«Sie verkünden nicht Jesus Christus…»

Aussagen zur Reform der Kirche

Der Amtsverzicht von Benedikt XVI. hat zu sehr unterschiedlichen Reaktionen geführt. An erster Stelle geht es um die Würdigung seiner persönlichen Integrität und Amtsführung. Dann finden ökumenische Signale Anerkennung, gleichwohl sie mit Irritationen (Regensburger Rede, Karfreitagsbitte, Piusbrüder, tridentinischer Ritus, Wandlungsworte) verbunden waren. Eindruck hinterlässt auch das enorme Pensum öffentlicher und interner Pflichten, das sich Joseph Ratzinger im hohem Alter auferlegen liess. Dass er dabei Zeit fand, umfangreiche, sprachlich eingängige theologische Bücher zu schreiben, lässt ahnen, wo seine tiefste Leidenschaft lag: nicht in der Prüfung bzw. Fortentwicklung kirchlicher Administration und Strukturen, sondern in einer Reflexion und Verkündigung, die auf Spiritualität und Gläubigkeit zielt. Da wirkt es fast paradox, dass just der Amtsverzicht als historisch bedeutendste Leistung dieses Papstes gewertet wird. Ausserdem drehen sich die Kommentare um die Frage, ob die Amtszeit von Benedikt XVI. jenen Aufgaben der Kirchenreform diente, die schon in den Pontifikaten zuvor ungelöst blieben. Die Meinungen differieren und hängen auch davon ab, inwieweit ein kirchlicher Reformbedarf überhaupt gesehen und anerkannt wird. Martin Grichting (Diözese Chur) sieht in der Schweiz «Kirchenverbesserer» am Werk: «Sie nutzen die Gunst der Stunde, um Reformideen für eine zukunftsfähige Kirche unters Volk zu bringen. Sie verkünden nicht Jesus Christus, sondern werkeln an der Karosserie der Kirche.»1

