«Sexuelle Übergriffe im kirchlichen Umfeld» – Ein Kommentar

Am 1. Februar 2014 ist die 3. Auflage der Richtlinien «Sexuelle Übergriffe im kirchlichen Umfeld» der Schweizer Bischofskonferenz in Kraft getreten. Die Vereinigung der Höhern Ordensobern hat dieses Regelwerk als für ihre Orden analog verbindlich erklärt. Der volle Wortlaut in Deutsch, Französisch und Italienisch findet sich auf der Internetsite der Schweizer Bischofskonferenz aufgeschaltet ( http://www.bischoefe.ch/content/download/10813/103368/file/Richtlinien_d_def.pdf ). Das offizielle Communiqué der SBK ist im Amtlichen Teil der SKZ-Ausgabe Nr. 7–8 / 2014 abgedruckt (S. 102). Die folgenden Ausführungen geben einen knappen Überblick über die Neuerungen gegenüber der Vorauflage aus dem Jahr 2010. Diese erliess die Schweizer Bischofskonferenz damals für ihre Diözesen unter dem Titel «Sexuelle Übergriffe in der Seelsorge». Nun zu den einzelnen Neuerungen der Richtlinien von 2014:

1. Anwendungsbereich:

Bis anhin bezogen sich die Richtlinien nur auf sexuelle Übergriffe im Rahmen der Seelsorge und wurden von der Schweizer Bischofskonferenz für die Diözesen erlassen. Die neuen überarbeiteten Richtlinien richten sich auf das weite kirchliche Umfeld. Jetzt gelten die Richtlinien nicht nur für die direkt in der Seelsorge tätigen Personen, sondern für sämtliche, die irgendwie in den verschiedensten Bereichen im kirchlichen Umfeld wirken, wie in der Katechese, Jugendarbeit, Bildung und Erziehung, Freiwilligenarbeit, Sozialarbeit oder als Kirchenmusiker, Sakristane usw. – Die Richtlinien werden nicht mehr allein von der Schweizer Bischofskonferenz erlassen, sondern auch von der Vereinigung der Höhern Ordensobern der Schweiz. Diese erreichen somit auch die Ordensgemeinschaften, andere kirchliche Gemeinschaften und Bewegungen und Gruppierungen usw.

2. Umdenken in der Kirche:

Der Beitrag, den die Opfer, die staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen und die Medien in den letzten Jahren leisteten, haben zu einem Umdenken in der Kirche beigetragen: «Wir stellen uns der Geschichte sexueller Übergriffe – nicht mehr weil wir müssen, sondern weil wir wollen.»

3. Problem der Abhängigkeitsverhältnisse:

Es wird grundsätzlich nochmals hervorgehoben, dass Übergriff und Ausbeutung immer dort geschehen, wo ein Abhängigkeitsverhältnis ausgenutzt wird.

4. Prävention:

Das Anliegen der Prävention wird stärker betont, sowohl in der Ausbildung wie auch in allen Programmen der Fortbildung.

5. Ausbildung:

Bei der Auswahl und Zulassung der Seminaristen wie auch der Kandidaten für die Ordens- und kirchlichen Gemeinschaften müssen alle einen Strafregisterauszug vorlegen. Wenn Seminaristen oder Kandidaten für Ordensgemeinschaften den Ausbildungsort bzw. die Gemeinschaft wechseln, muss zwischen den zuständigen Verantwortlichen ein klarer und präziser Informationsaustausch stattfinden. – In der Ausbildung soll die Thematik der sexuellen Übergriffe eingehend behandelt werden; namentlich soll auf die psychischen, physischen und gesellschaftlichen Folgen für die Opfer und auf die strafrechtlichen Normen der Kirche und des Staates im Zusammenhang mit sexuellen Übergriffen und die Folgen ihrer Nichteinhaltung durch die Täter hingewiesen werden. – Vor den Weihen und auch vor den Ordensgelübden soll nochmals die Eignung der Kandidaten geprüft werden.

6. Fortbildungsprogramme:

Im Rahmen der Fortbildung sollen die Richtlinien regelmässig thematisiert und vertieft werden. Es sollen zudem die Verhaltensvorboten vorgestellt werden, welche auf ein Benehmen hinweisen, das zu sexuellen Übergriffen führen kann.

7. Vertragsgestaltung und Hinweispflicht:

Die Schweizer Bischofskonferenz und die Vereinigung der Höhern Ordensobern setzen sich für die Berücksichtigung der vorliegenden Richtlinien bei der Gestaltung von Verträgen ein. Personen, die in seelsorgerlicher, erzieherischer oder betreuender Funktionen im kirchlichen Bereich beschäftigt werden, sollen sich bereit erklären, die Richtlinien einzuhalten.

