Offizielle Lügen?

Im christlichen Mittelalter gehörten Fälschungen zum Alltag. Das damalige Verständnis von Wahrheit unterscheidet sich in Bezug auf bestimmte Dokumente stark von unserem heutigen Verständnis.

Keine Quellengattung ist so sehr mit dem Mittelalter verbunden wie die Urkunde. Über Jahrhunderte erteilte, sicherte und bestätigte sie Privilegien und Eigentum. Zugleich ist das Mittelalter das Zeitalter der Fälschung – ein Zeitalter «offizieller» Lügen, wie die Moderne urteilen würde.

Eine Epoche der Heuchler

Ausgerechnet die christlichste Epoche wirkt damit wie eine Epoche der Heuchelei. Denn von der Spätantike bis zur Renaissance bleibt die Lüge offiziell geächtet. Augustinus, dessen Gedanken die Theologie und Philosophie des Abendlands vorbereiten, widmet der Lüge gleich zwei Schriften: «De mendacio» und «Contra mendacium». Die Lüge nennt er den «Tod der Seele» und kommt zu Schluss, dass die Lüge eine «offensichtlich unwahre mit dem Willen zur Täuschung vorgebrachte Aussage» sei.

Die Definition ruft ein anderes Zitat ins Gedächtnis, nämlich eines aus dem Korpus des Historikers Ernst Bernheim: «Wenn eine Quelle ganz oder zu einem Teil sich für etwas ausgibt, was sie nicht ist, […] so haben wir es mit einer Fälschung bzw. teilweiser Fälschung oder Verunechtung zu tun.» Diese verblüffende Ähnlichkeit der augustinischen Definition der Lüge und der bernheimschen Definition der Fälschung erkannte bereits Theo Kölzer, der nachwies, dass 129 von 196 Urkunden aus der Zeit der Merowinger gefälscht waren. Bei ihren Nachfolgern, den Karolingern, sieht es nicht viel besser aus: 40 Prozent der Urkunden Karls des Grossen gelten als Fälschung, bei Ludwig dem Frommen sind es etwas weniger als ein Drittel.

Klöster als Fälscherwerkstätten

Die Verantwortlichen für solche skripturialen Schwindeleien waren fast ausnahmslos Geistliche. Die Qualität der Fälschungen schwankt dabei erheblich. Während einige Kleriker nicht einmal die richtige Schrift verwendeten (so zum Beispiel die karolingische Minuskel für eine merowingische Urkunde), hatten andere keine Skrupel, echte Urkunden aus einer Zeit als Vorlage für eine falsche zu benutzen; das Original wurde dann verklebt. Als fiktive Aussteller dienten besonders alte Herrscher. Spitzenreiter ist dabei der Merowingerkönig Dagobert (†639) – in Frankreich auch als «der gute König Dagobert» bekannt. Er gilt als letzter bedeutender Herrscher aus dieser Dynastie. 39 seiner 43 Urkunden sind gefälscht; das sind rund 90 Prozent!

In Zeiten, in denen der Klerus das Schriftmonopol besass, war der Federkiel mächtiger als das Schwert. Spätestens ab dem Hochmittelalter ging nur noch wenig ohne Urkunde. Ein Kloster, das im Streit mit der Weltlichkeit lag, konnte da schnell einen umstrittenen Hof für sich beanspruchen, Bischöfe ihre Städte befestigen oder der Klerus allgemein Privilegien verteidigen, die ihm eigentlich nicht zustanden. Manchmal spielte auch pure Eitelkeit eine Rolle. Der Abt von Sankt Maximin in Trier schien sich jedenfalls auf Reichsebene zurückgesetzt zu fühlen – und liess prompt ein Diplom fälschen, demnach er jederzeit das Recht hatte, an der Tafel des Kaisers zu sitzen.

Berühmte Klöster wie Corvey oder Montecassino entwickelten sich zu regelrechten Fälschungswerkstätten. Reichenau fungierte als Zentrum für «Auftragsfälschungen» und versorgte als «Fälscherschule» den süddeutschen Raum. Auch die weltlichen Herrscher machten dabei keine Ausnahme. Die Palette reicht von der kleinen Ortschaft Maderno am Gardasee, die sich von Otto dem Grossen angeblich vollkommen frei erklären liess – bis hin zum österreichischen Herzog, der sich mit dem sogenannten «Privilegium maius» dieselben Rechte zusicherte wie die Kurfürsten des Reiches. Der Wildwuchs an falschen Dokumenten war dabei kein Geheimnis. Als der Abt von Prüm seinem Vogt eine Urkunde Pippins vorlegte, welche die Rechte seines Klosters belegen sollte, spottete der nur; schliesslich könne ja jeder irgendetwas auf ein Blatt Papier schreiben.

Die Konstantinische Schenkung*

1198 ereignete sich ein besonders paradoxer Fall. Eine mailändische Delegation erreichte Papst Innozenz III. Die Mailänder legen ihm eine Urkunde vor, die er angeblich selbst ausgestellt hatte. Das Dokument enthielt die Forderung, einen gewissen Johannes de Ciliano ins Domkapitel aufzunehmen – und das, obwohl Mailand das Privileg besass, sich solch einem Befehl aus Rom nicht beugen zu müssen. Der ausgebildete Jurist Innozenz stellt fest, dass die päpstliche Bulle gestohlen und einem gefälschten Schriftstück angeheftet wurde. Der Papst deckte jedoch nicht nur den Schwindel auf, sondern erklärte neun verschiedene Methoden, die allgemein von Fälschern angewendet wurden. Innozenz selbst versuchte, das immer dreistere Fälscherwesen einzudämmen und kannte daher alle Tricks und Kniffe der Fälscher, die selbst nicht davor zurückschreckten, tote oder gar lebendige Päpste als Rechtszeugen zu missbrauchen.

