Selbstbestimmt und würdevoll sterben

Selbstbestimmung ist eine zentrale menschliche Fähigkeit. Sie gelangt in einer Beziehung der wechselseitigen Anerkennung zur vollen Entfaltung und ermöglicht so ein würdevolles Sterben.

Die gegenwärtigen Debatten zum Lebensende betonen den Wert der Selbstbestimmung. Aus christlicher Sicht ist es richtig, selbstbestimmt palliative Betreuung zu wünschen oder in einer Patientenverfügung auf lebenserhaltende Massnahmen zu verzichten. Problematisch und m. E. mit einem christlichen Menschenbild nicht vereinbar ist jedoch die bewusst intendierte Herbeiführung des Todes durch ein entsprechendes Mittel, wie es bei der Tötung auf Verlangen und der Suizidbeihilfe geschieht. Diesbezüglich sind drei Punkte zu erläutern: Erstens basiert die Selbstbestimmung auf dem Faktum, dass die Daseinsberechtigung jedes Menschen ungeschuldet ist. Zweitens darf Selbstbestimmung nicht mit Autonomie verwechselt werden. Drittens erfolgt die Selbstbestimmung immer auf das Ziel hin, die eigene Einsamkeit zu überwinden und wechselseitige Anerkennung zu fördern. Aus diesen Punkten wird ersichtlich, dass der christliche Glaube den Menschen in seiner Autonomie bestätigt und zur Selbstbestimmung befreit. Das Lebensende und das Sterben erfolgen damit in Würde.

Gerechtfertigte Existenz jedes Menschen

Kein Mensch bestimmt den Ort und Zeitpunkt seiner Geburt selbst. Vielmehr findet er sich plötzlich in der Welt vor. Aus theologischer Sicht gilt es zu unterstreichen, dass jeder Mensch von Gott gewollt ist. Alleine deshalb ist seine Existenz stets gerechtfertigt. Ansonsten wäre allen Menschen die Last der Selbstrechtfertigung aufgegeben. Dietrich Bonhoeffer formulierte präzise: «Dass Gott der Schöpfer, Erhalter und Erlöser des Lebens ist, macht auch das armseligste Leben vor Gott lebenswert. [...] Wo sollte auch, ausser in Gott, der Massstab für den letzten Wert eines Lebens liegen?»1 Deshalb ist der Suizid für Bonhoeffer «höchste Selbstrechtfertigung»2 und darum Sünde, weil der Suizident nicht an die Rechtfertigung durch Gott glaubt.3 Gott ist der Richter über die Lebensdauer jedes Menschen. Diese Einsicht widerspricht der Behauptung, Gott überlasse es der menschlichen Vernunft, über den eigenen Todeszeitpunkt zu bestimmen.4 Diese (Fehl-)Argumentation führt in den unausweichlichen Zirkel, das eigene Dasein stets neu begründen zu müssen. Konsequent wäre es dann sogar eine Sünde, weiterleben zu wollen, wenn die Lebensumstände dies als unvernünftig erscheinen liessen. Aber was wären verallgemeinerbare Gründe, um den Unwert eines Lebens zu bestimmen? In der ganzen biblischen Botschaft gibt es keine Situation, in der jemandem der Suizid empfohlen wird. Auch ein hoher finanzieller Aufwand für die Pflege oder eine zeitliche Belastung der Familie bilden keine überzeugenden Argumente für die Selbsttötung.5
Umgekehrt kann gerade die selbstbestimmte Annahme eines mühseligen Sterbens ein starkes Zeugnis für den Wert jedes Lebens sein. Die Bestimmung, die eigene Lebenszeit Gott zu überlassen, ist Realisierung der Taufgnade, Tochter oder Sohn Gottes zu sein. Wer in der Taufe mit Christus gestorben und auferstanden ist, ist auf einen lebenslangen Weg der Hoffnung eingeladen. Dieser Weg zur endzeitlichen Erlösung ist aber stets von der Passion und der Auferstehung Jesu Christi geprägt. Gerade in der heutigen Zeit, in der viele Getaufte Mühe mit der Botschaft des gekreuzigten Erlösers haben, ist die Bezeugung der österlichen Hoffnung ein umso wichtigerer Bestandteil des christlichen Lebens. Dass dies auch das Leiden beinhaltet, sagt bereits Jesus in seinem Aufruf zur Nachfolge (vgl. Mk 8,34 par) und zeigt das Beispiel unzähliger Märtyrer.

