Nicht mehr haben, sondern mehr sein
«Strebe danach, nicht mehr zu haben, sondern mehr zu sein» (Oscar Romero). «Das Leben haben und es in Fülle haben» ist ein inneres Geschehen, ein existenzieller Prozess im eigenen Herzen und eigenen Leben. Dabei geht es um das Mensch-Sein in allen Bezügen. Wir sind herausgefordert, für die Menschen, die sich in existenzieller Not befinden, so zu sorgen, dass sie ihre Würde behalten; dass sie zu essen und zu trinken, Kleidung und ein Dach über dem Kopf haben; dass sie medizinisch versorgt werden, wenn sie krank sind; dass Flüchtlinge aufgenommen werden. Das Evangelium erzählt uns, dass dies sogar eine Gotteserfahrung sein kann: «Ich war hungrig…» (Mt 25,35).
«Das Ein- und Ausgehen durch die Tür ist Begegnung mit IHM.»
Die aktuelle Krise – die Pandemie – stellt uns als Individuum, aber auch als Gesellschaft tagtäglich vor die Frage: Was macht wirkliches Leben aus? Die Fülle oder der Überfluss? Das Leisten, Machen, Ansehen, Besitzen oder das Da-Sein, die Sorge für die verwundeten Menschen in der Gesellschaft, das Dienen, die Hingabe? Geht es um mehr Haben oder mehr Sein? Die Möglichkeit des Restaurantbesuches, des Ausganges, des Konzertes, des Fitnessclubs, des Reisens fällt weg. Die Kurzarbeit lässt das Budget schrumpfen. Der Jobverlust droht. Was dann? Hat das Leben noch Sinn? Was geschieht im eigenen Herzen? Wie verhalten wir uns als Gesellschaft? Reagieren wir mit Angst, Depression oder Aggression? Ignorieren wir die Realität, die Not, die Krankheit, die Kranken? Steigern wir den Konsum – zum Trotz?
Für uns sind biblische Bilder sehr sprechend: Ein Mensch kann wie eine Tür sein. Jesus, der gute Hirte, spricht von der Tür, die er selbst ist. Sie führt in die Dunkelheit des Stalles hinein und auf die grüne Weide hinaus. Sie öffnet sich auf das eigene Dunkel hin, in den Schmerz hinein und ans Holz, ans Kreuz, und durch den Tod hindurch zum neuen Leben in Fülle – auf die grüne, satte Weide hinaus. Die morgendliche Kontemplation prägt unser Leben. Sie ist die Quelle, aus der wir unseren Dienst auf der Gasse leben: Uns der Stille – Seiner Gegenwart – aussetzen: Da-Sein. Hören. Ob in der Stille drinnen oder auf der lauten Gasse draussen: Das Ein- und Ausgehen durch die Tür ist Begegnung mit IHM und mit allen, mit denen wir verbunden sind. Das ist für uns Leben in Fülle.
Thomas – einer unserer Freunde auf der Gasse – sagte uns vor kurzem: «Die Pandemie ist wirklich schlimm. Doch genau in dieser schwierigen Zeit entstand unter uns Gemeinschaft, Solidarität und ein Miteinander, das es vorher auf diese Weise nicht gab – hier im Lokal Primero und in der Mensa auf der Gasse. Ja, es tönt eigenartig, aber es ist so etwas Gutes entstanden.» Die Krise ist eine Chance und eine Gefahr zugleich: für jeden Einzelnen und für die Gesellschaft. Sie kann zur Lebensfülle oder zur Vernichtung führen. Die Frage bleibt: Folgen wir dem Haben oder dem Sein?
Sr. Ariane, Gassenarbeiterin und Gründerin des Vereins Incontro, und Pfr. Karl Wolf
Fallen, sich hingeben, heimkommen
Zwei Sätze, die im Buch meines Glaubens zu finden sind, fallen immer wieder in mein Leben ein. Sie strahlen Licht in diese Welt; Licht auf die Frage, was ich tun könnte, um ein Leben in Fülle zu haben. Die Sätze bewegen sich in meinem Herzen, bewegen mich oft in jene Richtung, wohin ich eigentlich nicht gehen will. Aber wenn ich den Weg dann gleichwohl gegangen bin und irgendwann zurückschaue, erfüllt mich Dankbarkeit; und ich bekomme eine Ahnung davon, was mit einem «meiner» zwei Sätze gemeint sein könnte: «Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht. Wer an seinem Leben hängt, verliert es; wer aber sein Leben in dieser Welt gering achtet, wird es bewahren bis ins ewige Leben» (Joh 12,24–26).
Hat Fülle also in erster Linie etwas mit «loslassen», «sich verlieren», «sich hingeben» zu tun? Vielleicht auch damit, dass es eigentlich keine wirklich armen Menschen gibt, weil jeder, auch wenn er fast nichts besitzt, noch immer sich selbst verschenken kann? Da fällt mir Hans ein, nein, nicht irgendein Hans, der «Hans im Glück»: Sieben Jahre diente Hans treu seinem Herrn und bekommt als Lohn einen Goldklumpen, so gross wie sein Kopf. Danach bricht Hans auf, macht sich auf den Weg heim zu seiner Mutter und tauscht während seines Fussmarsches das Gold gegen ein Pferd, das Pferd gegen eine Kuh, die Kuh gegen ein Schwein, das Schwein gegen eine Gans, die Gans gegen einen Stein; und am Ende fällt der Stein ins Wasser und der Lohn hat sich in Nichts aufgelöst. Ist Hans dumm, naiv – oder ein Künstler der Sorglosigkeit? Hans flucht nicht, er freundet sich sofort mit seiner Situation an, dankt Gott mit Tränen in den Augen, ihm auch noch diese letzte Gnade erwiesen zu haben – und er ruft sogar freudig aus: «So glücklich wie ich gibt es keinen Menschen unter der Sonne.»
