«Sonst ist die Chance vertan»

Rund 38 Prozent der Schweizer Katholikinnen und Katholiken haben einen Migrationshintergrund. Das Miteinander von verschiedenen Kulturen ist nicht immer einfach und muss (in den Pfarreien) noch eingeübt werden.

Prof. Dr. Patrick Renz (Jg. 1965) arbeitete als Betriebswirtschafter in 40 Ländern, u. a. als Direktor von Fastenopfer. Von 2017 bis März 2019 war er National­direktor von «migratio». (Bild: rs)

 

SKZ: Wie sehen Sie als ehemaliger Nationaldirektor von migratio die Kirche Schweiz?
Patrick Renz: Es wird oft verkannt, dass die katholische Kirche keine homogene Einheit ist. Sie ist Vielfalt «par excellence». Pfingsten bringt diese Vielfalt und die für die katholische Kirche konstitutive Einheit in der Vielfalt prägend zum Ausdruck. Ich glaube, dass wir in der Schweiz, besonders im Zusammenhang mit den Migrationsgemeinden, den Blick für die Vielfalt, die Toleranz und die Begeisterung, ein «Sich-entzünden-lassen» ein wenig verloren haben. Wenn wir dahin gelangen könnten, wäre dies Kirche schlechthin.

Wie können wir wieder zu einer pfingstlichen Kirche werden?
Ich rufe zu einem Paradigmenwechsel auf. Wir nehmen Unterschiede zwischen Ortspfarreien und anderssprachigen Gemeinden wahr: Dinge, die uns ängstigen, einengen oder einfach anders sind. Was, wenn wir bei einem aufkommenden Unbehagen uns einen Impuls der Neugierde antrainieren würden? Wir könnten denken: «Aber sie sind doch auch gläubig, sogar katholisch. Ihre Welt könnte mich vielleicht bereichern.» Wenn wir nur schon wahrnehmen, was in Migrationsgemeinden alles läuft, wird es hoch spannend. Ich bin fest davon überzeugt, dass dies angesichts der Säkularisierung eine, wenn nicht sogar die Chance für die Kirche in der Schweiz ist. Die Chance nämlich, im Glauben, in der Spiritualität, in der Katholizität zu wachsen. Denn die grosse Mehrheit der in die Schweiz migrierenden Menschen sind Christen und (noch) gläubig. In 20 bis 30 Jahren wird diese Chance nicht mehr da sein. Die heutigen Generationen müssen sich in vermehrtem Miteinander bei gleichzeitig respektvollerem Nebeneinander bereichern können, sonst ist die Chance vertan.

Es scheint, dass die meisten Gläubigen mit der aktuellen Situation zufrieden sind.
Wirklich? Gegen aussen vielleicht schon. Ich glaube aber, dass der Leidensdruck wächst: Die abnehmende Zahl von Kirchgängern und eine damit verbundene Zukunftsangst, Nachwuchsmangel, die Frage, wie wir wieder Leben in die Kirche hineinbringen können, reale finanzielle Herausforderungen sowie auf der «Stufe der Profis» eine Finanz- und Strukturdominanz. Organisatorisch gesprochen befinden wir uns in einer Organisationsentwicklung oder einem Entwicklungsprozess. Die Frage ist: Wie gelingt es, die Gläubigen, die Ortspfarreien und anderssprachigen Gemeinden herauszukitzeln, sodass sie bewusst und gewollt zu einem neuen Miteinander finden?

Meistens fusioniert aber eine Ortspfarrei mit einer Nachbarpfarrei, statt sich mit der anderssprachigen Gemeinde zusammenzuschliessen.
Glücklicherweise werden die anderssprachigen Gemeinden zunehmend einbezogen. Es gibt ganz spannende Modelle, die gut funktionieren. Modelle, die aber auch zeigen, dass es Zeit braucht. Als Beispiel Renens-Bussigny: Das Pastoralteam besteht aus vier Priestern, die alle je drei Sprachen sprechen und zusammen vier Gemeinden in vier Sprachen betreuen. Sie sind alle gemeinsam zuständig, planen alles miteinander, sprechen sich ab. Seit Jahren gab es zum Beispiel eine Prozession der portugiesisch sprechenden Gläubigen, die auch unter dem neuen Pastoralteam weitergeführt wurde. Nach einem Jahr kam aus den Gemeinden die Anfrage, ob es nicht auch eine Fürbitte auf Französisch geben könnte. Im nächsten Jahr kam die Anfrage für eine Fürbitte auf Spanisch und im vierten Jahr für eine auf Kroatisch. Es hat vier oder fünf Jahre gebraucht, um einen Brauch, der von einer Sprachfamilie herrührte, so weiterzuentwickeln, dass er für alle stimmt. Das Beispiel zeigt sehr schön, dass die Entwicklung von der Basis her geschehen muss und kann. Auch die Seelsorgeraumentwicklung muss von der Basis mitgetragen und nicht nur von oben verordnet werden. In dem noch unveröffentlichten Visionspapier «Gemeinsam Kirche sein» kam ich – noch als Nationaldirektor – zum Schluss: Das Wichtigste geschieht vor Ort, in den Pfarreien, in den über 500 anderssprachigen Gemeinden. Es kann nicht zentral von einem Bischof, von migratio oder einem Missionar verordnet werden. Was gemacht werden kann, ist, die Notwendigkeit einer Entwicklung, und zwar einer ein-, nicht ausschliessenden und damit bereichernden Entwicklung, vor Augen zu führen und Impulse zu setzen.