Selbstbestimmung und Autonomie

Selbstbestimmung ist nicht dasselbe wie Autonomie.6 Der Begriff Autonomie meint in der ursprünglichen Verwendung eine Stadt, die zwar nicht frei ist, sich jedoch die Gesetze selbst gibt. Von einer personalen Autonomie kann erst ab der Aufklärung gesprochen werden. Nach Immanuel Kant unterstellt sich das moralische Selbst dem Gesetz der Vernunft, das kategorisch die Verallgemeinerbarkeit der eigenen Handlungen befiehlt. Dieser Imperativ fasst der französische Philosoph Paul Ricœur im biblischen Gebot zusammen, seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst.7 Ein Gesetz ist also immer auf die Beziehung mit anderen Menschen ausgerichtet. Wer sich selbst genügt, braucht kein Gesetz. Er kann tun und lassen, was er will. Ein solches willkürliches Handeln führt aber zu Absonderung und macht einsam. Damit realisiert sich die menschliche Urangst, unverstanden und verlassen zu sein. Denn der Mensch ist auf Beziehung hin geschaffen. So liegt bereits für Aristoteles das höchste anzustrebende Glück in der Freundschaft.8 Thomas v. Aquin nimmt diesen Gedanken auf und bestimmt auf der Basis der biblischen Offenbarung als Ziel des menschlichen Lebens die Gemeinschaft mit Gott. Diese Gemeinschaft ist eine personale Begegnung, die als Freundschaft verstanden werden muss.9

Idealistisch sollte deshalb jedes Gesetz der Freundschaft zwischen Gott und dem Menschen dienen. Realistisch sollte die staatliche Legislative zumindest das friedvolle Zusammenleben der Menschen ermöglichen. Auf der persönlichen Ebene lässt sich der Sinn der personalen Autonomie kaum besser definieren, als sich das Gesetz zu geben, im eigenen Handeln Freundschaft zu ermöglichen. In der Folge bestimmt das Selbst, wie dieses Gesetz in das konkrete Leben übertragen wird. Als unverlierbare Grundeigenschaft richtet die Autonomie den Menschen auf andere Menschen aus, auch wenn die Fähigkeit der Selbstbestimmung nicht in allen Lebensphasen aktual vorhanden ist. Hier gilt es, die Autonomie dieses Selbst achtungsvoll anzuerkennen und ihr beim Überwinden ihrer Einsamkeit beizustehen, weil sie das Ebenbild der eigenen Autonomie ist.

Überwindung der Einsamkeit

Der innere Beweggrund des autonomen Strebens, die eigene Einsamkeit zu überwinden, ist jedem Menschen eigen und deshalb auf Wechselseitigkeit angelegt. Konkret nimmt der Mensch in der Begegnung mit dem anderen die eigene Armut wahr. Damit erfolgt mit Paul Ricœur eine Beziehung, die potenzielle Asymmetrien (z. B. das Verhältnis Ärztin – Patientin) überwindet und zur vollen Anerkennung des anderen und des eigenen Selbst führt. Die Selbstständigkeit zu verlieren und auf Pflege angewiesen zu sein, empfinden heutzutage viele Menschen als unwürdig. Eine solche Sichtweise blendet jedoch aus, dass auch die Beziehung zwischen Patient und Ärztin auf Wechselseitigkeit hinzielt. Durch die Annahme der Pflege ermöglicht der Patient der Ärztin erst die Sinnerfüllung in ihrem Beruf. Damit trägt der Patient dazu bei, dass sich die Ärztin selbst schätzen lernt. Sie erkennt im Patienten ihre eigene Fragilität. In der Hoffnung, dass auch ihre Zerbrechlichkeit angenommen und getragen werden kann, schenkt sie dem Patienten im pflegerischen Handeln ihre Achtung. Das fördert wiederum die Selbstschätzung des Patienten. In diesem wechselseitigen Austausch werden beide Personen immer mehr zu dem, was sie sein sollen: Menschen, die ihre eigene Einsamkeit auf den anderen hin überwinden und Raum für eine Gemeinschaft der gegenseitigen Anerkennung schaffen.

