Passion und Auferstehung Jesu – Mitte unseres Glaubens (II)

Zum zweiten Band des Jesus-Buches von Joseph Ratzinger/Benedikt XVI.

Aus der Sicht des Exegeten

Es ist für den Exegeten nicht ganz einfach, dem Jesusbuch des Papstes gerecht zu werden. Zum einen ist es schwierig, die verletzenden Bemerkungen gegen die Mitglieder dieser «Zunft» im ersten Teil des Werkes zu vergessen. Obwohl er dort grundsätzlich immer wieder betont, dass die Arbeit der historisch-kritischen Exegese notwendig sei und sogar von «grosser Dankbarkeit für das viele, das sie uns geschenkt hat und schenkt»11 spricht, streut er doch da und dort recht pauschale Verunglimpfungen gegen diese ein. Exegeten haben die «schlimmsten Bücher der Zerstörung der Gestalt Jesu, der Demontage des Glaubens»12 geschrieben. «Bibelauslegung kann in der Tat zum Instrument des Antichrist werden.»13 Zustimmend verweist er auf Wladimir Solowjew, nach dem der Antichrist den Ehrendoktor der Universität Tübingen empfängt, weil er ein grosser Bibelgelehrter sei. Solche Aussagen machen den rezensierenden Exegeten misstrauisch und provozieren eine ablehnende Haltung. Zum andern macht die eben besprochene Unklarheit des Genus literarium für jeden Rezensenten ein ausgewogenes Urteil über das Buch schwer – auch in seinem zweiten Teil. Soweit es sich um ein persönliches Bekenntnis des Menschen Joseph Ratzinger handelt, kann man dieses eindrückliche Glaubenszeugnis nur respektvoll zur Kenntnis nehmen. Als spirituelles Werk hat es grosse Tiefe und viele Passagen, die sehr berühren. Dafür ist die Kompetenz des Wissenschaftlers nicht zuständig. Den theologischen Wert des Buches müssten Fachleute für Christologie beurteilen. Es bleibt dem Exegeten nur der Aspekt der exegetischen Qualität und Zuverlässigkeit. Benedikt will zwar kein exegetisches Buch schreiben. Aber da er immer wieder recht energisch über exegetische Positionen diskutiert und seine Sicht mit Entschiedenheit einbringt, ist es durchaus am Platz, es auch aus dieser Sicht zu würdigen – im Bewusstsein, damit kein Gesamturteil über das Werk zu fällen.

Unterschiede zum ersten Teil

Zwei nicht ganz unwichtige Unterschiede sind mir im Vergleich mit dem ersten Band des Jesus-Buches besonders aufgefallen:

1. Benedikt verzichtet auf die scharfen und verletzenden Bemerkungen, mit denen er im ersten Teil nicht nur, wie eben erwähnt, gegen die historischkritisch arbeitenden Exegeten, sondern auch gegen die sozial engagierten Menschen aufgefallen war. So haben nach ihm die Entwicklungshelfer die Botschaft Jesu missverstanden und mit ihrem «gottvergessenen» Einsatz die Dritte Welt erst arm gemacht: «Die auf rein technisch-materiellen Prinzipien aufgebaute Entwicklungshilfe des Westens, die Gott nicht nur ausgelassen, sondern die Menschen von Gott abgedrängt hat mit dem Stolz ihrer Besserwisserei, hat erst die Dritte Welt im heutigen Sinn gemacht.»14 Da wäre wohl vom christlichen Standpunkt aus zum aufopfernden Einsatz dieser Menschen, auch wenn sie nicht immer aus christlicher Motivation handeln, mehr und anderes zu sagen. Solche pauschalen, einseitigen und ungerechten Verurteilungen finden sich im zweiten Band nicht mehr. Er wirkt so insgesamt zurückhaltender, ausgeglichener und weniger polemisch als der erste.