Die Ortspfarreien profitieren von einer Pfarreistruktur mit Seelsorgenden, Gebäuden und Räumen. Die anderssprachigen Gemeinden haben oft nur einen Gaststatus. Wie wäre hier eine strukturelle Verbesserung möglich?
Es gibt in der Schweiz 110 Missionen, respektive über 500 anderssprachige Ortsgemeinden. Leider habe ich festgestellt, dass anderssprachige Gemeinden zum Teil nur geduldet werden. Doch diese Aussage wird nicht allen gerecht. Es passiert schon viel Gutes. Die Zukunft muss je nach spezifischer Situation vor Ort gestaltet werden.

Sehen Sie hier Unterschiede zwischen der Deutsch- und Westschweiz?
Es gibt Unterschiede, aber auch hier ist es von Pfarrei zu Pfarrei respektive je nach anderssprachiger Gemeinde verschieden. In der Deutschschweiz wie in der Westschweiz geschieht es öfters, dass unter Finanzdruck etwas angeordnet wird. Dem stehe ich kritisch gegenüber. Und schauen wir wirklich auf die Finanzen, so wird klar, dass die anderssprachigen Missionen in der Regel mit substanziell weniger Finanzen auskommen müssen. Auch hier könnten wir lernen: Zuerst müssen wir – in möglichst synodalen Prozessen – eruieren, was aus pastoraler Sicht die kirchliche Zukunft in dieser migrantischen oder gar postmigrantischen Realität massgeblich prägt. Erst dann dürften die strukturellen und finanziellen Konsequenzen ins Spiel kommen. Heute ist es oft umgekehrt.

Was würden Sie migratio empfehlen?
Ich sage heute als engagierter Gläubiger dasselbe, was ich bereits als Nationaldirektor formuliert habe: migratio könnte sich für die verschiedenen Paradigmenwechsel anwaltschaftlich eingeben. migratio kann fördern oder einfordern, dass der Fokus der Migrationspastoral auf der Pastoral liegt und dass in der Umsetzung Ressourcengerechtigkeit geschaffen wird. migratio könnte sich als Mahnerin und Katalysatorin für «Gemeinsam Kirche sein» weiter profilieren.

Sie haben sich als Direktor von migratio stark in der Migrantenpastoral engagiert. Welches ist Ihre persönliche Erkenntnis?
Die aktuelle Migrationssituation ist eine, wenn nicht die Chance. Hier geht es um gelebte Kirche schlechthin. Ich war in einem vietnamesischen Gottesdienst und habe zuerst nur zwei Worte verstanden: Facebook und Amen. Nicht einmal Jesus habe ich verstanden. Ich liess die Situation auf mich wirken und habe gemerkt: Nein, ich verstehe trotzdem so vieles. Ich verstehe natürlich die Struktur der Liturgie, aber auch die Melodiosität der Musik. Ich verstehe, dass die Empore voll ist von einem Kirchenchor, der aus Menschen besteht, die von überall her kommend sich einbringen wollen. Ich verstehe, dass draussen viele Menschen Parkplätze zugewiesen haben, weil dies wichtig ist, damit hier Gemeinschaft entstehen kann. Ich verstehe, dass viele Priester konzelebrieren, ohne dass ich weiss, woher sie alle kommen. Ich bin sehr bereichert aus dem Gottesdienst hinausgegangen. All diese Menschen sind bereits heute konstitutive Glieder unserer Gesellschaft. Noch mehr: Es sind gläubige Menschen, so wie ich. Das ist eine Freude! Ich wünsche mir, dass wir uns davon anstecken lassen, vor allem auch die Menschen in den Entscheidungspositionen der staatskirchenrechtlichen wie auch pastoralen Strukturen. Ich kann nur beten, dass man sich dieser Chance öffnet. Dass man alle Struktur- und Machtkämpfe um Finanzfragen auf die Seite schiebt und das Potenzial dieses Kairos erkennt.

Interview: Rosmarie Schärer

 

migratio: Dienststelle der Schweizer Bischofskonferenz SBK der Seelsorge für die Migranten und Menschen unterwegs; Alpengasse 6, 1700 Freiburg i.Ü., Tel.: 026 510 15 05; E-Mail: ; Web: www.migratio.ch

BONUS

Folgende Bonusbeiträge stehen zur Verfügung:

Dokumente