Spiritual Care und kirchliche Seelsorge

Die Ergebnisse des Nationalen Forschungsprogramms «Lebensende» weisen auf neue Aufgabenbereiche für die Seelsorge hin.

Podiumsdiskussion an der Abschlussveranstaltung zum NFP 67 vom 21. Nov. 2017 (Quelle: www.nfp67.ch)

Die Ergebnisse des Nationalen Forschungsprogramms 67 «Lebensende» (NFP 67) belegen die Bedeutung der Palliative Care für eine angemessene Begleitung von Menschen am Lebensende. Die «Sorge um den ganzen Menschen» beinhaltet auch die Wahrnehmung spiritueller Bedürfnisse. Was folgt aus den Resultaten für die Tätigkeit der Kirchen in der Schweiz?

Fünf Jahre lang wurde im Rahmen des NFP 67 zum Thema «Lebensende» geforscht. Beteiligt waren über 200 Forscher aus unterschiedlichen Disziplinen, darunter – neben Juristinnen, Ärzten, Pflegenden, Soziologinnen, Ökonomen, Sozialarbeiterinnen, Hebammen u. a. – auch Theologinnen und Religionswissenschaftler. Die wichtigsten Ergebnisse aus den insgesamt 33 Forschungsprojekten wurden kürzlich in einem Synthesebericht zusammengefasst (www.nfp67.ch). Hier heisst es am Schluss der Zusammenfassung: «Am Lebensende stellen sich Sinnfragen, die sonst oft ausgeblendet werden. Während Deutungen von Sterben und Tod durch die christlichen Kirchen an Plausibilität eingebüsst haben, werden spirituelle Bedürfnisse nach wie vor geäussert, spielen häufig eine wichtige Rolle für die Betroffenen und sollten vom Umfeld entsprechend wahr- und ernstgenommen werden. (...) ‹Alternative Religiosität› nimmt zu, herkömmliche Ideale des guten Sterbens werden durch neue Vorstellungen und spirituelle Praktiken ersetzt. (...) Das Ideal der Selbstbestimmung führt zum Anspruch, das eigene Sterben spirituell zu gestalten und zu bewältigen.» Was genau hat sich gezeigt und was könnten diese Ergebnisse für die Tätigkeit der christlichen Kirchen in der Schweiz bedeuten?

Herausforderungen am Lebensende

Zunächst ist hervorzuheben, dass neben Einsichten zur Spiritual Care eine Reihe weiterer Resultate des NFP 67 für das Selbstverständnis und die Tätigkeit der Kirchen von Bedeutung sind. Wenn pflegende Angehörige aufgrund der vielen alltäglichen Aufgaben, die sie zu bewältigen haben, überfordert sind und dies zu unnötigen Spitaleinweisungen führt (Projekt Sottas), wenn überdies Angehörige die Sterbebegleitung nicht mit ihrer Berufstätigkeit vereinbaren können (Projekt Berthod), ist das auch bedeutend für die kirchliche Seelsorge. Einblicke in den Sterbealltag und die Herausforderungen am Lebensende bei Personen mit geistiger Behinderung (Projekt Wicki), bei Menschen in Haft (Projekt Hostettler), bei Menschen mit einer Demenz (Projekt Wolf), bei extrem Frühgeborenen an der Grenze zur Lebensfähigkeit (Projekte Berger und Fauchère) oder bei Kindern mit lebensbedrohlichen Erkrankungen (Projekt Elger) eröffnen Erkenntnisse und Einsichten, die ebenfalls für die heutige Seelsorge wichtig sein können: Sei dies, weil Seelsorger in ihrer Arbeit mit diesen Sterbenden und ihren Angehörigen konfrontiert werden, sei es, dass sie aufgrund der Beschäftigung mit den Forschungsergebnissen neue Aufgabenbereiche für die Seelsorge entdecken. Dass Menschen in Haft heute durchaus ein hohes Alter erreichen und sterben können, ist beispielsweise ein neues Phänomen, auf das die Haftanstalten noch weitgehend unvorbereitet sind.


Erkundung von Sterbenarrativen

Relevant für die kirchliche Arbeit und die Begleitung von Menschen am Lebensende sind zudem Erkenntnisse, welche die Erforschung von Sterbewünschen von Menschen am Lebensende ergeben hat (Projekte Monod und Gudat). Die Erkundung von Sterbenarrativen – von Geschichten, die Sterbende von sich selbst erzählen, um ihre Situation verständlich zu machen – beispielsweise macht offenbar, dass zwei Aspekte besonders häufig erwähnt werden: zum einen das Ideal, das eigene Sterben akzeptieren zu können, zum andern das negative Gefühl, für andere eine Belastung zu sein. Die hermeneutische Analyse dieser Erzählelemente zeigt, dass diese je nach Situation von den Betroffenen sehr unterschiedlich verstanden werden. Das Ideal, das eigene Sterben zu akzeptieren, kann Teil einer Bewältigungsstrategie sein, Ausdruck einer moralischen oder spirituellen Vorstellung oder auch einfach Ausdruck einer persönlichen Einstellung zum Leben und zum Schicksal. Das Gefühl, für andere eine Last zu sein, kann ebenfalls sehr Verschiedenes zum Ausdruck bringen. Meist sind Gefühle wie Scham, Ärger und Selbsthass damit verbunden, aber durchaus auch die Sorge um das Wohl der anderen Menschen, die vielleicht überfordert sind mit der Pflege ihrer sterbenden Angehörigen. Auch wenn es hier nicht unmittelbar um spirituelle Fragen geht, können diese Beobachtungen und Deutungen auch für die Spitalseelsorge zu einer Quelle von Inspiration und Anregung werden.

