Kirche im Wandel – Veränderungen in der religiösen Praxis

Eine der Kernaufgaben des Schweizerischen Pastoralsoziologischen Instituts in St. Gallen (SPI) ist die Erhebung, Zusammenstellung und Auswertung von kirchenstatistischem Datenmaterial. Die im November 2013 publizierte Kirchenstatistik1 präsentiert Fakten, Veränderungen und Entwicklungen zur katholischen Kirche der Schweiz. Das der Studie zu Grunde liegende Datenmaterial kann aufgrund einer vertieften Zusammenarbeit mit Pfarreien und Bistümern detaillierte Angaben zu den Veränderungen in der Religionslandschaft Schweiz liefern. Einige Ergebnisse dieser Studie werden in einer dreiteiligen Artikelreihe präsentiert und erläutert.

Der soziale Wandel, die zunehmende Individualisierung und Pluralisierung der Gesellschaft, stellt nicht nur für die römisch-katholische, sondern auch für die evangelisch-reformierte Kirche eine grosse Herausforderung dar. Nebst einem frappanten Rückgang der Gottesdienstbesucher, einer stetigen Zunahme von Kirchenaustritten und Nachwuchssorgen hat die Kirche mit einer massiven Veränderung in der religiösen Praxis zu kämpfen: Die Sakramente verlieren zunehmend an Bedeutung. Die folgenden Ausführungen befassen sich mit den Veränderungen im kirchlichen Leben und gehen detailliert auf die Feier der Kasualien, insbesondere auf den Bedeutungsverlust einzelner Sakramente ein. In zwei folgenden Artikeln in der SKZ wird es um Entwicklungen bei den Theologiestudierenden an Schweizer Universitäten sowie um die statistischen Trends bei den Ordensgemeinschaften gehen.

Zusammensetzung der Religionszugehörigkeit im Jahr 2012

In den letzten Jahrzehnten hat sich die Schweiz von einem bikonfessionellen zu einem multireligiösen Land gewandelt. Gehörte man früher fast «automatisch» einer der beiden Grosskirchen an, so hat sich dies heute grundlegend geändert: Immer mehr Menschen werden im Kindesalter nicht mehr getauft, und das Individuum gestaltet seine religiöse Biografie mit einem bisher nie dagewesenen Mass an Selbstbestimmung.

Die aktuelle Zusammensetzung der religiösen Landschaft der Schweiz im Jahr 2012 sieht wie folgt aus: Die grösste Gruppe machen mit 38,2 Prozent die Mitglieder der römisch-katholischen Kirche aus. 26,9 Prozent der Bevölkerung gehören den evangelisch-reformierten Kirchen an, 21,4 Prozent sind konfessionslos, und 5,7 Prozent gehören einer anderen christlichen Gemeinschaft an. 12,2 Prozent zählen sich zu einer anderen Religionsgemeinschaft.

Die markanteste Veränderung zeigt sich in der stetigen Zunahme von Konfessionslosen. Ihre Zahl hat sich zwischen 2000 und 2012 praktisch verdoppelt, und es scheint, als würde der Trend zur Konfessionslosigkeit fortgesetzt werden. Die Zunahme der Konfessionslosigkeit lässt sich nicht nur durch die Kirchenaustritte begründen, sondern auch durch die Tatsache, dass einerseits immer weniger Kinder getauft werden und andererseits der Anteil von Menschen ohne Religionszugehörigkeit ebenso bei Migranten aus den EU-EFTA-Staaten stark gestiegen ist.

Grafik: Religiöse Zugehörigkeit der ständigen Wohnbevölkerung ab 15 Jahren, 2012. Quelle: BFS. (s.pdf)

Der Wandlungsprozess der Kirche und die Aussagekraft von Zahlen

Die römisch-katholische Kirche befindet sich in einem Wandlungsprozess. Dies zeigt sich nicht nur an den zahlreichen Kirchenaustritten und der starken Zuwanderung von Menschen aus katholisch geprägten Ländern, sondern auch in der veränderten religiösen Praxis der Gläubigen. Besonders deutlich kommt das im starken Rückgang der Gottesdienstbesucher und in der Abnahme von kirchlichen Trauungen zum Ausdruck. Das Sakrament der Beichte ist vielerorts am Verschwinden. Hingegen weisen andere Merkmale des kirchlichen Lebens auch heute noch grosse Stabilität auf: Taufe, Erstkommunion und Firmung sowie die kirchliche Bestattung bleiben für viele Gläubige wichtig. Viele Menschen zeigen gerade bei den Eckpunkten des menschlichen Lebens, bei Geburt und Tod, immer noch ein starkes religiöses Bedürfnis, das in den bekannten kirchlichen Formen gestillt wird.

