«Lebensfülle», «Fülle des Lebens» – was imaginieren Sie, wenn Sie dies lesen? Ich sehe Sonne vor mir, höre Kinderlachen, fühle Leichtigkeit, Entspannung und Freude, sehe einen Korb mit Früchten und eine gute Gemeinschaft von Menschen. «Lebensfülle» ist assoziativ positiv besetzt. Wer möchte nicht «das Leben in Fülle» haben?
Im Johannesevangelium benennt Jesus «Leben in Fülle» für die Menschen als Ziel seiner Sendung (vgl. Joh 10,10b). Lässt sich der erfahrungsnahe, universal-menschliche Begriff Lebensfülle so ausformulieren, dass mit ihm Wesentliches der christlichen Botschaft in heute verständlicher Sprache ausgedrückt werden kann?
Ausdruck der christlichen Botschaft
«Leben» und «Lebensfülle» sind sowohl für ereignis- und beziehungshafte als auch für ontologische Sprachformen anschlussfähig. «Lebensfülle» bietet sich als lebensweltlich verständliche Explikation christlicher Verheissung an, in ihr klingen, theologisch bedacht, Erlösung, Befreiung, Loskauf aus der Sklaverei, Freiheit, Freude, Gemeinschaft, Gesundheit und Auferstehung an. Die umfassende Benevolenz Gottes allen lebendigen Geschöpfen gegenüber kann mit «Lebensfülle» wiedergegeben werden; Gott ist «primordiale Fülle».1
Ewigkeit als vollkommener Besitz unbegrenzten Lebens – diese Definition des Boëthius (Trost der Philosophie, 5) ist schultheologisch einschlägig. Über Jahrhunderte wurde das Heilsziel mit «vita aeterna», dem ewigen Leben, angegeben. Diesseits und Jenseits wurden zumeist und verstärkt seit der Neuzeit strikt getrennt, wohingegen die mystische Tradition darauf beharrte, dass die selige Vereinigung mit Gott schon im Diesseits gnadenhaft in kontemplativer Versenkung erfahrbar sei. In ähnlicher Weise gehen anthropologische Theologien heute davon aus, dass das göttliche Heil zwar nicht schon in seiner Fülle gegenwärtig ist, aber anfanghaft erfahren und verwirklicht werden kann. Die Reflexion auf mögliche Gerichtetheiten im Leben und Handeln speist eine praktische und präsentische Eschatologie. Die meisten Menschen erwarten von Religion praktischen Nutzen, als moralische Stütze, als Sinngeber – pastoralpsychologisch betrachtet glaubt jede und jeder aufgrund prägender Erfahrungen.
Weder Materialismus noch Vitalitätskult
Lebensfülle darf im christlichen Sinn nicht als vermehrbare Fülle von Waren und Konsum verstanden werden, sondern als gelingendes Leben. Für die meisten Menschen sind hierfür glückende Sozialbeziehungen ausschlaggebend, auch wenn «Lebendigkeit» und Sinn auch anders erfahren werden können. Die Abgrenzung zwischen spiritueller und materieller Fülle bleibt ein Balanceakt, da ein echter Mangel an materiellen Gütern umfassende Lebenszufriedenheit im Allgemeinen verunmöglicht, während in Fülle vorhandene Güter psychologisch betrachtet zum Wohlbefinden beitragen. Das gilt auch dort, wo eigentlich zwischenmenschliche Gemeinschaft im Mittelpunkt steht, wie am Beispiel des Festes, zu dem im Übermass gutes Essen und Trinken gereicht wird, erkennbar wird. Von unserem frühesten individuellen Dasein an sind wir gewohnt, materielle Versorgung und menschliche Zuwendung in eins zu erleben: Beim Stillen sind Nähe zur Mutter und Versorgtsein mit Nahrung gegeben. «Lebensfülle» steht darum in einem bleibenden Spannungsverhältnis zu Konsum(ismus), und es muss gefragt werden, wie sich Lebensfülle angesichts der durch materiellen Überverbrauch ausgelösten ökologischen Krise und der zahlreichen mangelbehafteten Krisen wie Krieg und Hunger denkbar und lebbar bleibt. Die Rettung der Erde erfordert reale Einschränkungen, die spürbar werden, sobald sie nicht mehr rein freiwillig zugunsten des vermeintlich einfachen, aber besseren Lebens erfolgen – und freiwillige individuelle Einschränkung werden global nicht ausreichen, um die ökologische Krise zu meistern. Die Ambivalenz erfahrbarer Fülle ist möglicherweise nur eschatologisch auflösbar.