Nun sind viele dieser «Karosseriespengler»2 bedeutende Amtsträger und Bischöfe, deren Kirchlichkeit, Christustreue und Erfahrung einem solch gezielten Spott meilenweit überlegen ist. Ihre genaue wie kritische Sichtung der kirchlichen Lage benennt «Baustellen», die offenkundig bestehen und in naher Zukunft beherzt und umsichtig weiter entwickelt werden sollten. «Das Wichtigste ist», so Weihbischof Peter Henrici, «die Kurienreform. Es steht an, dass die Kurie sich nicht immer mehr verselbständigt.»3 Ähnlich Kardinal Walter Kasper: «In den letzten Monaten ist überdeutlich geworden, dass Reformen in der Kurie nötig sind. Es läuft nicht so, wie es in der heutigen Zeit laufen müsste.»4 Angesprochen sind dabei nicht nur diverse Affären, die als Symptome eines krassen Mangels an römischer «Leitungsfitness» wirken. Das dafür ursächliche System scheint insgesamt einen konstruktiven Führungsstil zu erschweren, statt ihn zu ermöglichen. Zweitens geht es um Dezentralisierung von Macht und Gestaltungskraft. Die Bischöfe Norbert Brunner5 und Felix Gmür6 haben deshalb auf das Prinzip kirchlicher Subsidiarität verwiesen: Was vor Ort geregelt werden kann, weil es weder Dogmen noch zentrale Normen betrifft (etwa Predigterlaubnis, Zugang zu gewissen Ämtern, Laisierungen, Liturgie), sollte in regionaler Kompetenz besprochen und entschieden werden. Kardinal Kasper: «Man kann nicht alles zentralistisch lösen. Leider hat der Zentralismus seit dem Konzil eher zu- als abgenommen. Da sind Gegensteuerungen nötig.»7 Drittens systemische Normen, deren Reform seit Jahrzehnten auf Eis liegt, obwohl die resultierenden persönlichen und pastoralen Notstände verheerend sind und überzeugende Argumente fehlen: So lassen sich – wie Fachleute und Amtsträger betonen – weder das Sakramentenverbot für Wiederverheiratete noch der Pflichtzölibat für Priester in den Weisungen Jesu finden.8 Beides stellt Kirchenrecht dar, das wohlgemerkt für notwendige Revisionen prinzipiell offen ist. Zu betrachten sind viertens die gewiss nie banalen Fragen humaner Sexualität und Partnerschaft. Einige Verbote, welche die kirchliche Lehre für «natürlich» vorgegeben und absolut hielt, stehen sowohl der Erfahrung und Lebenslage sehr verantwortlich handelnder Menschen als auch den Fachdiskursen entgegen. Daher wird längst «oben» über tragbare Lösungen für Konfliktsituationen nachgedacht. 9 Diese kirchlichen Debatten sind sachkundig und fair fortzuführen, damit die wertvollen biblischen Quellen wieder schöpferisch fliessen, etwa zugunsten einer erneuerten Kultur der Jugendsexualität. In allem geht es um das göttliche Geschenk des Glaubens, um Halt und Gemeinschaft angesichts einer oft unübersichtlichen und rastlosen Gegenwart. Damit Kirche darin ein Angebot bleibt, muss sie sich jedoch um Dialoge, Strukturen, Sprach- und Gottesdienstformen mühen, die an heutige soziale, politische, religiöse und ästhetische Grammatiken anknüpfen, ohne sich billig anzupassen. Das entspräche in der Tat «katholischer Tradition» – nicht aber jene bequeme Arroganz gegenüber einer vermeintlich «dem Diktat der Zeit»10 verfallenen Welt. Der Kanon der frühen Kirche hält fest, dass die Bewältigung solcher Baustellen keine Einbahnstrasse, sondern ein fruchtbarer Austausch ist, bei dem sich «lebendige Bausteine»11 und plurale Charismen in Christus zu einem Leib vereinen. Es bedarf also des geschwisterlichen Zusammenwirkens aller vom Geist Begabten: ob als vor Ort Verantwortliche, Fachleute, Amtsträger, Ideengeber, Erfahrene oder Prophetinnen. Allen ist Verantwortung zugemutet, die weder diffamiert noch marginalisiert werden darf, sondern kirchlich geltend gemacht werden soll.

 

 

1 Sonntagszeitung 17. Februar 2013.

2 Martin Grichting, ebd.

3 SRF-Tagesschau 12. Februar 2013.

4 KIPA-Interview 19. Februar 2013.

5 Eröffnung der Vollversammlung des Rates der europäischen Bischofskonferenzen (CCEE ) vom 28. September 2012.

6 Sonntags-Blick-Interview 17. Februar 2013.

7 KIPA-Interview 19. Februar 2013 (wie Anm. 4).

8 Vgl. hierzu und mit zahlreichen Belegen: Hanspeter Schmitt: Charisma als Pflicht? Zur Ambivalenz der Zölibatsnorm, in: Münchener Theologische Zeitschrift 62 (2011), 278 –287.

9 Exemplarisch: «Papst lockert striktes Kondom- Verbot der Kirche» (KIPA 20. November 2010); Kardinal Carlo M. Martini: «Kondome in Ausnahmen zulässig», in: http://www.welt.de/print-welt/article212028/Kardinal-Kondome-in-Ausnahmenzulaessig.html; Kardinal Peter Turkson: «Eheliche Treue hat Priorität im Kampf gegen Aids» (KIPA 5. Oktober 2009). Vgl. auch: Katholische Kirche ermahnt reformfreudige Priester, in: http://www.zeit.de/gesellschaft/2012-07/mueller-ermahnung-gehorsam .

10 Giuseppe Gracia: Ein römisch-katholischer Affront, in: Südostschweiz 15. Februar 2013.

11 1 Petr 2 ,5. Vgl. auch Apg 15, Eph 2 ,19–22; 1 Kor 12–13.

Hanspeter Schmitt

Hanspeter Schmitt

Dr. theol. Habil. Hanspeter Schmitt ist Ordentlicher Professor für Theologische Ethik an der Theologischen Hochschule Chur.