2. Zwar ist das Verhältnis zwischen historischer Faktizität und theologischer Deutung, wie bereits festgestellt, nach wie vor nicht klar. Benedikt wird wohl weiterhin daran festhalten, was er im Vorwort zum ersten Band sagte, nämlich dass der Jesus der Evangelien nicht nur der «wirkliche» – da kann man auch als Exeget durchaus einverstanden sein –, sondern auch der eigentliche «historische» Jesus ist.15 Aber es fällt auf, dass er bei der Erörterung konkreter historischer Probleme meist eine eher gemässigte Haltung einnimmt, die auch unter Exegeten Zustimmung findet. So hält er offenbar nicht daran fest, dass die sogenannte eschatologische Rede (Mk 13 parr.) «ipsissima vox Jesu» ist, wenn er bemerkt: «Wie weit die einzelnen Details der eschatologischen Rede Jesu auf sein eigenes Wort zurückgehen, brauchen wir hier nicht zu untersuchen » (50). Bei aller historischen Treue der Evangelien im «Wesentlichen» gibt er kirchliche Gestaltung im Einzelnen auch in Bezug auf die Abendmahlsworte zu: «Wir gehen davon aus, dass es die Überlieferung der Worte Jesu nicht ohne die Rezeption durch die werdende Kirche gibt, die sich streng zur Treue im Wesentlichen verpflichtet wusste, aber sich auch bewusst war, dass die Schwingungsbreite der Worte Jesu mit ihren subtilen Anklängen an Worte der Schrift in Nuancen Gestaltungen zuliess» (147 f.). Und für den Passionsbericht insgesamt gilt: «Alle vier Evangelien erzählen uns von den Stunden des leidenden Jesus am Kreuz und von seinem Tod – übereinstimmend in den grossen Linien des Geschehens, aber mit unterschiedlichen Akzentuierungen in den Details» (226).

Zur modernen Jesusforschung

Für einen systematischen Theologen kennt sich Benedikt recht gut in der historischen Jesusforschung aus – bis ca. 1990. In der Phase des sogenannten «New Quest of the Historical Jesus» hatte diese seit 1953 reiche und wertvolle Resultate gebracht, auch unter massgeblicher Beteiligung katholischer Exegeten (Rudolf Schnackenburg, Joachim Gnilka u. a.). Diese Forschungsphase ist offenbar gemeint, wenn sich der Papst auf die historisch-kritische Forschung bezieht. In den 1980er-Jahren bahnte sich indessen vor allem in der angelsächsischen Exegese allmählich eine neue Phase an, die man inzwischen als «Third Quest» bezeichnet. Sie hat kein einheitliches Programm, ist sehr vielseitig und z. T. widersprüchlich, zeigt aber einige Tendenzen, die den Anliegen des Papstes entgegenkommen.

