Spiritualität – mehr als ein Modewort

«Spiritualität ist etwas Gefühlvolles und für Frauen», meint ein Diskussionsteilnehmer an einem Abendvortrag. Das Publikum lacht, ist irgendwie peinlich berührt, aber weiteres Nachfragen führt zu keiner tiefer schürfenden Aussage. Wen wunderts, so inflationär wie das Wort Spiritualität heutzutage gebraucht wird! Alles Nicht-Zweckrationale, alles weder politisch noch ökonomisch Fassbare wird schnell einmal spirituell genannt. Mittels Spiritualität versuchen viele auch der Diesseitigkeit, all dem Abgemessenen und Machbaren der Alltagswelt zu entfliehen, in welche die säkulare und wissenschaftsgläubige Spätmoderne den Menschen eingeschlossen hat. Spiritualität ist aber auch eine Alternative zu Kirche und Christentum geworden, welche mit Traditionen und Institutionen assoziiert werden. Spiritualität ist die sanfte Rückkehr des Religiösen – und avanciert, mit etwas Psychologie vermischt, zur Lebenshilfe in einer deregulierten Welt.

Anders als bei konservativer oder gar fundamentalistischer Rückbesinnung auf Religion sind in der Spiritualität die Grenzen zur Esoterik hin fliessend und vor allem undogmatisch. Frauen werden davon tatsächlich mehr angesprochen als Männer. Diese finden eher via Ethik Zugang zu immateriellen Werten und einer neuen Lebenshaltung. Ethik und Spiritualität versprechen beide ein geistig-geistliches Fundament für eine Gesellschaft, die nach dem Abbruch der grossen Erzähltraditionen entwurzelt dasteht. Christinnen und Christen haben sich dabei zu fragen, ob dieses spirituelle Suchen dem Geist des Evangeliums entspricht, wie ihm zu begegnen ist und welche besonderen Akzente eine christliche Spiritualität setzen will.

Von Hans Urs von Balthasar eingeführter Begriff

Eigentlich ist Spiritualität im Deutschen ein relativ junges Wort. Vom Schweizer Theologen Hans Urs von Balthasar in den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts in die Kirchensprache eingeführt – das französische «spiritualité» oder das englische «spirituality» ist einiges älter –, hat es zuerst im Katholizismus und seit den siebziger Jahren auch in den reformatorischen Kirchen seinen Siegeszug angetreten. Neben Balthasar hat Karl Rahner das Wort stark geprägt, wobei es beide in unterschiedlicher Akzentsetzung anthropologisch und theologisch füllen: Als geistbegabtes Wesen ist der Mensch transzendenzoffen, also auf den Geist Gottes, den Spiritus Sanctus, hin. Ein spirituelles Leben wird dann als ein Leben verstanden, das sich bewusst durch das Wirken des Spiritus Sanctus formen und leiten lässt. Spiritualität ist eine Lebenstüchtigkeit, die im Umgang mit dem Wirken Gottes gewonnen wurde. Damit ist die Spiritualität theologisch der Pneumatologie zugeordnet und anthropologisch auf das ganze Leben bezogen, nicht nur auf ein geistliches Leben, das neben einem säkularen bestehen würde. Vielleicht hat früher Frömmigkeit oder «ein frommes Leben führen» das bezeichnet, was heute mit Spiritualität gemeint ist. So wäre sie denn eine neue Volksfrömmigkeit? Doch wer will heute schon fromm sein!? Das klingt verstaubt. Spirituell sein ist jedoch «in».

Zur Geschichte der Spiritualität

Auf die letzten Jahrzehnte blickend, kann in der Spiritualität von einer existenzialistischen und einer sozialen Welle in den fünfziger und sechziger Jahren gesprochen werden, die danach von einer psychologischen und schliesslich einer interreligiösen Welle überlagert wurden. Diese dauern bis heute an. Spiritualität hat es schon immer nur im Plural gegeben, also Spiritualitäten: die benediktinische, die franziskanische, die ignatianische usw. Früher vor allem in Orden und Klöstern praktiziert, wird sie heute zunehmend von der Pastoraltheologie mitreflektiert. Ein spirituelles Leben also steht zwischen christlicher Ethik und den Glaubensüberzeugungen, denen die systematische Theologie nachgeht.