8. Fachgremium der Schweizer Bischofskonferenz – Ergänzung der Zuständigkeiten:

Das Fachgremium der Schweizer Bischofskonferenz erstellt jährlich eine Statistik der gemeldeten sexuellen Übergriffe im kirchlichen Umfeld in der Schweiz. Die diözesanen Fachgremien und die anderen Fachgruppen müssen dafür die entsprechenden Daten zur Verfügung stellen. – Das Fachgremium der Schweizer Bischofskonferenz koordiniert die Tätigkeiten der diözesanen Fachgremien und der anderen Fachgruppen im kirchlichen Umfeld, es organisiert Zusammenkünfte derselben und Fortbildungen.

9. Diözesane Fachgremien:

Es sollen von allen Bistümern Fachgremien eingesetzt werden (gegebenenfalls von mehreren Bistümern zusammen, zum Beispiel aufgrund der Sprache), ebenso von Ordensund kirchlichen Gemeinschaften. Die Mitglieder der Fachgremien werden aufgrund ihrer professionellen Kompetenz und Fachqualifikation ausgewählt.

10. Ansprechpersonen:

Die Bistumsverantwortlichen und die anderen kirchlichen Amtsträger bestimmen Ansprechpersonen, die über eine berufliche Erfahrung in der Arbeit mit Betroffenen sexueller Übergriffe verfügen und die nötige diesbezügliche Fachqualifikation aufweisen. Der Zugang zu ihnen muss so niedrigschwellig wie möglich sein, damit die Opfer sich mühelos an sie wenden können. – Die Ansprechpersonen sollen die Betroffenen auf deren Wunsch beim Einschalten öffentlicher, qualifizierter Opferschutz- und Opferhilfestellen begleiten.

11. Kirchliches und weltliches Strafverfahren:

In jedem Fall eines sexuellen Übergriffes im kirchlichen Umfeld muss sowohl ein kirchliches wie auch ein weltliches Strafverfahren angestrebt werden. Beide Verfahrensgänge ergänzen sich und sollen entsprechend parallel in Gang gesetzt werden. Die jeweiligen Kompetenzen müssen dabei beachtet werden. – Bereits im Vorfeld einer kirchlichen Voruntersuchung können und müssen zum Schutz des Opfers und der Freiheit der Zeugen sowie zur Sicherung eines einwandfreien Verfahrens superprovisorische Massnahmen ergriffen werden.

12. Berücksichtigung der neusten Bestimmungen der Kongregation für die Glaubenslehre:

Die Beurteilung von durch Kleriker begangene sexuelle Übergriffe an Minderjährigen unter 18 Jahren ist der Kongregation für die Glaubenslehre vorbehalten. In solchen Fällen beginnt die Verjährungsfrist mit der Vollendung des 18. Lebensjahres des Opfers zu laufen und dauert 20 Jahre. In besonderen Fällen kann die Glaubenskongregation sogar die Verjährung ausser Kraft setzen. Falls sich demzufolge nach der entsprechenden Voruntersuchung die Anschuldigung eines sexuellen Übergriffes an Minderjährigen als glaubwürdig erweist, muss der Fall an die Glaubenskongregation übermittelt werden. Dieser Straftatbestand ist bereits beim Kauf, Besitz (u. a. Herunterladen aus dem Internet) und bei der Verbreitung kinderpornografischen Materials gegeben.

13. Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen:

Die staatlichen Bestimmungen über die Anzeigepflicht müssen stets eingehalten werden. In verschiedenen Kantonen in der Schweiz besteht gestützt auf öffentliches Recht/Verwaltungsrecht in Fällen von sexuellen Übergriffen auf Minderjährige eine Anzeigepflicht für bestimmte Behördenmitglieder und öffentliche Angestellte. Die kirchlichen Verantwortlichen arbeiten mit den staatlichen Untersuchungsund anderen Behörden, Gerichten, Sozialdiensten und Beratungsstellen zusammen.

14. Für die Strafanzeige gilt:

a. Das Opfer ist in jedem Fall auf die Möglichkeit einer Strafanzeige nach staatlichem Recht hinzuweisen.

b. Der Täter wird, falls es die Umstände angezeigt erscheinen lassen, zu einer Selbstanzeige aufgefordert.

c. Die kirchlichen Amtsträger erheben bei einem rechtsgenügenden Verdacht Anzeige bei den staatlichen Strafverfolgungsorganen, ausser wenn das betroffene Opfer oder dessen Vertreter dagegen Einspruch erhebt. Eine Strafanzeige muss in jedem Fall erstattet werden, wenn sich die nahe Gefahr pädophiler Wiederholungstaten nicht auf andere Weise bekämpfen lässt.