1. Dazu gehört auf hermeneutischer Ebene die von Benedikt propagierte «Kanonische Exegese». Der Amerikaner Brevard S. Childs vor allem war es, der mit seinem Werk «Die Theologie der einen Bibel»16 die Grundlagen für den «Canonical Approach» legte. Er hat inzwischen auch in der deutschsprachigen Exegese (vor allem durch das Bemühen des Osnabrücker Professors Georg Steins) Fuss gefasst. Kurz zusammengefasst stützt sich die Kanonische Exegese auf den Endtext der Bibel und verzichtet auf die Rekonstruktion von literarischen Vorstufen. Ferner ist ihr Bezugsrahmen für die Interpretation der Bibelkanon als ganzer (AT und NT). Sie will die Vernetzung innerhalb der ganzen Bibel aufdecken und bedenken. In diesem Zusammenhang erst findet für sie der Einzeltext seinen Sinn. Wichtig ist ihr auch die ekklesiologische Dimension der Schriftinterpretation: Kanonische Exegese vollzieht sich im Rahmen der kirchlichen Gemeinschaft, die den Kanon festgelegt hat. Deutlicher als die amerikanischen Vertreter betonen die deutschsprachigen die Berechtigung und Notwendigkeit der historisch-kritischen Methode, die ihre unersetzliche Funktion behalte. Aber trotzdem polemisieren sie immer wieder gegen deren Unzulänglichkeit und sehen die kanonische Exegese als neues Paradigma der Interpretation. Kein Wunder, dass es momentan unter den Exegeten eine heftige Diskussion um diese neue Forschungsrichtung gibt! Auf jeden Fall wird der Exeget daran festhalten müssen: Kanonische Lektüre darf den Texten nicht übergestülpt, sondern muss aus ihnen erarbeitet werden;17 sonst ist sie exegetisch nicht akzeptabel. Ausserdem hat sie noch keine transparente Methode ausgearbeitet und diskutiert, mit der sie ihr hermeneutisches Ziel erreichen will. Das ist bis jetzt ein grosses wissenschaftliches Manko. Benedikt wendet die kanonische Exegese in seinem Jesusbuch in einer Weise an, welche die – auch für den Glauben wertvolle – Polyphonie der biblischen Texte durch eine Harmonisierung ersetzt. So werden etwa synoptische Texte immer wieder aus der Sicht des Johannesevangeliums interpretiert oder z. B. das Ölberggebet Jesu, wie es die Synoptiker schildern, mit Hilfe des Hebräerbriefs (185–188). In all seinen Interpretationen ist der Glaube der Kirche (und die spätere Theologie) wegleitend. Genau diese zwei Punkte sind es aber, welche die historisch-kritischen Exegeten als Gefahren der kanonischen Interpretation sehen. Verschiedene ihrer Vertreter versuchen, diese Gefahren zu vermeiden, indem sie die bereichernde Vielfalt der Texte respektieren und eine historische Entwicklung der theologischen Deutung ernst nehmen. Bei Benedikt hingegen stellen wir eine Engführung des Jesusbildes in johanneischer Perspektive und «die Aufhebung der Unterscheidung einer historisch-analysierenden und einer theologisch interpretierenden Perspektive – mithin: von Exegese und Dogmatik»18 fest. Dabei besteht das «Risiko der ‹Einhegung› historisch-kritischer Exegese durch Dogmatik und geistliche Lektüre gleichermassen».19

