«Sie lügen alle!»

Spielfilme sind nie Wirklichkeit, sondern immer Fiktion. Sie eignen sich deshalb gut, mit der Wahrheit – und den Zuschauern – zu spielen.

«Du sollst nicht lügen» lautet sinngemäss das achte der biblischen Zehn Gebote und die Aufforderung, stets die Wahrheit zu sagen, gehört zum Grundbestand jeder Erziehung und Sozialisation. Aber schon Kinder lernen früh durch das Beispiel anderer, dass der Umgang mit der Wahrheit nicht immer einfach ist und dass es manchmal notwendig erscheint, aus Gründen des Selbstschutzes zu lügen, z. B. um nicht bestraft zu werden. Der Volksmund hat durch Sprichworte diese Erfahrungen kommentiert: «Lügen haben kurze Beine» oder «Wer zweimal lügt, dem glaubt man nicht.» Der kurzfristige Erfolg oder Schutz durch die Lüge bringt auf lange Sicht eher noch grössere Nachteile mit sich.

Geschichten, so wie sie das Leben schreibt, beinhalten auch immer die Existenz von Lüge und Wahrheit und das wechselvolle Verhältnis, das Personen zu beiden Grössen einnehmen und in Beziehungen umsetzen. Da nahezu alle Spielfilme von menschlichen Beziehungen erzählen (manchmal als inhaltlicher Schwerpunkt wie im Drama, manchmal nur als Bindeglied wie im Actionkino), erzählen eigentlich alle Spielfilme von Lüge und Wahrheit. Auf einer zweiten, medientheoretischen Ebene ist sogar das Medium Spielfilm selbst ein Zugang zu Lüge und Wahrheit: Auch Bilder können lügen.*

Was wäre wenn?

Spielfilme bieten eine Perspektive auf Wirklichkeit, die der Betrachter innerhalb des dargebotenen Erzählkosmos akzeptieren und auf diese Weise Wirklichkeit (re)konstruieren kann. Es ist also nicht einfach die alltägliche Wirklichkeit selbst, die mir in Spielfilmen gegenübertritt, sondern eine Perspektive, die mir Gelegenheit zur Reflexion über die alltäglich erlebte Wirklichkeit gibt. Die meisten Spielfilme funktionieren nicht nur nach relativ klar strukturierten Erzählmustern1, sondern sie können auch nach dem «Was wäre wenn»-Prinzip gesehen werden: Was wäre die Folge, wenn eine Person Lügen erzählt, diese Lügen aber anderen Personen Hoffnung spenden? Kann eine Lüge dann hilfreich, ja sogar gefordert sein?

Mit diesen zuletzt gestellten Fragen beschäftigt sich der Film «Jakob der Lügner» (DDR 1975, Regie: Frank Beyer). Jakob ist wie die anderen jüdischen Gettobewohner den deutschen Besatzern hilflos ausgeliefert. Die einzige Hoffnung auf Rettung und Überleben besteht in der Befreiung durch die heranrückende russische Armee. Jakob hat zufällig in der Kommandantur eine Radio- meldung aufgeschnappt und nun behauptet er, ein Radio zu besitzen und erfindet nach und nach Meldungen, welche die Hoffnung weiter nähren, die Befreiung stünde unmittelbar bevor. Die Selbstmordrate im Getto sinkt, viele gehen hoffnungsvoller und mutiger in den nächsten Tag. Was aber wird geschehen, wenn sich die Hoffnung auf Dauer nicht erfüllt? Jakob selbst fühlt sich zunehmend einem Dilemma ausgesetzt: Sagt er die Wahrheit, ist die Mutlosigkeit grösser als zuvor, erfindet er weiter Nachrichten, nährt er eine Hoffnung, die vielleicht nie erfüllt wird.