Lebensfülle darf auch nicht mit der Glorifizierung von Stärke und Gesundheit verwechselt werden. Diese bedauernswerte Verwechslung, die Alter, Schwäche und Krankheit diskriminiert, birgt faschistische Gefahr. Theologisch qualifizierte Lebensfülle ist nicht identisch mit Vitalität. Erfüllung, Sinn, Lebensfülle können auch dort erfahren werden, wo Leben in der Logik der Stärke scheitert. Die Geschichte Jesu ist das beste Beispiel dafür.
Säkular anschlussfähig
«Lebensfülle» impliziert als Ideal eine Vorstellung davon, was unserem Leben Sinn gibt, und kann daher unsere Entscheidungen auf ein Ziel hin orientieren. Lebensfülle ist nicht die bereits erreichte, sondern die, zu der man unterwegs ist.
Charles Taylor befasst sich in der Einleitung seines Monumentalwerks «Ein säkulares Zeitalter» mit Fülle. «Fülle» fungiert bei ihm als Bezeichnung einer erfahrungsgemässen Ahnung von einem Ort oder Zustand, «wo das Leben voller, reifer, lohnender, bewundernswerter und in höherem Maße das ist, was es sein sollte. Vielleicht handelt es sich um einen Ort der Belebung […]».2 Falls das Verständnis von «Fülle», nach der im Leben gesucht werde, über rein innerweltliche Zusammenhänge hinausführe, also einen Transzendenzbezug einschliesse, lasse sich von einer religiösen Grundorientierung sprechen. Religiöse Menschen bezeichneten «Fülle» als Ort der Gottesbegegnung, der Gegenwart von Gnade, der mystischen Erfahrung oder des eschatologischen Ziels, nichtreligiöse Menschen deuteten sie immanent, sofern sie von der realen Existenz eines Ortes der Fülle ausgingen.
Der Seitenblick auf Taylor zeigt, dass der Begriff «(Lebens-)Fülle» geeignet ist, christliche, weitere religiöse und säkulare Weltdeutungen miteinander ins Gespräch zu bringen. «Lebensfülle» als Ahnung von Erfüllung ist universal-menschlich – und der Lebensbegriff bietet sich angesichts der Weltkrisen an, den notwendigen Schutz menschlichen wie nichtmenschlichen Lebens in das Gespräch einzuschliessen.
Theologische und moralische Orientierung
«Lebensfülle» ist geeignet, christliche Praxis und Lehre zu orientieren und zu prüfen. Ist das, was als christlich verkündet und praktiziert wird, dem Leben dienlich? Stärkt es Glaube, Liebe und Hoffnung? Ist es geeignet, die Sehnsucht nach der Fülle des Lebens, deren Quelle Gott ist, zu wecken, Sensibilität, Freude und Dankbarkeit Raum zu geben? Lässt es einen tieferen Sinn aufscheinen, in dem alles heil und ganz wird? Gehen Lehre und Praxis achtsam und ehrfurchtsvoll mit dieser Welt um, erkennen sie sie als Ort möglicher Erscheinung Gottes?
Die johanneische Lebensfülle bleibt eine uneinholbare eschatologische Verheissung, die nicht aus der Logik dieser von Energiemangel und der Konkurrenz um Ressourcen geprägten Welt geschlossen werden kann – das Königreich Jesu ist nicht von dieser Welt. Gleichwohl wird Leben christlich im Horizont dieser Verheissung gestaltet, die zeichenhaft dargestellt werden kann als sakramentales Handeln in der und an der Welt: Lebensfülle kann christlich real gelebt werden, im Anfang eines friedlichen Miteinanders, in dem jede und jeder erhalten, wonach ihnen nottut und in dem das Horten von Gütern überflüssig, gar unsinnig erscheint.
Das Vertrauen darauf, dass die verheissene Fülle inkarnatorisch in diese Welt hineingelegt und uns aufgetragen ist, verbietet Weltflucht und fordert eine Lebenszugewandtheit, die sich gleichwohl bewusst ist, dass ihre Quelle ausserhalb ihrer eigenen Verfügungsgewalt liegt. «Geht und verkündet: Das Himmelreich ist nahe! Heilt Kranke, weckt Tote auf, macht Aussätzige rein, treibt Dämonen aus! Umsonst habt ihr empfangen, umsonst sollt ihr geben» (Mt 10,8).
Astrid Heidemann