In den Fragen rund um die Selbstbestimmung am Lebensende ist der Weg der palliativen Betreuung vorzuschlagen, um die wechselseitige Anerkennung bis zum letzten Atemzug zu fördern. Die Suizidbeihilfe und die Tötung auf Verlangen zementieren hingegen das ungleiche Verhältnis. Der Sterbewillige wird seiner Einsamkeit überlassen, indem sein Leben als nicht mehr lebenswert bestätigt wird. Die Selbstschätzung bleibt ihm versagt. Er erhält keine Möglichkeit, die andere Person in ihrer Bedürftigkeit anerkennend zu achten.

Die eigentliche Anerkennung jeder Person erfolgt in der unbedingten Annahme durch Gott. Dabei zeigt die Erniedrigung Gottes in der Menschwerdung seines Sohnes, dass er dem Menschen auf Augenhöhe begegnen will.9 Diese Begegnung richtet den Menschen auf und macht ihn frei, sich selbst auf diese letzte Beziehung hin zu bestimmen oder nicht. Im Kreuzestod Jesu erfährt die gläubige Person die eigene Fragilität als angenommen in einem Bund der wechselseitigen Liebe, in dem nicht die Leistung, sondern das Dasein zählt. Darin findet sich auch ein schwieriges Sterben gehalten und öffnet den Raum für die Freundschaft mit Gott und den Mitmenschen. Die Selbstbestimmung erlangt so ihren vollen Sinn und ihre Würde.


Stefan Buchs

1 Bonhoeffer, D., Ethik, in: Tödt, I. u. a. (Hg.), Schriften, Gütersloh 1998, S. 188.
2 Ebd., S. 193.
3 Vgl. ebd., S. 194.
4 Diese Überlegung findet sich nicht erst bei zeitgenössischen Theologen (wie den belgischen Broeders van Liefde), sondern bereits bei D. Hume, Essays on Suicide and the Immortality of the Soul, Bristol, England 1992, S. 1–22 (On suicide).
5 Philosophen wie J. Hardwig oder D. R. Cooley sind der Ansicht, dass es in bestimmten Situationen aus moralischer Sicht die Pflicht gibt, sich umzubringen.
6 Vgl. dazu Beckmann, J. P., Autonomie und Selbstbestimmung auch am Lebensende. Überlegungen aus ethischer Sicht, in: Welsh, C. u. a. (Hg.), Autonomie und Menschenrechte am Lebensende. Grundlagen, Erfahrungen, Reflexionen aus der Praxis, Bielefeld 2017, S. 27–43.
7 Vgl. Ricœur, P., Das Selbst als ein Anderer, München 2005, S. 265 f.
8 Vgl. Aristoteles, Die Nikomachische Ethik. Griechisch – Deutsch, Düsseldorf 2007, VIII.
9 Vgl. insb. S. th. II–II q. 23,1.


Stefan Buchs

Dr. theol. des. Stefan Buchs (Jg. 1982) ist Priester des Bistums Basel. Nach dem Studium der Theologie in Luzern und Rom arbeitete er mehrere Jahre in der Pfarrei. 2017 promovierte er im Fach Moraltheologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. zum Thema «Ärzteethos und Suizidbeihilfe». Seit 2017 lebt und arbeitet er mit der Gemeinschaft Chemin Neuf in Frankreich.