Der Erfolg von Papst Innozenz fiel mässig aus. Mit der Konstantinischen Schenkung könnte sogar die berühmteste aller mittelalterlichen Fälschungen auf das Konto der Päpste gehen. Die Vormachtstellung des Papsttums im Abendland wurde damit durch den ersten christlichen Kaiser Konstantin selbst begründet – ein Umstand, den man wiederum gegen die mittelalterlichen Kaiser ausspielen konnte. Erst Anfang des 15. Jahrhunderts deckten Nikolaus von Kues und Lorenzo Valla unabhängig voneinander auf, dass die angebliche Schenkung kaum aus dem 4. Jahrhundert stammen konnte; das verräterische Mittelalterlatein im Text schloss das aus.

Ob die Schenkung wirklich in Rom oder doch nicht eher in einem anderen Zusammenhang im Frankenreich entstanden ist oder es sich um eine rein hagiografisch motivierte Fälschung handelt – den Grossteil nimmt immerhin die wunderbare Heilung des Kaisers durch Papst Silvester ein – ist weiterhin umstritten. Sollte letzteres zutreffen, dann stellt sich das «Constitutum Constantini» in die Reihe der erfundenen Heiligenviten oder gefälschten Reliquien. Es müssen nicht immer Urkunden und damit Rechtsgeschäfte sein. Es würde allerdings den Rahmen sprengen, wollte man auf die drei Heiligen Lanzen des Longinus oder die Vorhaut Christi eingehen, deren Herkunft bereits im Mittelalter umstritten waren. Ähnlich verhält es sich mit dem Kölner Pilger- und Reliquiengeschäft, das dazu führte, dass man aus dem Märtyrertod der elf Begleiterinnen der Heiligen Ursula bald elftausend Jungfrauen machte.

Falsch und zugleich wahr?

Wie aber ist es möglich, dass ein Zeitalter wie das Mittelalter, das wie kein anderes christlich geprägt war, offensichtlich so ein lockeres Verhältnis zur Wahrheit pflegte? Wie konnte gerade der Klerus lügen, wo führende Köpfe wie Thomas von Aquin eine Lüge unter gar keinen Umständen – auch nicht aus Not – akzeptierten? Wie konnte das Fälschertum so virulent sein, wenn Dante in seiner «Göttlichen Komödie» Fälscher und Lügner in den achten Höllenkreis verbannte, also in den zweitschrecklichsten Teil des gesamten Infernos? Heiligte für die Geistlichen der Zweck zuletzt doch die Mittel?

Die Antwort findet sich erneut bei Augustinus. Der vertrat die Ansicht, dass die Schöpfung nicht in sieben Tagen, sondern «gleichzeitig» hatte geschehen müssen. Die Genesis mache anschaulich, was als Ereignis für den Menschen unverständlich bleiben müsste: der Schöpfungsakt als etwas, das über das menschliche Vorstellungsvermögen zwangsläufig hinausginge. Die Erzählung sei demnach nicht wörtlich zu verstehen, bliebe aber dennoch Wahrheit.

Ein ähnlicher Gedanke findet sich bei Isidor von Sevilla. Er unterschied die «historia» (wahr und geschehen) von der «fabula» (weder wahrscheinlich noch geschehen). Eine Mittelposition ordnete er dem «argumentum» zu, das zwar als Sache erfunden, jedoch wahrscheinlich sein konnte. Dabei darf der Historiker selbst sogar Wahres und Falsches vermischen, wenn er dem Leser dadurch den Kern seines Werks verständlicher macht.

Fälschungen – ob nun Urkunden, Viten oder Reliquien – galten daher gemäss mittelalterlichem Verständnis als wahr, wenn sie damit einen richtigen Tatbestand verdeutlichen sollten. Die Konstantinische Schenkung, die vermutlich nach der historisch tatsächlich stattgefundenen Pippinschen Schenkung entstand, sollte dabei nicht nur real Existierendes legitimieren, sondern zugleich dessen Herkunft erklären. Auch ohne die Übergabe der Ländereien durch Pippin hatten die Päpste seit dem 6. Jahrhundert enormen Landbesitz in Mittel- und Süditalien angehäuft. Woher diese Güter kamen, hatte die päpstliche Geschichtsschreibung längst vergessen. Die bestechende Logik des Mittelalters: nur der bedeutendste christliche Kaiser der Römerzeit konnte als Schenker auftreten. Und was konnte die Wahrheit, nämlich den Sieg Christi und seiner Braut mehr verdeutlichen, als den Übergang der heidnischen Gewalt auf den Apostelfürsten?

Marco Gallina

 

* Die Konstantinische Schenkung ist eine gefälschte Urkunde, gemäss welcher Konstantin d. Gr. Papst Silvester (314–335) und dem römischen Stuhl die Herrschaft über die westliche Reichshälfte überlassen haben soll.

 


Marco F. Gallina

Marco Gallina (Jg. 1986) studierte in Bonn und Verona Italienische Literatur, Politikwissenschaft und Geschichte. Bis 2021 war er Mitarbeiter im Deutschen Bundestag. Dort spezialisierte er sich auf Themen zur Aussen-, Sicherheits- und Energiepolitik. Er arbeitet als freier Autor und Betreiber des «Löwenblogs» unter www.marcogallina.de