2. Was der Papst zu ignorieren scheint, jedenfalls nicht erwähnt: Es gibt auch in der modernen Exegese bedeutsame und erfolgreiche Anstrengungen, den Gegensatz zwischen dem historischen Jesus und dem Christus des Glaubens, der von Vertretern der historischen Jesusforschung und ihren Gegnern in der ersten Phase oft zelebriert wurde, hermeneutisch zu überwinden. Schon im «New Quest» war man sich der Grenzen der historischen Forschung meist sehr wohl bewusst und sah sich nicht mehr in Gegnerschaft zum Christusglauben. In neuster Zeit wird unter dem Stichwort der «erinnerte Jesus» eine neue Fragerichtung erprobt, die den Graben zwischen dem historischen Jesus und dem Christus des Glaubens vielleicht weiter zu schliessen vermag. Sie wurde vom britischen Exegeten James D. G. Dunn in seinem Werk «Jesus Remembered»20 ausgearbeitet. Dunn geht von einer eingehenden Analyse der mündlichen Überlieferung der Jesustradition aus und betont zu Recht, dass mündliche Überlieferung andern Gesetzmässigkeiten folgt als die Überarbeitung schriftlicher Quellen, wie es das bisher vorherrschende literarische Modell sah. Er fasst seine Sicht der Entstehung der Jesustradition folgendermassen zusammen: «Kernpunkt meiner Argumentation (…) ist, dass man sich an Jesus von Anfang an auf verschiedene Weisen erinnert hat (…). Verschiedene Zeugen desselben Ereignisses werden es unterschiedlich nacherzählen; diejenigen, die Jesu Lehren weiterverbreiteten, empfanden es als vollkommen angemessen, einzelne Details und den Aufbau zu variieren (…). Es gibt keine ursprüngliche Version dessen, was Jesus tat und sagte, so, als ob es nur eine authentische Fassung gäbe, von der alle nachfolgenden Versionen abgeleitet und gegenüber dieser sekundär seien (wie es das literarische Modell suggeriert). Aber es gab eine ursprüngliche Quelle (…): ‹Historisch gesehen gab es natürlich den einen irdischen Jesus hinter den verschiedenen Erzählungen›, die ihn als den ‹erinnerten Jesus› repräsentieren.»21 Die Jesusforschung könne sich nur auf den «erinnerten Jesus» richten. Der «historische Jesus» hinter dem erinnerten Jesus sei uns nicht anders als über diese Erinnerungen zugänglich. Dunn sieht eine starke Kontinuität zwischen vorösterlicher Erinnerung und nachösterlichem Bekenntnis. Der Glaube an Jesus begann schon vor Ostern. Zu einem ähnlichen Ergebnis wie Dunn kommen auf anderem Wege auch deutschsprachige Forscher, vor allem Jens Schröter.22 Er argumentiert von den erkenntnistheoretischen Grundlagen der Geschichtswissenschaft aus, die sich in den letzten 30 Jahren stark gewandelt haben. Das alte Ideal des Historismus von der Objektivität der Geschichtswissenschaft sei ausgeträumt. Zum Selbstverständnis heutiger historischer Wissenschaft gehöre es, dass sie die Vergangenheit nicht wieder herstellen kann, sondern immer eine Interpretation des zugänglichen Quellenmaterials liefere. Das gelte auch für die historische Jesusforschung: «Ihr Ziel kann nicht das Erreichen des einen Jesus hinter den Texten sein, sondern ein auf Abwägen von Plausibilitäten gegründeter Entwurf, der sich als Abstraktion der Quellen stets vor diesen bewegt.»23 Daraus ergibt sich: «Zwischen einem mittels historischer Forschung entworfenen ‹historischen Jesus› und dem ‹irdischen Jesus› ist darum zu unterscheiden: Der ‹historische Jesus› ist stets ein Produkt der Quellenauswertung durch einen Interpreten (…). Der ‹irdische Jesus› dagegen ist der Jude, der im 1. Jahrhundert in Galiläa gelebt und gewirkt hat und in späteren Zeiten nicht mehr unmittelbar, sondern nur vermittelt durch Deutungen zugänglich ist.»24 Damit kommt Schröter – aus einer andern Richtung – zu einem ähnlichen Resultat wie Dunn und hält den Begriff der «Erinnerung» für geeignet, dieses neue Verständnis der historischen Jesusforschung zum Ausdruck zu bringen. Dieser vor allem von Dunn und Schröter repräsentierte neue Ansatz der Jesusforschung wird momentan diskutiert25 und ist weiter zu diskutieren. Möglicherweise zeigt sich hier ein neuer Aufbruch der Jesusforschung, der geeignet scheint, eine Brücke über den oft zitierten «garstigen Graben» zwischen dem historischen Jesus und dem Christus des Glaubens zu schlagen – auf wissenschaftlich transparente Weise, ohne sich in einer «argumentatio ad hominem» auf das Vertrauen in die Evangelien berufen zu müssen oder undeutlich auf den «‹historischen Jesus› im eigentlichen Sinn» zu verweisen und darauf zu hoffen, dass auch die Leser sehen, «dass diese Gestalt viel logischer und auch historisch betrachtet viel verständlicher ist als die Rekonstruktionen, mit denen wir in den letzten Jahrzehnten konfrontiert wurden».26