Die gesammelten Daten der Pfarreien und Bistümer geben Auskunft über die Entwicklung der Kirche der letzten Jahre und Jahrzehnte. Sie können die Basis für eine kritische Auseinandersetzung, aber auch für eine Neuorientierung sein. Beim Umgang mit Zahlen muss aber auch Vorsicht geboten sein, denn statistische Entwicklungen sind nur zahlenmässig eindeutig, ihre Interpretation und Deutung hingegen ist vielschichtig. Die Daten weisen teilwei- se auch Lücken auf, was die Langzeitentwicklungen und Vergleiche zwischen den Bistümern erschwert. Durch einen vereinheitlichten Fragebogen an die Pfarreien gewann die Datenerhebung an Qualität. So konnten ab 2011 auch für das Bistum Basel wieder verlässliche Daten aus den Pfarreien gewonnen werden. Trotz dieser Schwierigkeiten in der Datengewinnung können Langzeitentwicklungen und Veränderungen im kirchlichen Leben nachgezeichnet werden. Zum Vergleich wurden auch Statistiken zur evangelisch-reformierten Kirche herangezogen.

Grosse Umwälzungen im kirchlichen Leben

Die Feier der Kasualien nimmt im Leben der römisch- katholischen Kirche einen zentralen Platz ein. Sakramente sind oft mit grundlegenden Lebensveränderungen verbunden wie Geburt, Erwachsenwerden, Heirat oder Krankheit und Tod. Die sieben Sakramente sind Zeichen der Nähe Gottes in der Lebensgeschichte des Menschen. Die Praxis der Sakramente erfuhr in den letzten Jahrzehnten jedoch grosse Veränderungen.

Taufen und Bestattungen

Im Verhältnis zu den Geburten hat sich die Zahl der Taufen sowohl in der katholischen als auch in der evangelisch-reformierten Kirche deutlich verringert. In den letzten 15 Jahren hat die Zahl der Taufen in den Schweizer Bistümern um einen Fünftel abgenommen. Der Rückgang der Taufen im Bistum Chur fällt etwas geringer aus (10 Prozent) als in den anderen Bistümern (je 25 Prozent). Im Jahr 2012 wurden knapp 22 000 Personen römisch-katholisch getauft. Bei den evangelisch- reformierten Kirchen nahmen die Taufen noch stärker ab und machen heute einen Drittel weniger aus als noch vor 15 Jahren. Im Jahr 2012 gab es rund 14 600 reformierte Taufen. Die sinkenden Taufzahlen entsprechen der insgesamt gesunkenen Zahl bei Geburten. Hier ist die Entwicklung beinahe parallel – bei weniger Geburten erfolgen auch weniger Taufen. Auffällig ist jedoch, dass die Taufpraxis bei Kirchenmitgliedern nach wie vor stark verankert ist. Fast alle Kinder einer katholischen oder evangelisch-reformierten Mutter werden auch getauft. Erstmals liegen in den Schweizer Bistümern Zahlen zum Taufalter vor: Die meisten Kinder werden vor dem Ende des ersten Lebensjahres getauft. Unterschiede bestehen zwischen der Deutschschweiz und der Romandie: Bei Ersterer werden 85 Prozent der Kinder vor dem ersten Lebensjahr getauft, in der französischsprachigen Schweiz ist dies hingegen nur bei 63 Prozent der Fall.

Erstmalig liegen in der aktuellen Kirchenstatistik Daten der Bistümer zur kirchlichen Bestattung vor: Gut 23 000 Personen wurden im Jahr 2012 kirchlich beerdigt. Die Summe der katholischen Bestattungen liegt leicht höher als jene der Taufen. Hingegen ist der Unterschied bei den evangelisch-reformierten Kirchen deutlich grösser: Auf 14 600 reformierte Taufen kamen im Jahr 2012 25 700 Bestattungen. Dies ist vor allem auf die Altersstruktur der evangelisch-reformierten Kirche zurückzuführen; die reformierte Kirche ist stark überaltert.

