«Damit es wieder Frühling wird in unserer Kirche»

Mit Aschermittwoch beginnt wieder die Zeit im Kirchenjahr, die meist als «Fastenzeit » bezeichnet wird. In diesen Wochen bis Ostern üben sich nicht wenige im Verzicht. Bei den einen ist es Schokolade, bei den anderen der Alkohol, bei wieder anderen sind es die Zigaretten. Andere verordnen sich in dieser Zeit einen bewussteren Umgang mit dem Fernsehen oder dem Internet, wieder andere nehmen sich vor, genauer hinzuschauen, was in ihrem Leben richtig oder falsch läuft. So kennt die deutsche Sprache auch die Bezeichnung «Österliche Busszeit» und bringt damit zum Ausdruck, dass es eine Zeit im Kirchenjahr ist, die durch Busse und Umkehr gekennzeichnet ist, aber von Ostern her ihren Sinn erhält und damit nicht einfach eine dürre Pflichtübung aus Fasten und Verzicht darstellt. Ob aber nun von «Fastenzeit» oder von der «Österlichen Busszeit» gesprochen wird, immer bleibt der Charakter der Busse vorherrschend.

Einen anderen Eindruck erhält man, wenn man die lateinischen Liturgiebücher aufschlägt. Dort ist von «Quadragesima», der Vierzigzahl, die Rede. In Anknüpfung daran heisst die «Zeit der Vierzig Tage» in den romanischen Sprachen «Quaresima» oder «Carême». Mit dieser Bezeichnung scheint eine weitere Dimension dieser Kirchenjahreszeit auf, die sich aber auf den ersten Blick nicht voll erschliesst. Spontan könnte man denken, dass die Anzahl der Tage von Aschermittwoch bis zum Hohen Donnerstag damit gemeint sei. Doch ein schnelles Nachzählen bringt gleich zu Tage, dass da zumindest ein Rechenfehler vorliegen muss. Die Zahl vierzig kann demnach keine mathematische Grösse sein.

Der 1. Sonntag der Österlichen Busszeit liefert gleich so etwas wie einen Schlüssel zum Verständnis dieser Zeit. Interessant ist in diesem Zusammenhang das Tagesgebet, das schon in den ältesten Sakramentaren aus dem 7. Jahrhundert verzeichnet ist. Die Übersetzung spricht davon, dass Gott diese heiligen vierzig Tage als Zeit der Umkehr und Busse schenke. Diese Aussage kommt im Unterschied zur lateinischen Quelle etwas dünn daher. Dort wird nämlich ein bedeutungsvolles Wort verwendet, das aber leider bei der Übersetzung keine Berücksichtigung fand: Der lateinische Gebetstext spricht vom «Sakrament der Vierzig Tage», das uns helfen möge, in der Liebe Christi zu wachsen. Die Österliche Busszeit ist nach diesem alten Gebetswort ein Sakrament, ein Heilssymbol, das wie jedes andere Sakrament auch Gottes Heil mitten im Hier und Jetzt gegenwärtig macht. Jenes Heil nämlich, das Gott seit der Urflut zu Beginn der Heilsgeschichte bis heute im Zeichen der Vierzig Tage gewirkt hat. Die Zahl vierzig ist eine hochsymbolische Zahl: Vierzig Tage und Nächte dauerte die Sintflut, bis die Taube das neue Leben ankündigte (Gen 7); Mose blieb vierzig Tage und Nächte auf dem Sinai (Ex 24,18), bevor er mit den Gesetzestafel, die ihm Gott übergeben hatte, zum Volk Israel zurückkehrte; vierzig Jahre zog das Volk Israel durch die Wüste (Jos 5,6), bis es das gelobte Land erreichte; vierzig Tage und Nächte fastete und betete Jesus in der Wüste, bis er um sich Jünger und Jüngerinnen scharte und den Anbruch des Reiches Gottes verkündete (Mk 1,13 par). Immer wieder verwendet die Bibel diese Symbolsprache, um damit Zeiten zu markieren, in denen aus Wüstenzeiten Heilszeiten werden. Hier reiht sich auch die «Zeit der Vierzig Tage» ein. Sie ruft nicht auf zu einer Rückkehr in die Vergangenheit, sondern drängt voran in die Zukunft und zielt auf die «Zeit der Fünfzig Tage», auf die Osterzeit also, auf das Heilszeichen der Vollendung am Ende der Zeiten. Nichts dürfe diese Zeit trüben, so die frühe Kirche, keine Busse, kein Knien, nur Jubel über die Erlösung der Welt solle sein. Damit die Kirche aber dieses Halleluja anstimmen kann, das nach der Apokalypse bei der endgültigen Wiederkehr Christi angestimmt werden wird, braucht es die Heilszeit der Vierzig Tage. Das Tagesgebet am Beginn dieser Heilszeit gibt an, wie das Sakrament der Vierzig Tage Gestalt annehmen kann im Leben der Kirche: Christus offenbart sich in dieser Zeit als eine «liebevolle Anziehungskraft », an der man sich anklammern darf. Diese Anklammerung an Christus führt immer tiefer in die Erkenntnis des Heilshandelns Gottes in Jesus Christus, die gekennzeichnet ist durch eine dauerhafte Umkehr und ihren Ausdruck findet in einem Leben aus dem Glauben.