Täuschung als Lebensversicherung

Ein anderes Beispiel für Lügen ist das Vortäuschen einer anderen Identität: In der Komödie «Manche mögen's heiss» (USA 1959, Regie: Billy Wilder) fliehen zwei Musiker vor Killern, indem sie sich als Frauen verkleiden und mit einer Frauenband zusammen auf Tournee gehen. Der Witz des Films beruht natürlich auf dem Geschlechtertausch und auf den aus dieser Maskerade resultierenden Verwirrungen. Trotz aller grossartiger Komik bleibt das Vorspiegeln der falschen Identität eine Lüge, mag sie auch aus der Not der Bedrohung des eigenen Lebens geboren sein und niemandem direkt schaden. Letztlich spielt jeder Agentenfilm zumindest zeitweise mit dem Vorspielen einer falschen Identität. Die Lüge als Täuschung wird für die betreffenden Agenten zur Strategie. Diese Art der Täuschung wird auf die Spitze getrieben durch den undercover agierenden Spion: Im Film «Departed» (USA 2006, Regie: Martin Scorsese) versuchen zwei verdeckte Ermittler, die auf einander feindlich gegenüberstehenden Seiten operieren, sich gegenseitig zu enttarnen: Der Gangster, der als Polizist arbeitet, trifft auf den Polizisten in den Reihen der Gangster. Beide kämpfen mit ihrem Loyalitätsverständnis und leiden unter der permanenten Verstellung und Lüge, zugleich ist die Lüge der Täuschung aber ihre Lebensversicherung.

Die Lüge als Täuschung trifft eben nicht nur den bzw. die Anderen, sondern vor allem auch die Person selbst, dies musste schon Jakob, der Lügner, erfahren. Egal wie Jakob das selbst geschaffene Dilemma auflöst, die Beziehungen werden nie wieder so sein, wie zuvor. Als Jakob dann schliesslich einem Freund gegenüber die Wahrheit sagt, führt dies zur Katastrophe.

Die Wahrheit bleibt auf der Strecke

Die Serie «Big Little Lies» (USA 2017, Regie: Jean-Marc Vallée) erzählt von scheinbar harmlosen Begebenheiten in der Kleinstadt Monterey. Kleine Lügen, was jemand gesagt/getan oder nicht gesagt/nicht getan hat, gehören hier ebenso zum Alltag wie überall. Es beginnt mit einer (falschen) Anschuldigung unter den Kindern in der Grundschule: Ein erst kürzlich zugezogener Junge soll ein gleichaltriges Mädchen gewürgt haben. Der Junge bestreitet die Tat, das Mädchen besteht auf ihrer Anschuldigung. Die Mütter glauben vorbehaltlos dem je eigenen Kind, sodass sich nach und nach zwei Parteien bilden. Fast unmerklich treten in den nachfolgenden Auseinandersetzungen auch die Lügengeflechte der Erwachsenen immer mehr zutage. Als die Probleme der Kinder untereinander längst gelöst scheinen, kommt es unter den Erwachsenen zu einem gewaltsamen Todesfall als letzte Stufe einer kontinuierlichen Eskalation. Da die Serie als lange Rückblende, beginnend mit dem Zeitpunkt der Gewalttat, erzählt wird, fragt der Zuschauer nicht nur nach der Identität des Täters, sondern wird immer tiefer in Anschuldigungen, Lügen, Verdächtigungen und Feindschaften hineingezogen, sodass eine vorbehaltlose Beurteilung des Geschehens zuletzt kaum mehr möglich erscheint. Lüge und Wahrheit sind nicht mehr klar zu unterscheiden, sondern das Geflecht aus Vorspiegelungen, Täuschungen und Lügen bildet ein unentwirrbar scheinendes Netz.