3. Der Papst ist nicht der Einzige, der in seiner Frage nach dem Jesusbild stärker als die bisherige Jesusforschung das Johannesevangelium einbezieht. So gibt es seit 2002 in den USA innerhalb der «Society of Biblical Literature» das von Paul N. Anderson, Professor an der George-Fox-Universität in Newberg (Oregon) initiierte und geleitete Projekt «John, Jesus and History»,27 an dem namhafte amerikanische Exegeten beteiligt sind. In der traditionellen Jesusforschung hatte das Johannesevangelium wenig historischen Kredit, weil es deutlicher als die Synoptiker theologisch durchformt ist und in den Reden Jesu eine explizite Christologie vertritt, die im Munde Jesu selbst nicht nachvollziehbar ist und auch nicht zu seiner Predigt bei den Synoptikern passt. Andererseits ist schon länger aufgefallen, dass im vierten Evangelium Informationen erhalten geblieben sind, die durchaus historisch sein könnten (z. B. die Passions-Chronologie). Grundsätzlich herrscht heute die Ansicht, das Johannesevangelium sei historisch mit denselben Kriterien zu analysieren wie die andern Evangelien, die ja ebenfalls theologisch gedeutete Worte Jesu und Ereignisse seines Lebens und Wirkens überliefern. Anderson und seine Gefolgsleute arbeiten nun energisch an einer historischen Neubewertung des Johannesevangeliums und damit auch an seiner stärkeren Berücksichtigung in der Jesusforschung. Dabei gehen sie methodisch sehr sorgfältig, geradezu minutiös, vor und basieren durchaus auf den anerkannten Resultaten der bisherigen Johannes- Forschung. Sie gehen den literarkritischen und traditionsgeschichtlichen Fragen eingehend nach und geben über ihr methodisches Vorgehen transparent Rechenschaft. Man kann die Gruppe von Anderson also nicht einfach in die konservative Ecke abschieben. «Das Projekt ist zutiefst kritisch und analytisch angelegt.»28 Man kann von dieser Gruppe durchaus solide Beiträge zur historischen Jesusforschung erwarten. Wenn der Papst in seinem Jesubuch das Johannesevangelium nicht nur einbezieht, sondern sein Jesusbild sogar weitgehend von diesem Evangelisten prägen lässt, ist er allerdings weit weg von diesem exegetisch sorgfältigen Vorgehen. Ohne nähere Analyse harmonisiert er die Aussagen über die Worte und das Wirken, das Leben und das Sterben Jesu mit den Angaben, die sich aus den Synoptikern ergeben. Das geht exegetisch nicht. Aber der verstärkte Blick auf Johannes entspricht durchaus einer Tendenz in der modernen (bis jetzt vor allem amerikanischen) Jesusforschung.

4. In den früheren Forschungsphasen wurde oft ein unjüdisches oder gar antijüdisches Bild Jesu vertreten, der in seinem Wirken und Verkünden zum AT und zum Judentum im Gegensatz stand. Die Vertreter des oben erwähnten «Third Quest» hingegen verorten ihn sehr intensiv und sorgfältig im Judentum seiner Zeit. Jesus war nicht nur ein jüdischer Frommer, dem das AT Gesetz und Wort Gottes war. Was er wirkte und lehrte, hatte seinen Ort im zeitgenössischen Judentum. Der «Third Quest» hat so eine Fülle sehr differenzierter Forschungen zum Judentum des 1. Jahrhunderts hervorgebracht, die für die Sicht auf den historischen Jesus sorgfältig ausgewertet werden. Es ist einer der oft herausgestellten positiven Züge des Jesusbuchs Benedikts, dass er Jesus mit grosser Sorgfalt aus dem AT zu verstehen sucht. Überraschender und wichtiger noch: Er geht auch sehr respektvoll und wertschätzend mit dem nachbiblischen Judentum um. Er nimmt öfters und intensiv die Diskussion mit ihm auf. Am bekanntesten ist diesbezüglich im ersten Band das Gespräch mit dem New Yorker Rabbiner Jacob Neusner über die «Tora des Messias».29 Bei dieser und andern Gelegenheiten betont der Papst sehr deutlich den Unterschied zur christlichen Sicht. Diese Abgrenzung ist ihm – durchaus zu Recht – ein Anliegen. Aber man hat doch öfters den Eindruck, dass man mehr an Gemeinsamkeiten finden könnte, als er es tut. Gelegentlich wird das Neue, das Jesus bringt, in einer Weise betont, dass der Verdacht entsteht, dass er das Judentum nicht nur als einen andern Weg, sondern als etwas «Überholtes» ansieht, auch wenn er das so nicht sagt. Oder wie soll man es anders verstehen, wenn er schreibt: «Die Ablehnung Jesu, seine Kreuzigung, bedeutet zugleich das Ende des Tempels. Die Zeit des Tempels ist vorbei. Ein neuer Kult kommt in einem nicht von Menschen gebauten Tempel» (36). In seiner eschatologischen Rede hat Jesus «das Ende des Tempels – und zwar sein theologisches, heilsgeschichtliches Ende – vorausgesagt» (36). Und aus dem Prozess gegen Stephanus (Apg 6–7) und aus Röm 3,23–26 schliesst Benedikt, dass «das heilsgeschichtliche Ende des Tempels in Tod und Auferstehung Jesu bereits vor der Zerstörung des Tempels geschehen» (52) sei. Für ihn ist klar, dass nach dem Ende des Tempels und des Tempelkults, der bisher im Glauben Israels zentral war, die Bibel bzw. das AT neu gelesen werden musste. «Es gibt zwei Antworten auf diese Situation – zwei Weisen, das Alte Testament nach 70 neu zu lesen: die Lektüre mit Christus, von den Propheten her, und die rabbinische Lektüre» (49). «Insofern hat auch der Glaube Israels nach 70 eine neue Gestalt angenommen» (49). Der Stellenwert, den der Papst dieser neuen Form des Glaubens Israels einräumt, ist nicht ganz klar. Aber auf jeden Fall besteht er – anders als man es in der Debatte um die ominöse Karfreitags-Fürbitte vermuten musste – nicht auf der Notwendigkeit der Judenmission (60). Wichtiger noch ist seine Aussage, dass das Judentum ein notwendiger (!) Gesprächspartner ist, um Gottes Wort recht zu verstehen: «Wir erkennen es nach Jahrhunderten des Gegeneinanders als unsere Aufgabe, dass diese beiden Weisen der neuen Lektüre der biblischen Schriften – die christliche und die jüdische – miteinander in Dialog treten müssen, um Gottes Willen und Wort recht zu verstehen» (49). Aus dem Munde eines Papstes ist das ein überraschendes und zu beherzigendes Wort, auch wenn er sein Buch nach eigener Aussage nicht als lehramtlichen Akt versteht.30