Die liturgischen Feiern in dieser Zeit müssen allerdings auch etwas erkennen lassen von dieser «liebevollen Anziehungskraft » des Christusmysteriums. Bisweilen hat man in der konkreten Gestaltung der Feiern eher den Eindruck, als ginge es nur um Verzicht. Verzicht auf Blumenschmuck, Verzicht auf feierliches Orgelspiel, Verzicht auf Halleluja und Gloria usw. Dabei geht es gar nicht in erster Linie um Verzichten, um Fasten, sondern um eine Neuausrichtung auf die Zukunft, die in Jesus Christus bereits angebrochen ist. Dazu will das Fasten und Verzichten einen Beitrag leisten. Die Feiern der Kirche sollten in dieser Zeit der Vierzig Tage etwas davon spüren lassen, was es heisst, geschwisterlich auf dem Weg in die Zukunft voranzuschreiten. Somit hat Umkehr nicht nur eine individuelle Komponente, sondern zugleich eine soziale, gemeinschaftliche und damit ekklesiale Dimension, nicht zuletzt weil die Quadragesima zum einen die Zeit ist, in der sich die Taufbewerber auf die Taufe in der Osternacht vorbereiten und zum anderen die Zeit der Feiern von Umkehr und Versöhnung als der Sakramente der «Umarmung Gottes».1

Das Heilszeichen der Vierzig Tage ist in den Messformularen durchkomponiert, d. h. Lesungen und Gebetstexte sind direkt aufeinander bezogen. Nehmen wir die Liturgie der Sonntage: In einer ersten Phase ist an den Sonntagen 1 und 2 von Versuchung und Verklärung die Rede, Phase 2 (Sonntage 3–5) thematisiert die Bedeutung der Initiation (Lesejahr A), die kommende Verherrlichung Jesu durch Kreuz und Auferstehung (Lesejahr B) und im speziellen Umkehr und Versöhnung (Lesejahr C). Die dritte Phase eröffnet mit dem 6. Sonntag die Heilige Woche, indem die Passionslesung ins Zentrum gestellt wird. Durch die Zeit der Vierzig Tage kann die Gemeinde sich also auf den Weg begeben, um mit Christus von der Versuchung bis zum Kreuz und dann bis hinein in die Auferstehung zu gehen. Jeder und jede, der und die sich in dieses «Sakrament der Vierzig Tage» hineinnehmen lässt, wird umfangen von der Dynamik dieser Zeit, die von einer Wüstenzeit in das Heil führt.

Hansjörg Auf der Maur kommt bei seinen Reflexionen zu folgendem Fazit: «Wenn das Sakrament der Vierzig Tage ernster genommen würde, könnte es wieder Frühling werden in unserer Kirche, und es könnte die liturgische Quadragesima und das Volk Gottes auch für diese zerrissene und hoffnungslose Welt ein wahres Sakrament, Zeichen des Heils sein.»2

1 Papst Franziskus im Rahmen der Mittwochskatechesen am 19. Februar 2014.

2 Hansjörg Auf der Maur: Die Vierzig Tage vor Ostern. Geschichte und Neugestalt, in: Heiliger Dienst 47 (1993), 6 –23, hier 23.

Birgit Jeggle-Merz (Bild: unilu.ch)

Birgit Jeggle-Merz

Dr. theol. Birgit Jeggle-Merz ist Ordentliche Professorin für Liturgiewissenschaft an der Theologischen Hochschule Chur und a. o. Professorin in derselben Disziplin an der Universität Luzern.