Die hier gezeichnete, ursprünglich katholisch-monastische Tradition der Spiritualität lebt heute in den Kirchen auf. Viele Gläubige sehnen sich nach spirituellen Gottesdiensten und Predigten. Vor allem geistliche Zentren, seien es Bildungshäuser, Kirchen oder Wallfahrtsorte, haben grossen Zulauf. Doch die kirchliche Spiritualität, die eine existenzielle Vertiefung des Glaubenslebens darstellt, steht oft isoliert der gesamtgesellschaftlichen Spiritualitätsszene gegenüber, die sich nicht mehr um das Christliche kümmert. Die postmoderne, interreligiöse und esoterische Spiritualität gründet letztlich auch weniger in der katholischen Tradition als vielmehr in der ursprünglich protestantischen und angelsächsischen Gesellschaft. Seit der Romantik im 19. Jahrhundert haben sich da Spiritismus und eine Mystik verbreitet, die Phänomene des Religiösen in der Welt erforschen und erproben. Diese Tradition der Spiritualität ist naturwissenschaftlich, undogmatisch und a- bis antikirchlich eingestellt. Sie verträgt sich oft kaum mit der stärker geisteswissenschaftlich und historisch orientierten christlichen Spiritualität. Heute verbindet sich dieses Spiritualitätsverständnis gern mit geistlichen Strömungen, die aus Indien und dem fernen Asien kommen. Spiritualität ist hier ein allgemein menschliches Phänomen, und die christliche Spiritualität wird als dessen westlich-kulturelle Ausformung gesehen.

Die Heilige Schrift als Korrektiv

Müsste jedoch nicht der Geist der hebräischen Bibel und des Evangeliums für Christen auch kritische Instanz gegenüber dem spirituellen Suchen sein? Könnte dadurch nicht die Spiritualität, die sich so leicht von einem neoliberalen und postmodern privatisierenden Geist vereinnahmen lässt, um sozialkritische, gemeinschaftsbildende und ethische Aspekte bereichert werden? Christliche Spiritualität mit ihrer eigenen Verpflichtung gegenüber der biblischen Tradition ist auf jeden Fall zum Dialog aufgefordert.

Lebensformen von Spiritualität

Wenn ich frage, wie wir konkret Spiritualität leben können, stosse ich auf verschiedene Sozialformen geistlichen Lebens: Spiritualität in Form von geistlichen Übungswegen wie Exerzitien und Kontemplation oder Schweigekursen usw. ist für die einen der Inbegriff spirituellen Lebens, während andere dies als abgehoben empfinden. Umgekehrt sind Alltagsrituale, Sakramentalien, die Feiern des Kirchenjahrs oder auch kultivierte Gastfreundschaft für die einen lebensnahe Alltagsspiritualität, während andere darin religiöse Folklore sehen, die nicht genügend tief greift. Beide Spiritualitätsformen haben jedoch ihre Berechtigung und brauchen ihren Gestaltungsraum. Die geistlichen Schulen zeigen Wege auf, um an der Innerlichkeit zu arbeiten und die Psyche reinigend zu durchwirken, damit der Mensch von innen her frei und neu geboren wird. Die Spiritualität im Alltag begleitet das Zusammenleben und stellt Gefässe zur Verfügung, damit das Leben vor Gott gefeiert werden kann und der Heilige Geist in seinem Wirken erfahrbar wird.

Die spirituellen Schulen knüpfen an mystische Quellerfahrungen an, wo Gott in die Psyche und das Leben einzelner Menschen eingebrochen ist, und erschliessen sich diese. Die Rituale im Alltag begleiten den Menschen in den Übergängen des Lebens, des Jahres oder des Tages und lassen erfahrbar werden, wie letztlich das ganze Leben von Gott kommt. Die katholische Kirche hat sowohl geistliche Schulen, Klöster, Wallfahrtsorte und spirituelle Zentren, als auch für die Spiritualität im Alltag die Pfarreistruktur mit Kirchenjahr und Kasualien, die das Leben begleiten. Wer nicht beide Sozialformen der Spiritualität in ihrer je eigenen Bedeutung schätzen kann, dem fehlt katholische Weite.

