Spiritualität in gottferner Zeit

Marienquelle in der Kirche der Heimsuchung Marias in Ein Karem (ISR). (Bild: Luis Varandas)

 

Hat sich Ihre Gebetspraxis seit Beginn der Corona-Pandemie intensiviert? Wenn ja, dann sind Sie im globalen Trend. In einer Studie konnte die dänische Ökonomin Jeanet Sinding Bentzen nämlich zeigen, dass im März 2020 die Google-Suchaktivitäten nach Gebeten weltweit um 50 Prozent gestiegen sind. Die tatsächliche Zunahme der Gebetshäufigkeit, so vermutet sie, dürfte noch weit grösser sein. Da nicht nur an Feiertagen eine deutliche Zunahme solcher Suchaktivitäten zu beobachten war, geht Bentzen davon aus, dass das Hauptmotiv nicht die fehlende Möglichkeit war, an einem Gottesdienst teilzunehmen. Sie vermutet vielmehr, dass die deutlich erhöhte Suche nach Gebetsvorlagen darauf hinweist, dass gegenwärtig Millionen von Menschen weltweit im persönlichen Gebet einen Umgang mit der pandemiebedingten eigenen und fremden Not finden.

Potenzial eines Medienwechsels

Bentzens Studie weist nicht allein auf eine Intensivierung des Betens hin, sondern auch auf eine Veränderung der Gebetspraxis – auf deren Digitalisierung. Waren über Jahrhunderte Bücher, Ikonen und Andachtsbilder die Medien, die betende Menschen sich zu Nutzen machten, so ist es seit einigen Jahren zunehmend das Internet, das an die Seite dieser altvertrauten Medien tritt und sie in sich absorbiert. Persönliches und gemeinschaftliches Beten findet immer häufiger online statt, unterstützt von Bildern und Texten und in mehr oder weniger interaktiven Formen. Zu den interaktiven Varianten gehört etwa die «Click to Pray»-App, die inzwischen auch Papst Franziskus «nutzt». Das erhebliche Potenzial, das dieser Medienwechsel in sich bergen dürfte, zeigt sich durch die längst noch nicht überstandene Pandemie in besonders deutlicher Weise. Digitale Kommunikation, Live-Stream-Gottesdienste, Online-Gebetsforen und digital vermittelte Segensworte waren und sind wertvolle Mittel gegen die pandemiebedingte Vereinzelung und Isolation. Seelsorgende berichten von Situationen, in denen es Familienmitgliedern nur dank digitaler Technologie möglich war, betend am Totenbett eines nahen Angehörigen «präsent» zu sein.

Neue Formen, neue Fragen

Was gegenwärtig als Notlösung für Krisenzeiten erscheint, könnte in Zukunft einmal als tiefgreifender Medienwandel in der Spiritualitätsgeschichte erscheinen. Ermöglicht doch die Digitalisierung Gebetserfahrungen, die bislang undenkbar waren. Sie macht die weltumspannende Gebetsgemeinschaft – und letztlich die Kirche – auf neue Weise erfahrbar. Ein Beispiel dafür ist die geistige Kommunion per Live-Stream. Selbst wenn dafür auf alte Gebete zurückgegriffen wird, ist die Form doch grundlegend neu. Die Realpräsenz wird digital und per Bildschirm vermittelt – (beinahe) in Echtzeit, doch aus der Distanz. Plötzlich ist es möglich, auf der arabischen Halbinsel vor einer Monstranz niederzuknien, die in einer Kirche in den USA ausgesetzt wurde. Eine in Dubai tätige Frau drückt ihre Dankbarkeit dafür in einem online geposteten Kommentar so aus: «Sie haben keine Ahnung, wie überaus freudig und tröstlich Ihr Dienst ist, uns hier ein Live-Bild des Allerheiligsten Sakraments übers Internet zu bringen.»

Um einen tiefgreifenden Wandel handelt es sich, weil sich mit dem Medium unweigerlich auch Form und Inhalte wandeln – was zahlreiche gebetspraktische und gebetstheologische Fragen aufwirft. In ihrer wegweisenden Studie @Worship nennt die Liturgiewissenschaftlerin Teresa Berger einige von ihnen: «Wie findet eine betende Begegnung mit Gott statt, wenn diese digital vermittelt wird? Wer gehört im Cyberspace zu der Ecclesia orans, der Kirche im Gebet? Was bedeutet es, online präsent zu sein? Was sind die Kennzeichen einer aktiven Teilnahme im digitalen Sakralraum? Und wie stellt man sich die Vermittlung von Gnade in und durch digitale Medien vor?»

Und wie bedeutsam ist es, bei digital aufgezeichneten Gottesdiensten wirklich live dabei zu sein – und nicht, zeitlich verzögert, per Podcast mitzufeiern? Kann man einen Gottesdienst mitfeiern, der schon der Vergangenheit angehört? Und wie steht es mit der Leiblichkeit und Sinnlichkeit des digitalen Betens? Die Fragen sind alles andere als trivial und fordern die Theologie und kirchliche Praxis zu neuen Antworten heraus. So ist etwa die Unterscheidung zwischen «realen» und «virtuellen» Gebetsräumen keineswegs so klar, wie sie auf den ersten Blick erscheint. In welchem Raum befinde ich mich, wenn ich per Live-Streaming an einem Gottesdienst teilnehme? Offenbar nicht nur in einem virtuellen Raum. Die Kommunikationsforschung spricht hier von «synthetischen Situationen». Solche entstehen auch durch Grossleinwandprojektionen, wie sie bei Open-Airs, sportlichen Veranstaltungen und grossen Papstmessen längst üblich sind. In ihnen wird die sinnlich zugängliche Wirklichkeit medial erweitert. Doch was ist daran neu? War es nicht immer schon so, wo Menschen in einer ikonengeschmückten Kirche oder mit einem illuminierten Stundenbuch in der Hand gebetet haben?

Durchlässiges Netz

Digitales Beten erfordert individuelle und gemeinschaftliche Lernprozesse. Experimentierfreudigkeit ist unumgänglich, damit sich zeigen kann, was betende Kommunikation intensiviert und was sie verflacht; was sammelt und Gemeinschaft stiftet und was vereinzelt und zerstreut. Digitales Beten wird das kirchliche Leben verändern, denn es schafft neue Zugehörigkeiten. Im Netz sind Gebetsgemeinschaften durchlässiger. Virtuelle Gebetsräume sind für Kirchenferne wie Kirchennahe gleichermassen zugänglich. Wir können per Klick diskret in sie eintreten und auf Gemeinschaften und Praktiken treffen, die wir sonst nie kennengelernt hätten.

Simon Peng-Keller

 

 

 


Simon Peng-Keller

Prof. Dr. Simon Peng-Keller (Jg. 1969) studierte Katholische Theologie in Freiburg i. Ue. und Luzern. Er ist seit 2015 Professor für Spiritual Care an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich sowie Dozent für Theologie des geistlichen Lebens an der Theologischen Hochschule Chur.
(Bild: Frank Brüderli)