«Befreit von jeder Last, findet der Lebens-Lauf seine Erfüllung.»
Hans macht nicht den Fehler des Vergleichens, des zähneknirschenden Zurückschauens auf das, was er nicht mehr hat. Er baut sein Leben auf dem auf, was er im Moment hat. Jede Begegnung auf dem Weg ist für ihn wertvoll, wegweisend, führt ihn ein Stückchen näher zu seiner Mutter. Und auch jeder Gegenstand, jedes Tier hat für ihn ein gewisses Mass an Erfüllung gebracht, und selbst dem Verlieren, sprich: dem Befreitwerden von sämtlichem Besitz, kann er Gutes abgewinnen. Doch das Beste, ich denke hier auch an das Gleichnis vom verlorenen Sohn, kommt ganz am Schluss seines (Verlust-)Weges; jemand wartet auf ihn, erwartet ihn: «Mit leichtem Herzen und frei von aller Last sprang er nun fort, bis er daheim bei seiner Mutter war.»
Wenn man gar nichts mehr hat, befreit von jeder Last, auch der Last des eigenen Ichs, ist man angekommen, findet der Lebens-Lauf seine Erfüllung, ist man daheim – bei seiner Mutter, beim Ursprung, bei Gott.
Christoph Schwyzer ist Gärtner und Schriftsteller
Zwischen Verheissung und Realität
296 Millionen Franken – so viel Überschuss machte der Kanton Zug im Jahr 2021. Und wenn man die Beiträge in den Medien dazu liest, zeugen die einen von ehrfürchtigem Staunen, die andern von Kritik, und dritte scheinen ob der Geldfülle etwas neidisch zu sein. Ist dies das «Leben in Fülle», von dem in Joh 10,10 berichtet wird? Zeigt sich darin die Gegenwart des guten Hirten von Joh 10?
Nicht erst seit «Haben oder Sein» von Erich Fromm wissen die Menschen, dass im Besitz etwas steckt, das den Menschen aus dem Lot werfen kann. Wer die Fülle mit dem Goldesel aus den Grimm‘schen Märchen verwechselt, wird in der Fülle zu-
grunde gehen. Er wird im Überfluss ertrinken.
Leben in Fülle meint gewiss anderes. Es lässt sich heute umgangssprachlich gern mit «Glück» übersetzen. Auch hier wissen wir, dass Glück nicht allein aus Besitz besteht, v. a. auch dort, wo Glück mit Gesundheit verbunden wird. Gleichwohl ist unsere Gesellschaft davon geprägt, dass mehr Haben zu mehr Sein führen und ein vom «Immer mehr» geleitetes Wirtschaften Menschen und Gesellschaften demokratischer und glücklicher machen würde. Doch Demokratie ist mehr als Wirtschaft(en), und Glück besteht nicht einfach im «mehr Haben». Schon Aristoteles verband die Eudaimonia weniger mit Besitz und Zustand als vielmehr mit dem aktiven In-der-Welt-Sein, einer Form von Tätigkeit, die sinnstiftend ist.
«Die Fülle des Lebens beginnt nicht so sehr mit dem Mess- und Sichtbaren.»
Es sind solche Gedanken, die auch das Verständnis von Entwicklung in der Tradition der Katholischen Soziallehre prägen. So sah Papst Paul VI. in «Populorum progressio» schon 1967 die Entwicklungszusammenarbeit nicht nur in Geld und materieller Hilfe, sondern hob die Ganzheitlichkeit hervor, wozu insbesondere auch das spirituelle, geistliche Wohlbefinden der Menschen und Völker zählte. Und Johannes Paul II. betonte 1981 in «Laborem exercens» den Sinnaspekt von Arbeit, die darum eben mehr ist als nur Produktion von Gütern, die es im Überfluss geben könnte. Vor diesem Hintergrund beginnt die Fülle des Lebens nicht so sehr mit dem Mess- und Sichtbaren. Den Anfang macht die Wahrnehmung, dass wir in Diskrepanzen und Dilemmata leben. Wir erleben die kleinen und grossen Schmerzen und sehnen uns nach dem Heil. Wir nehmen es wahr, wenn uns die Zeit fehlt – oder wenn sie zu lang wird, etwas kaum mehr auszuhalten ist. Und wir nehmen wahr, wenn wir gerne die Übersicht oder die Dinge im Griff hätten – oder dort, wo wir lieber nicht Abschied nehmen möchten und doch ein Ende gesetzt ist; wo die kleinen und grossen Tode sind. In all diesen Momenten sind wir gefordert, uns darüber Gedanken zu machen, was uns wirklich wichtig ist. Darin zeigt sich auch, was uns «Fülle» bedeutet: Erfolg? Gewinn? Qualität? Macht? Mass? Zufriedenheit? Geduld? Harmonie? Wenn es dann gelingt, Situationen Sinn zu geben, sie mit dem, was uns wichtig ist, in einen Austausch zu bringen und die Spannung zwischen himmlischen Versprechen und schmerzlicher Realität so zu gestalten, dass sie wie die Saiten eines Instruments Töne wiedergeben können, dann sind wir wohl der «Fülle des Lebens» etwas nähergekommen.
Dr. Thomas Wallimann-Sasaki leitet ethik22: Institut für Sozialethik