Gebote: eine Einladung zu Leben in Fülle

Ein Leben in Fülle bezeichnet im religiösen Kontext ein erfülltes, nach ethischen Grundsätzen ausgerichtetes, im Wesentlichen zufriedenes Leben im Einklang mit dem eigenen Gewissen und damit auch mit Gott.

«Wer ist der Mensch, der das Leben liebt und gute Tage zu sehen wünscht? Wenn du hörst und antwortest: ‹Ich›, dann sagt Gott zu dir: ‹Willst du wahres und unvergängliches Leben, bewahre deine Zunge vor Bösem und deine Lippen vor falscher Rede! Meide das Böse und tue das Gute! Such‘ Frieden und jage ihm nach!›» Diese Worte stehen im Vorwort der Regel des hl. Benedikt. Benedikt von Nursia möchte Menschen für seinen Lebensentwurf gewinnen, die das Leben lieben. Solche Menschen antworten persönlich auf Gottes Einladung und übernehmen so Verantwortung. Wahres Leben ist für Benedikt dabei dort möglich, wo aus Gott das Gute gelebt und Friede konkret gewagt wird.

Der hl. Benedikt sieht keinen Gegensatz zwischen dem Leben im Kloster in seiner äusseren Beschränkung und der Suche nach Freiheit. Gerade die Gelübde der Nonnen und Mönche – Beständigkeit, Gehorsam und klösterlicher Lebenswandel – sollen uns zu einer inneren Freiheit führen und damit zu einem erfüllten Leben aus Gott. Wenn Gelübde für Ordensleute Wegweiserinnen zum Leben sein können, ist dies dann nicht generell wahr für kirchliche Gebote und Vorschriften? Was anderes soll deren Ziel sein, als glaubenden und suchenden Menschen einen Weg zu Gott zu weisen? Gebote nicht als Verbote verstehen, sondern als Einladung zu Leben in Fülle: Diese Sichtweise ist bei uns oft verschüttet. Und wenn Dogmen dabei als Einschränkung des persönlichen Glaubenslebens erfahren werden, muss auch für sie verdeutlicht werden: Sie weisen auf ein Leben in Fülle hin. Sie übergehen nicht unser Gewissen, sondern sollen es formen, denn Dogmen sind Ausdruck eines oft langen Ringens der Kirche, das nie aufhört, um Menschen zu Gott zu führen. Treffend drückt dies Josef Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI. aus: «Als Symbol hat das Dogma immer den Charakter der einen Hälfte, des Unfertigen und Unzulänglichen. Nur im Verweis über sich hinaus sagt es die Wahrheit. Es ist kein in sich gerundeter Kreis wie der Begriff, der das Ganze der Sache in den Griff des Begreifens zu nehmen versucht, sondern es ist Hälfte, die nur im Zusammenklingen mit den anderen und vor allem: nur in der Verwiesenheit auf das nie Auszusagende besteht. Es ist nicht ein Umgreifen, sondern ein Öffnen, das auf den Weg bringt. Nur durch die unendliche Gebrochenheit des Symbols hindurch dringt der Glaube als die immerwährende Selbstüberschreitung des Menschen zu seinem Gott vor.»

Als Kirche und gläubige Menschen können wir nicht aufhören, nach dem Geheimnis Gottes zu streben. Dabei wollen Dogmen, Gebote und Gelübde uns nicht an sich ketten, sondern uns auf den Weg zu Gott bringen. Leben in Fülle ist dafür die Verheissung. Und eine Suche nach Freiheit und Frieden, die über uns selbst hinausweist.

Abt Urban Federer


Urban Federer

Urban Federer (Jg. 1968) studierte Theologie in Einsiedeln und St. Meinrad, Indiana (USA), danach Germanistik und Geschichte in Freiburg i. Ü., wo er auch promovierte. Seit 2013 ist er Abt des Klosters Einsiedeln und damit Mitglied der Schweizer Bischofskonferenz. Er steht der Liturgischen Kommission der Schweiz vor. (Bild: Jean-Marie Duvoisin)