A priori, Potenzial oder Leistung?

Bei Debatten um Leben und Tod werden verschiedene philosophische Konzeptionen der Menschenwürde sichtbar. Die Gottebenbildlichkeit kann als theologischer Verständnisschlüssel dienen.

«Die Würde des Menschen ist zu achten und zu schützen» (Schweizerische Bundesverfassung, Art. 7). Zur Interpretation dieses Leitgrundsatzes ist die völkerrechtliche Bedeutung von Menschenwürde heranzuziehen, wie sie sich in hochrangigen Erklärungen und verbindlichen Vertragswerken der UNO seit Ende des Zweiten Weltkriegs entwickelt hat.1* Dabei ist bereits ein bestimmtes Verhältnis von Moral und Recht vorausgesetzt, die nicht als voneinander abgeschottet, sondern in fester Bezogenheit auf- einander zu sehen sind. Der Geltungsanspruch von Menschenwürde betrifft grundsätzlich alle Felder individuellen, sozial-zwischenmenschlichen, gesellschaftlich-staatlichen und interna- tionalen Handelns. Dass damit noch kein allseits und rundum akzeptiertes Einheitskonzept zur Verfügung steht, lassen gerade gesellschaftliche Kontroversen über bestimmte rechtliche Regelungsprojekte zu grundlegenden Fragen von Leben und Tod erkennen. Das Verständnis von Menschenwürde ist nicht voraussetzungslos.
Vielmehr können die in unseren pluralistischen, liberalen und säkularen Gesellschaften vorhandenen unterschiedlichen Menschenbilder zu Differenzen führen, zu deren Beilegung Verständigungsprozesse unter Respektierung der Menschenwürde aller Beteiligten anzustreben sind.

Philosophische Zugänge

Gerade unter Voraussetzung säkularer gesellschaftlicher Verhältnisse spielt die philosophische Diskursebene eine privilegierte Rolle, insofern die Argumentation mit allgemein nachvollziehbaren Vernunftgründen in solchen Lagen zum Abbau von Differenzen angezeigt ist. Eine Übersicht über verschiedene philosophische Konzeptionen (insbesondere in bioethischen Beiträgen) kann von der doppelten Fragestellung her angegangen werden, ob Würde zum einen als gegeben oder erworben und zum andern als abstufbar oder nicht abstufbar verstanden wird.2
Eine erste und zugleich sehr stark präsente Strömung nimmt Würde als a priori in jeder menschlichen Lebensform gegeben an, und zwar in nicht abstufbarer und stets gleicher Weise. Würde kommt als universale, unteilbare, unveräusserliche und unverlierbare Grösse, sozusagen als «Mitgift», jedem Menschen als Menschen zu.
Eine zweite Gruppe philosophischer Autoren teilt zwar die Auffassung, dass grundsätzlich jeder menschlichen Lebensform Würde gegeben ist, dass aber in konfliktiven Einzelfall-Situationen auch Differenzierungen angezeigt sein können.Würde wird hier eher als «Potenzial» gedeutet, an dem jeder Mensch zwar teilhat, das aber prinzipiell graduell abstufbar ist.
Eine dritte Strömung betrachtet Würde hingegen als erworbene, aber nicht abstufbare Auszeichnung. Die Herausbildung von Charakteristika des Personseins im Entwicklungsverlauf des Menschen ist entscheidend für die Zuerkennung von Würde.3
Eine vierte Richtung differenziert ebenfalls zwischen bereits personalem und noch nicht personalem oder nicht mehr personalem menschlichen Leben. Zugleich wird die Möglichkeit gradueller Abstufungen bejaht. Für die Bewahrung und Steigerung eines einmal erlangten Würdestatus ist kontinuierliches Engagement im Rahmen des sozialen Zusammenlebens erforderlich, weshalb Würde in dieser Sichtweise geradezu als «Leistung», nämlich der Selbstdarstellung im sozialen Miteinander erscheinen kann.4

Anders verfahrende philosophische Beiträge erschliessen den Sinn von Menschenwürde durch Abgrenzung und Präzisierung verschiedener Bedeutungsvarianten.5 Grosse internationale Wirkung erzielen einige philosophische Ansätze auf der Ebene der Begründung.6 In den verschiedenen Strömungen des philosophischen Utilitarismus hingegen ist die Stellung und Respektierung von Menschenwürde mehr oder weniger prekär, sofern sie nicht ohnehin als ungerechtfertigte Privilegierung des Menschen («Speziesismus») kritisiert wird.7