Grafik: Katholische Taufen und Bestattungen nach Bistümern, 2012. Quelle: SPI, Pfarreierhebungen der Schweizer Bistümer; BFS, Eidgenössische Volkszählung 2011 (s. pdf)

Grafik: Reformierte Taufen und Bestattungen in der Schweiz (1950–2012). Quelle: Evangelisch-reformierte Kirchen der Schweiz (s. pdf)

Beichte und Versöhnungsfeiern

Das Beichtsakrament ist in den letzten Jahrzehnten stark eingebrochen. Die Bistümer Basel und Sitten erhoben Daten zur Beichtpraxis von Erwachsenen. Zusätzlich wurden im Bistum Basel auch Daten zu Versöhnungsfeiern erhoben. Im Bistum Basel wird, als Folge der fehlenden Nachfrage und wahrscheinlich auch aufgrund des Priestermangels, die Beichte oft nur noch an den grossen kirchlichen Festen oder gar nicht mehr angeboten. Nur noch 12 Prozent aller Pfarreien im Bistum Basel verfügen über ein wöchentliches Beichtangebot. Stattdessen werden zweimal jährlich Versöhnungsgottesdienste angeboten. Die Zahl der Teilnehmenden an Versöhnungsgottesdiensten ist fünfmal grösser als die Zahl der Einzelbeichten. Im Bistum Sitten sieht die Lage etwas anders aus: Knapp zwei Drittel aller Pfarreien bieten mindestens einmal im Monat Beichtzeiten an, andere sogar wöchentlich. Die Entwicklung der letzten Jahre zeigt, dass sich das Beichtangebot immer stärker auf einzelne Pfarreien konzentriert, die eine wichtige Funktion für eine Stadt oder Region wahrnehmen.

Gottesdienste und Gottesdienstbesuche

Durch die neue Pfarreierhebung liegen erstmals Zahlen zu den Gottesdiensten in den Schweizer Pfarreien wie auch in den anderssprachigen Missionen vor. In den Schweizer Pfarreien wird jede Woche rund 5500 Mal Eucharistie gefeiert, davon werden 2300 Messen am Sonntag gefeiert. Hinzu kommen am Sonntag noch ca. 300 Wortgottesfeiern, die nicht durch einen Priester, sondern von einem Pastoralassistenten, einer Pastoralassistentin oder einem Diakon geleitet werden. Mit der Wortgottesfeier ist meistens auch eine Kommunionspendung verbunden. In den Bistümern Basel und St. Gallen werden am häufigsten Wortgottesdienste gefeiert. In den Sprachmissionen wird pro Woche rund 550 Mal Eucharistie gefeiert. Das sind 10 Prozent aller Eucharistiefeiern.

Wird die Häufigkeit der wöchentlichen Gottesdienste in Beziehung zur Zahl der Kirchenmitglieder gesetzt, so zeigen sich zwischen den Kantonen grosse Unterschiede: Die dichteste Versorgung mit Gottesdiensten findet sich in den Kantonen Tessin, Graubünden, Glarus, Obwalden, Wallis und Uri. Besonders niedrig ist die Gottesdienstdichte in den Kantonen Baselland, Bern und Aargau. Die Erfahrungen in den Pfarreien und Schätzungen von Seelsorgenden zeigen, dass die Menschen heute dem Gottesdienst häufig fernbleiben. Nur noch knapp 12 Prozent der Katholiken geben an, wöchentlich einen Gottesdienst zu besuchen; bei den Reformierten sind es nur 5 Prozent.

Kirchliche Trauungen

Während die zivilen Eheschliessungen seit 1960 mit rund 42 000 Trauungen relativ stabil blieben – allerdings hat die Gesamtbevölkerung während dieser Zeit um beinahe 50 Prozent zugenommen –, sind die kirchlichen Trauungen in den letzten 15 Jahren stark eingebrochen. Annähernd 4600 Paare wurden im Jahr 2012 katholisch getraut. Die Zahl der römisch-katholischen Trauungen ist in den Bistümern Sitten, Lugano und St. Gallen, wo Langzeitdaten vorliegen, um mehr als 40 Prozent zurückgegangen. Einen vergleichbaren Einbruch erlebten auch die reformierten Trauungen. Die Langzeitdaten der evangelisch-reformierten Kirchen lassen sich bis 1960 zurückverfolgen: Damals wurden über 16 000 reformierte Paare kirchlich getraut – im Jahr 2012 waren es noch gut 4600 Paare.