15. Informationsaustausch unter Verantwortungsträgern in der Seelsorge:

Beim Wechsel des Wirkungsortes eines Seelsorgers oder eines Ordensmitglieds müssen die kirchlichen Verantwortlichen eine angemessene Information der neu zuständigen Leitungsperson sicherstellen. Bei solchen Wirkungsortwechseln muss der bisherige Ordinarius eine schriftliche Leumundserklärung zuhanden des neuen Ordinarius verfassen. Beim Einsatz von Seelsorgern und kirchlichen Mitarbeitern, die aus anderen Wirkungsorten kommen, besonders wenn sie aus dem Ausland kommen, muss von ihnen prinzipiell das Vorweisen eines erweiterten Strafregisterauszuges verlangt werden.

16. Informationen der Öffentlichkeit:

Bei sexuellen Übergriffen reagiert die öffentliche Meinung sehr sensibel. Aus diesem Grund soll von Anfang an auf eine aktive Informationspolitik gesetzt werden. Unter Wahrung des Datenschutzes soll die nötige Transparenz gepflegt werden. Bei einem Ereignis sollte von Anfang an ein geeigneter Informationsbeauftragter bestimmt werden, der als Einziger Auskunft gibt.

Joseph M. Bonnemain / Erwin Tanner-Tiziani

Dr. med. et Dr. iur. can. Joseph M. Bonnemain, Domkantor des Bistums Chur, ist als Offizial der Diözese Chur und als Spitalseelsorger tätig. Er ist Sekretär des Fachgremiums «Sexuelle Übergriffe in der Pastoral» der Schweizer Bischofskonferenz

Dr. iur. et lic. theol. Erwin Tanner ist Generalsekretär der Schweizer Bischofskonferenz.


Literatur zum Thema Missbrauch und Kirche

Monika Jakobs (Hrsg.): Missbrauchte Nähe. Sexuelle Übergriffe in Kirche und Schule [= Theologische Berichte XXXIV, hrsg. von Markus Ries und Michael Durst im Auftrag der Theologischen Fakultät der Universität Luzern und der Theologischen Hochschule Chur]. (Paulusverlag) Freiburg / Schweiz 2011, 224 Seiten.

Eglau / Leitner / Scharf: Sexueller Missbrauch in Organisationen. Erkennen / Verstehen / Handeln. (Wiener Dom-Verlag) Wien 2011, 159 Seiten.

Die Theologische Fakultät der Universität Luzern organisierte im Frühlingssemester 2011 eine Ringvorlesung zum Thema Missbrauch, die durch einen Bericht von Monika Jakobs bereits in der SKZ dokumentiert wurde (SKZ 179 [2011], Nr. 37, 597–599). Die Referate wurden in Band 34 der für die Schweiz wichtigen Reihe «Theologische Berichte» veröffentlicht. Diese bieten aus Sicht mehrerer Fächer einen guten Einblick in das komplexe Thema. Vieles darin Gesagte ist von ungebrochener Aktualität, so etwa, wenn Hans Halter darauf hinweist, dass die Kirche in Sachen Zölibat und Sexualität nicht nur über ihre Bücher gehen müsse, um sexuelle Missbräuche zu verhindern: «Das wäre zu einfach gedacht. Es ging und geht vielmehr darum, dass wir neuerdings quasi über den Umweg der sexuellen Missbrauchsaffäre wieder einmal auf kirchliche Altlasten gestossen sind» (S. 42). Dies verdeutlichen nun die Diskussionen im Vorfeld der diesjährigen ausserordentlichen Bischofssynode zum Thema Familie. Der Kirchenrechtler Peter von Sury, Abt von Mariastein, spricht in seinem Beitrag von einem «Scherbenhaufen», was die Dramatik des Themas Missbrauch in der Kirche auf den Punkt bringt. – Das Buch verdient grösste Aufmerksamkeit! Das im gleichen Jahr in Wien erschienene Buch «Sexueller Missbrauch in Organisationen » kommt auf dem Hintergrund der Situation in Österreich zu den gleichen Schlussfolgerungen wie die Schweizer Veröffentlichung. (ufw)

 

 

Joseph M. Bonnemain / Erwin Tanner-Tiziani

Dr. med. et Dr. iur. can. Joseph M. Bonnemain, Domkantor des Bistums Chur, ist als Offizial der Diözese Chur und als Spitalseelsorger tätig. Er ist Sekretär des Fachgremiums «Sexuelle Übergriffe in der Pastoral» der Schweizer Bischofskonferenz

Dr. iur. et lic. theol. Erwin Tanner ist Generalsekretär der Schweizer Bischofskonferenz.