geschichte spannend zu erzählen. So arbeiten mitunter mehrere Personen am Werk mit. Auch sind die Autoren nicht mehr auf einen Verlag angewiesen, der ihr Manuskript druckt. Bei Amazon und anderen Anbietern können sie ihr Manuskript selbst veröffentlichen und inhaltlich wie urheberrechtlich selbst verwalten. Das E-Publishing rüttelt am herkömmlichen Dreischritt „Autor –Verleger –Buchhändler“.5

Initiierung neuer Prozesse

Ich wage noch einen Blick über Europa hinaus. Die neuen Technologien eröffnen den Weg zu Wissen und Informationen für Menschen, die keinen Zugang zu einem Buchladen haben. Ich denke an Menschen in Afrika, Asien, Lateinamerika, Ozeanien ... Auch hier wird wie damals zu Beginn der Neuzeit Wissen mit Menschen geteilt, die bis anhin davon ausgeschlossen waren, was Demokratisierungsprozesse fördern kann und die gesellschaftlichen Strukturen längerfristig wandeln wird; vorausgesetzt, der Zugang zum Internet ist nicht staatlich zensuriert.

Mit der Digitalisierung findet nicht nur ein technologischer Paradigmenwechsel statt, sondern es werden sich über einen längeren Zeitraum Umwandlungsprozesse in Gesellschaft und Kultur ereignen. Auch geistesgeschichtlich steht die Menschheit in einem „Umbruch“, an einer „Zeitenwende“. Hat die Buchdruckkunst am Abend des Mittelalters den Morgen der Neuzeit mit initiiert und geht sie mit der Digitalisierung selbst ihrem Abend entgegen?

Thomas Macho schreibt, „dass ein Medienwechsel nicht automatisch zur Auslöschung des älteren durch das neuere Medium führt. Viel häufiger entwickeln sich unerwartete Wechselwirkungen, Synergien, die manche Potenziale und Qualitäten der scheinbar überwundenen Medien überhaupt erst sichtbar machen. So hat die Briefpost vom Telefon nicht weniger profitiert als der Film vom Fernsehen oder das Buch von der Zeitung (und umgekehrt). Und darum ist die Erwartung durchaus legitim, dass auch die Bücher vom Internet profitieren werden. Aber wie? Und welche Bücher?“6 Diese Fragen sind noch unbeantwortet, und auf die schöpferischen Wechselwirkungen zwischen E-Book, Hörbüchern und gebundenem Buch darf man gespannt sein.

Entsprechend dem von Thomas Macho aufgezeigten Erfahrungswissen wird es – nicht wie im eingangs zitierten Text aus dem utopischen Roman „Transfer“ von Stanislaw Lem beschrieben – auch zukünftig gebundene Bücher geben.

Maria Hässig

 

1 Vgl. Bluhm, Detlef, Vorwort, in: ders., Bücherdämmerung. Über die Zukunft der Buchkultur, Darmstadt 2014, S. 7-9, hier 7.

2 Vgl. ders., Der Buchhandel und seine Kunden, in: ebd. S. 58-74, hier 61.

3 Vgl. McLuhan, Marshall, Die Gutenberg-Galaxis. Düsseldorf 1968, S. 180-186.

4 Vgl. www.boersenverein.de/de/portal/Presse; www.wikipedia.org/hoerbuch.

5 Vgl. Bluhm, Detlef, Autoren im Netz. Von der Schriftstellerei im digitalen Zeitalter, in: Ders.: Bücherdämmerung, aaO., S. 31-40.

6 Macho, Thomas, Bücher im digitalen Zeitalter. Von der Gutenberg- in die Turing-Galaxis, in: Bluhm, Detlef (Hrsg.): Bücherdämmerung, aaO., S. 10-20, hier 12-13.