Folgt der zivilen Eheschliessung auch eine kirchliche, so beträgt die Trauquote bei einem reformierten Paar noch fast 50 Prozent, während sie bei einem katholischen Paar nur noch einen knappen Drittel ausmacht. Ein Grund dafür ist, dass sich geschiedene Katholiken im Gegensatz zu den Reformierten kein zweites Mal kirchlich trauen lassen können. Anteilsmässig zugenommen haben die gemischtkonfessionellen Eheschliessungen, deren kirchliche Trauquote bei rund 30 Prozent liegt. Festzuhalten gilt aber, dass immer seltener einer zivilen Eheschliessung auch eine kirchliche Trauung folgt.

Veränderungen lassen sich auch bei der konfessionellen Zusammensetzung der katholischen und evangelisch-reformierten Trauungen feststellen: Bei mehr als 70 Prozent der katholischen Trauungen waren in den Jahren 2011/2012 beide Ehepartner katholisch. Zwischen den Bistümern lassen sich aber Unterschiede in der konfessionellen Zusammensetzung feststellen. In den stark katholisch geprägten Bistümern Lugano und Sitten sind heute noch bei über 80 Prozent der katholischen Trauungen beide Ehepartner katholisch. Die reformierten Trauungen, bei denen beide Ehepartner reformiert sind, haben deutlich an Boden verloren und sind von 86 Prozent im Jahr 1950 auf noch gut 56 Prozent im Jahr 2012 gesunken. Die Zahl der reformierten Trauungen ging zwischen 1997 und 2012 um 41 Prozent zurück. Diese Veränderung macht auch auf die Tatsache aufmerksam, dass die evangelisch-reformierten Kirchen nur noch in wenigen Kantonen eine Mehrheit bilden.

Firmung

Erstmals liegen schweizweit Daten zum Alter der Firmlinge vor. Es fällt auf, dass es kein einheitliches Firmalter gibt. Die grösste Gruppe, gut 44 Prozent, wird zwischen dem 7. und 9. Schuljahr gefirmt. Augenfällig ist, dass nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb der Bistümer grosse Unterschiede beim Firmalter bestehen. Insgesamt zeigt sich, dass sich die grosse Mehrheit der getauften Jugendlichen auch firmen lässt. Besonders hoch ist die Firmquote in den Bistümern Sitten und Lugano. Ein Blick in die Nachbarländer zeigt, dass die Firmquote in Österreich, ähnlich wie im Bistum Lugano, sehr hoch ist. Hingegen wird in Frankreich nur noch eine von zehn getauften Personen später auch gefirmt. Untenstehende Grafik zeigt die Firmquote und das durchschnittliche Firmalter in Schweizer Bistümern, dem Kanton Zürich und den Nachbarländern auf.

Grafik 3.3: F irmquoten in der Schweiz und den Nachbarländern (s. pdf)

Prognose

Es ist davon auszugehen, dass sich der Bedeutungsverlust der Sakramente und parallel dazu der Geltungsverlust der Grosskirchen als Ganzes fortsetzen werden. Pluralisierung und Individualisierung werden die Gesellschaft weiterhin prägen und verändern. Der Schrumpfungsprozess und der Bedeutungsverlust bieten aber auch die Chance, innerhalb der Kirche ein neues Selbstverständnis zu entwickeln, mit dem sich die Kirche als «Minderheitskirche» bewusster in die Gesellschaft einbringen könnte.

 

 

 

 

1 Schweizerisches Pastoralsoziologisches Institut, SPI (Hrsg.): Katholische Kirche in der Schweiz. Kirchenstatistik 2013. Zahlen, Fakten, Entwicklungen. (Edition SPI) St. Gallen 2013, 115 Seiten.

Judith Albisser (Bild: spi-stgallen.ch)

Judith Albisser

Judith Albisser ist wissenschaftliche Assistentin am Schweizerischen Pastoralsoziologischen Institut in St. Gallen