Spiritualität und alternative Religiosität

Spirituelle oder existenzielle Aspekte des Sterbens waren unmittelbar Thema in drei Forschungsprojekten. Dabei ging es um drei Themen, die aus drei unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven und auf drei sehr unterschiedliche Weisen erkundet wurden: Erstens wurde nach dem Lebenssinn, der Spiritualität und den Wertvorstellungen von Sterbenden geforscht (Projekt Borasio): Hier haben klinisch tätige Ärzte aus den drei Landesteilen der Schweiz rund 200 Sterbende befragt, um herauszufinden, ob und, wenn ja, inwieweit ihnen spirituelle und existenzielle Aspekte in ihrer Lebenssituation wichtig sind. Zweitens wurden alternative Religiosität und deren Bedeutung am Lebensende erkundet (Projekt Lüddeckens): In diesem Projekt haben Religionswissenschaftler im Alltag von Institutionen, in denen gestorben wird, mit Sterbenden, Pflegefachkräften, Ärzten, Psychologen und Seelsorgern Interviews geführt, um der Bedeutung sogenannter alternativer religiöser Praktiken im Sterben auf die Spur zu kommen. Drittens wurden das bildhafte Erleben und die Kommunikation des Vertrauens am Lebensende erkundet (Projekt Bühler): Hier haben Theologen zusammen mit Fachleuten anderer Disziplinen Bilder, Träume und Wachvisionen Sterbender erforscht und danach gefragt, welche Bedeutung diese im Sterben haben. Im Rahmen dieses Projekts wurde auch eine Befragung unter Spitalseelsorgenden durchgeführt und ausgewertet.

Bedeutung spirituellen Wohlbefindens

Die Vielfalt der Ergebnisse lässt sich nicht in wenigen Zeilen zusammenfassen (nähere Angaben sind online unter www.nfp67.ch zu finden), daher exemplarisch nur so viel: Es bestätigte sich, dass das sogenannte spirituelle Wohlbefinden bzw. die spirituelle Not einen bedeutenden Einfluss auf das Erleben der letzten Lebensphase hat und daher beachtet werden sollte. Überdies wurde klar, dass viele Menschen heute ihre je eigenen spirituellen Ausdrucksformen entwickelt haben, die vielfach jenseits der traditionellen kirchlichen stehen und die nur selten offen angesprochen werden können oder dürfen. Bildhaftes Erleben – so eine Grundeinsicht aus dem dritten erwähnten Projekt – kann während des Sterbens enorm hilfreich sein zur Selbstdeutung und Selbstorientierung; wesentlich ist, dass andere Menschen sensibel darauf reagieren, Räume dafür schaffen und die Erfahrungen nicht vorschnell pathologisieren.

Mit Blick auf das eingangs zitierte Phänomen der zurückgehenden Plausibilität kirchlicher Deutungen von Sterben und Tod und der Zunahme alternativer Religiosität drängen sich zwei Beobachtungen auf und liegen zwei Schlussfolgerungen nahe: Erstens zeigt das theologisch inspirierte Projekt, wie wesentlich im Sterben elementare Erfahrungen werden, die weitgehend unabhängig von christlichen oder anderen Traditionen von zentraler Bedeutung sind. Zweitens belegen alle Untersuchungen zur Spiritual Care, wie wichtig das Eingehen auf diese existenzielle Dimension im Sterben ist. Daraus ergibt sich zum einen, dass im Rahmen der kirchlichen Seelsorge heute wichtige Arbeit geleistet wird, und zum andern, dass sich die kirchlich gebundene Seelsorge öffnen sollte für die unterschiedlichsten Anliegen, Bedürfnisse und Ausdrucksformen, die heute als «alternative Religiosität» bezeichnet werden und lebendig sind.


Markus Zimmermann


Markus Zimmermann

Prof. Dr. Markus Zimmermann (Jg. 1962) studierte in Frankfurt a. M. und Freiburg, war Pastoralassistent in Bern, Kantonsschullehrer in Willisau, Lehr- und Forschungsbeauftragter an der Universität Luzern und ist seit 2010 Lehr- und Forschungsrat – seit 2014 zudem Titularprofessor – für christliche Sozialethik an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg  i. Ü. Seit 2024 ist er Präsident der Nationalen Ethikkommission Humanmedizin (NEK).