Presse, Regierungen und die Wahrheit

Die Dimension des Lügengeflechts kann gesamtgesellschaftliche oder gar historische Ausmasse erreichen: Während sich «Die Unbestechlichen» (USA 1976, Regie: Alan J. Pakula) mit der Aufdeckung des sogenannten Watergate-Skandals durch zwei Journalisten der «Washington Post» befasst, geht der Film «Die Verlegerin» (USA 2017, Regie: Steven Spielberg) chronologisch noch weiter zurück. Er erzählt von der Veröffentlichung der «Pentagon Papers» 1971, mit denen nachgewiesen werden konnte, dass mehrere aufeinanderfolgende US-Regierungen die amerikanische Öffentlichkeit über die wahren Zustände in Vietnam und das damit zusammenhängende amerikanische Engagement systematisch belogen haben, sodass der Chefredakteur der «Washington Post» auf die Frage, wer denn eigentlich genau gelogen habe, nur entgegnen kann: «Sie lügen alle!» Der Film gipfelt in der Entscheidung des Obersten Gerichtshofes der USA, der die Pressefreiheit höher wertete als die Geheimhaltung bestimmter Informationen durch Regierungsstellen. Wenn eine Regierung lügt, so ist es die Pflicht der freien Presse, diese Lügen offenzulegen, auch wenn der Glaubwürdigkeit von Regierung und Politik dadurch langfristig Schaden zugefügt werden sollte.

Wenn Bilder lügen

Die bisher vorgestellten Filmbeispiele erzählen Geschichten über den Ursprung, die Natur und die Folgen von Lügen. Sie verfolgen neben dem Unterhaltungsaspekt damit einen aufklärerischen Impuls zur Aufdeckung der Wahrheit. Komplizierter, als zu erkennen, ob jemand (mit Worten) lügt, wird es, wenn ich als Betrachter entscheiden muss, welche Bilder die wahren sind bzw. welche Bilder tatsächlich die geschehene Wirklichkeit zeigen. So z. B. in den Filmen «Rashomon», «Fight Club» oder «Prestige» (siehe dazu Bonusbeitrag).

Die Lüge als Notlüge (um mich oder andere zu schützen), als Täuschung (um Identität zu verschleiern oder falsche Fährten zu legen) oder gar als Lügengeflecht (wenn Institutionen oder ganze Gesellschaften von Lügen durchsetzt sind) gehört – bedauerlicherweise – zum menschlichen Leben und zur Erfahrung von Beziehungswirklichkeit. Bilder können lügen und die Wahrheit verschleiern, ebenso wie sie aufdecken und die Wahrheit ans Licht bringen können. Obwohl alle lügen, bedeutet es nicht, dass es keine Wahrheit gibt, sie wird durch die Lüge nur umso kostbarer – und seltener.

Martin Ostermann

 

1 Zur Analyse filmischer Erzählmuster vgl. Bohrmann, Thomas, Die Dramaturgie des populären Films, in: Bohrmann, Thomas / Veith, Werner / Zöller, Stephan, Handbuch Theologie und populärer Film (Bd. 1), Paderborn 2007, 15–39; Gutmann, Hans-Martin, Beziehungsmuster, in: Religion im Kino. Religionspädagogisches Arbeiten mit Filmen, hrsg. von Kirsner, Inge und Wermke, Michael, Göttingen 2000, 181–198; Vogler, Christopher, Die Odyssee des Drehbuchschreibers. Über die mythologischen Grundmuster des amerikanischen Erfolgskinos, Frankfurt ³1999. (insbes. 183–86).

* Auf Beispiele, die sich auf der medientheoretischen Ebene mit der Wahrheit der gezeigten Bilder beschäftigen, kann aus Platzgründen nur verwiesen werden.


Martin Ostermann

Dr. theol. Martin Ostermann studierte Theologie, Philosophie und Germanistik in Bochum. Von 2014 bis 2020 war er Studienleiter bei Theologie im Fernkurs. Seit Juli 2020 ist er Leiter der Fachstelle «Medien und Digitalität» des Erzbistums München und Freising. Als Mitglied der Katholischen Filmkommission für Deutschland, Prüfer bei der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) und als Lehrbeauftragter der katholischen Universität Eichstätt und der Universität Erfurt engagiert er sich im Rahmen der Medienpädagogik mit dem Schwerpunkt der Spielfilmarbeit, vor allem in theologischer Perspektive.

 

BONUS

Folgende Bonusbeiträge stehen zur Verfügung:

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