Die aufgezeigten gemeinsamen Züge mit Tendenzen der modernen Jesus-Forschung machen deutlich, dass das Jesusbuch Benedikt XVI. aus exegetischer Sicht durchaus nicht ein erratischer Block ist, sondern verschiedene dieser Tendenzen auf seine Weise aufnimmt. Andere Züge des «Third Quest» haben bei ihm allerdings gar kein Gewicht, wie etwa die ebenfalls intensive sozialwissenschaftliche Betrachtungsweise (Richard A. Horsley u. a.). Im deutschen Sprachbereich hat bereits seit den 1970er-Jahren Gerd Theissen von dieser Seite wertvolle Beiträge zum Verständnis Jesu und der «Jesusbewegung» beigetragen. Die soziale Seite des Christentums und das soziale Bemühen der Christen scheint dem Papst insgesamt nicht sehr zentral zu sein. So ist für ihn offenbar auch ein sozialwissenschaftlicher Zugang zu Jesus nicht zielführend. Seiner Grundeinstellung gemäss braucht Benedikt die modernen Tendenzen also sehr selektiv, sodass sie sein dogmatisch geprägtes Jesusbild nicht vielfältiger und kontrastreicher machen und es erst recht nicht in Frage stellen, sondern vielmehr harmonisierend verstärken. Das ist einerseits schade, weil vieles seinen Anliegen entgegenkäme und einige seiner pauschalen Kritiken an der Exegeten-Zunft überflüssig machen würde. Andererseits wird man es einem als Papst vielbeschäftigten und ausserdem dogmatisch ausgerichteten Theologen wie ihm verzeihen, dass ihm eine umfassende Literaturbearbeitung nicht möglich ist. Dazu kommt, dass die neuen Sichtweisen von Amerika und Grossbritannien her erst allmählich in der deutschsprachigen Exegese Fuss fassen.