Prophetische Spiritualität

Eine dritte Sozialform der Spiritualität entdecke ich dort, wo Gottes Geist angesichts sozialer Ungerechtigkeit zum Handeln bewegt. Die biblische Tradition hat eine besondere Sensibilität für Menschen, die benachteiligt sind oder sogar zu Opfern werden. Eine prophetische Spiritualität wird wach. Anders als die Mystik mit ihrem Geistwirken in der Seelentiefe des Menschen und anders als der schöpferische Geist, der den Lebenslauf begleitet, meldet sich hier die Stimme der Gerechtigkeit und spricht den Menschen als soziales Wesen an. Die feministische Spiritualität in den westlichen Ländern oder die Befreiungstheologie Südamerikas sind von diesem Geist geleitet. Auch Kunst und Literatur, oft von randständigen kreativen Existenzen hervorgebracht, können sich in einer impliziten oder expliziten Spiritualität äussern. Gerade die etablierte Religion wird dadurch immer wieder herausgefordert. Während sich die ephemere Mystik in spirituellen Schulen und Liturgie verewigt, entstehen aus den prophetischen Aufbrüchen soziale Strukturen, die Rahmenbedingungen schaffen, damit alle Menschen in Würde leben können. Die prophetische Spiritualität hat christlich gesehen ihre eigene Existenzberechtigung, auch wenn sie zuweilen als unangenehme Unruhestifterin erlebt wird. Angesichts der Globalisierungsverlierer hat sie eine besondere Aktualität.

Kritische Überprüfung der Spiritualität nötig

Überblicke ich so die unterschiedlichen Sozialformen von Spiritualität und die Vielfalt der inhaltlichen Akzentsetzungen, so kann ich der Aussage des Johannes-Evangeliums nur zustimmen: «Der Geist weht, wo er will» (3,8). Christliche Spiritualität sieht den Geist dort am Werk, wo das Gute, Wahre und Schöne gefördert wird und das Leben sich schöpferisch entfalten kann. Der Geist führt in die Freiheit, schreibt Paulus und zählt die spirituellen Gaben auf (Gal 5,13–26). Sind die Ungeister durch ihre Destruktivität, Gewalt und Enge davon leicht zu unterscheiden, so ist dies schwieriger bei einer Spiritualität, die ganz positiv auftritt, doch letztlich von Geld, Macht oder anderen Eigeninteressen geleitet ist. Dass der Eigengeist sich mitunter als «Lichtengel» verkleidet, ist der christlichen Tradition bewusst. Daher fordert sie die Unterscheidung der Geister. Diese Kunst ist in der gegenwärtigen Spiritualitätsszene notwendiger denn je. Eine Portion Selbstkritik tut allen gut, die sich in der sensiblen Welt seriöser Spiritualität bewegen.

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Kartografie des Schweizer Föderalismus

Christophe Koller u. a.: Staatsatlas. Kartografie des Schweizer Föderalismus [dt./fr.]. (Verlag Neue Zürcher Zeitung) 2012, 223 S., ill. [Die Karten basieren auf den BADAC-Daten.]

Politisch-geografische, statistische oder historische Angaben sind nicht nur für unser Staatswesen interessant und von Bedeutung, sondern auch für die Kirche. Deshalb lohnt sich auch aus kirchlicher Sicht ein vertiefter Blick in den neuartigen «Staatsatlas », der zu kartografischen Spaziergängen einlädt. Nicht neu ist der Nachweis bezüglich der konfessionellen Aufgliederung (S. 35), wohl aber andere Stichwörter: Gemeindefusionen, die Frage der Bevölkerungszusammensetzung (auch für Städte ausgewiesen), des Ausländerstimmrechts, Schulfragen wie HarmoS, soziale Fragen, Hinweise zur Finanz- und Steuerkraft usw. Vgl. Zusatzinfos über www.badac.ch (ufw)

 

Christian M. Rutishauser

Christian Rutishauser

P. Dr. Christian Rutishauser SJ ist Provinzial der Schweizer Jesuiten