Alles in allem

Auch wenn manches den Exegeten beim Lesen des Jesusbuches von Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. nicht überzeugen wird, ist es zweifellos ein eindrückliches spirituelles Zeugnis und bietet – gerade auch in den alttestamentlichen Bezügen – überraschende Einsichten in das Christusbild der Evangelien. Insgesamt ist es eher traditionell, stark von den Kirchenvätern und der Christologie der frühen Kirche geprägt. Auch der zweite Teil des Werkes dient dem Anliegen, den «eigentlichen» historischen Jesus mit dem Christus des Glaubens in Übereinstimmung zu bringen. Um den Glauben zu stärken, geht es «letztlich um die Vergewisserung der Tatsächlichkeit, der historischen Faktizität des Glaubens».31 Wenn Benedikt im Vorwort (13) festhält, dass es sein Ziel sei, sein Buch «von der Hermeneutik des Glaubens geführt, aber zugleich in der Verantwortung vor der historischen Vernunft, die in diesem Glauben selbst notwendig enthalten ist» zu schreiben, wird man sagen müssen, dass ihm das Erste besser gelungen ist als das Zweite. Zu oft wird die Exegese als die «ancilla» der systematischen Theologie behandelt. Aber nur wenn beide theologischen Disziplinen als Gesprächspartnerinnen auf Augenhöhe agieren, kann die Exegese – auch in ihrer historisch-kritischen Gestalt – ihre eigene Aufgabe im Rahmen der Theologie erfüllen und entsprechend ihrer Eigenart eine theologische Disziplin bleiben: nicht unbedingt als Stütze des Lehramtes, sondern als Anwältin des Schrifttextes, welche die Theologie und die Verkündigung der Kirche unermüdlich an die Ursprünge unseres Glaubens erinnert und sich nie davon abhalten lässt.

11 Ratzinger/Benedikt XVI., Jesus von Nazareth I (wie Anm. 1), 22.

12 Ebd., 6 4.

13 Ebd.

14 Ebd., 62.

15 Vgl. Ebd., 20 –21.

16 Freiburg 1994; englischsprachiges Original: Biblical Theology of the Old and New Testament. Theological Reflexion on the Christian Bible. London 1992.

17 Vgl. Hermann Häring: Aus welcher Höhe gefallen … Vom Weg der Christologie in den vergangenen 40 Jahren, in: Ders. (Hrsg.): Der Jesus des Papstes. Passion, Tod und Auferstehung im Disput. Münster 2011, 152.

18 Jens Schröter: Rez. in: Theologische Literaturzeitung 136 (2011), 1185.

19 Ebd., 1186.

20 Cambridge 2003. Vgl. die kurze und leicht erreichbare Darlegung des Konzepts in deutscher Übersetzung: James D . G . Dunn: Remembering Jesus, in: Zeitschrift für Neues Testament 10 (2007), Heft 20, 54 –59.

21 E bd., 58.

22 Vgl. bes. seinen Aufsatz: Von der Historizität der Evangelien. Ein Beitrag zur gegenwärtigen Diskussion um den historischen Jesus, in: Jens Schröter/Ralph Brucker (Hrsg.): Der historische Jesus. Tendenzen und Perspektiven der gegenwärtigen Forschung (= BZNW 114). Berlin 2002, 163–212.

23 Jens Schröter: Jesus von Nazareth. Jude aus Galiläa – Retter der Welt (= Biblische Gestalten 15). Leipzig 2006, 34.

24 Ebd., 21 f.

25 Vgl. z. B. die Diskussion zwischen Schröter und Dunn in: Zeitschrift für Neues Testament 10 (2007), Heft 20, 46 – 61; Terrence W. Tilley: Remembering the Historic Jesus – A New Research Programm?, in: Theological Studies 68 (2007), 3 –35.

26 Ratzinger-Benedikt XVI., Jesus von Nazareth I (wie Anm. 1), 20 f.

27 Vgl. dazu Paul N. Anderson: The Fourth Gospel and the Quest for Jesus. Modern Foundations Reconsidered. London-New York 2006; für deutschsprachige Leser leicht zugänglich: Ders.: Das «John, Jesus and History»-Projekt. Neue Beobachtungen zu Jesus und eine Bioptische Hypothese, in: Zeitschrift für Neues Testament 12 (2009), Heft 23, 12–26.

28 Ebd., 16.

29 Ratzinger-Benedikt XVI., Jesus von Nazareth I (wie Anm. 1), 134 –137.

30 Ebd., 22.

31 Stefan Schreiber, Rez. in: Theologische Revue 107 (2011), 288.

Franz Annen

Franz Annen

Dr. rer. bibl. et lic. phil. et lic. theol. Franz Annen war von 1977 bis 2010 ordentlicher Professor für Neutestamentliche Exegese und von 1999 bis 2007 auch Rektor der Theologischen Hochschule Chur