Eine philosophische Deutung steht vor der Aufgabe, das Verantwortungssubjekt ‹Mensch› als unhintergehbare Prämisse normativer Reflexion, Argumentation und Kommunikation plausibel darzulegen. Gelingende Kommunikation bedarf gerade in ethisch-moralischen Belangen stets der wechselseitigen Achtung. Es wäre widersprüchlich, sich selbst aus dieser Logik auszunehmen. Achtung vor menschlicher Würde kann auch nicht Gegenstand von Abwägungen sein; sofern diese moralische Bedeutung haben, setzen sie immer schon eine Rücksichtnahme auf den Adressaten voraus. Sensualistische Positionen hingegen, die Achtungs- und Würdefragen auf einer empirischen Basis entscheiden wollen (z. B. im Sinne der Leidens- und Schmerzlinderung), bestätigen die Unhintergehbarkeit, insofern auch sie an die Verantwortungssubjektivität des Menschen appellieren müssen.8
Aus der philosophischen Ideengeschichte wird vielfach auf Immanuel Kants universalistische Fassung des Würdebegriffs auf der Grundlage des Vermögens zur moralischen Selbstgesetzgebung (Autonomie) Bezug genommen. Der Würdestatus verdichtet sich im Verständnis des Menschen als Selbstzweck, der «über allen Preis erhaben ist» und deshalb «innern Wert, d. i. Würde (hat)» (I. Kant).9
Ansätze einer Idee der Menschenwürde in tugendethischen Kontexten sind indes bereits bei Autoren der Antike erkennbar. Explizit verwendet erstmals der von stoischer Philosophie geprägte römische Staatsmann und Philosoph M. T. Cicero
die wörtliche lateinische Entsprechung von Würde (dignitas), womit die Differenz zum Tier und die Fähigkeit zur vernunftgeleiteten Lebensführung bei strenger Beherrschung der Affekte und Triebsphäre hervorgehoben wird.10  
Eine Bedeutungssteigerung auf der Ebene der Freiheit und der Selbstentfaltungsmöglichkeiten kennzeichnet Menschenwürde im Werk des Renaissance-Philosophen Pico della Mirandola.11 Doch erst nach den Unrechtserfahrungen des Zweiten Weltkriegs kam es im Rahmen und unter der Ägide der UNO zum Auf- und Ausbau eines internationalen Rechtssystems und damit tendenziell zur weltweiten Implementierung von Menschenwürde als rechtlich-politischer Leitbegriff und als Grundlage der Menschenrechte.12

Theologisches Verständnis

Schon ab der Patristik beginnt ein Interpretationsprozess, in dem die theologisch-anthropologische Auszeichnung des Menschen als Gottes Ebenbild und das philosophische Würdekonzept als Parallelen einander angenähert und bisweilen miteinander verschmolzen werden. Die viel zitierte Belegstelle Gen 1,26 f. bekräftigt, dass die Menschen – geschlechterübergreifend und streng egalitär – «als Bild Gottes» erschaffen seien.13 Diese Bibelstelle verbindet damit eine hervorgehobene Verantwortungsstellung, den sog. Herrschaftsauftrag (dominium terrae).
Im Neuen Testament wird neben dem Menschen auch Christus selbst in singulärer Weise als Gottes Ebenbild bezeichnet (vgl. 2 Kor 4,4; Kol 1,15).14 Die Sendung Christi zielt auf die Erneuerung der durch die Sünde verletzten gottebenbildlichen Würde des Menschen. Die Gleichgestaltung mit Christus als Ebenbild Gottes wird eschatologisch vollendet. Die früh einsetzenden Versuche zur Identifikation der Gottebenbildlichkeit mit herausragenden Fähigkeiten (z. B. Vernunft) scheiterten allesamt. Nach heutigem Konsens bezieht sich die Auszeichnung der Gottebenbildlichkeit auf den ganzen Menschen als Person. Menschenwürde und Gottebenbildlichkeit sind jedoch nicht einfachhin zu identifizieren. Dies bedeutet auch, dass man Erstere nicht umstandslos als einen säkularen Ausdruck für Letztere in Anspruch nehmen kann. Menschenwürde muss in einem weltanschaulich neutralen Staat für unterschiedliche Deutungsansätze zugänglich sein.15
Die Sonderstellung des gottebenbildlich erschaffenen, in Christi Heilswerk einbezogenen und zur endgültigen Gemeinschaft mit Gott berufenen Menschen impliziert eine Verantwortlichkeit, in Freiheit sein Leben zu gestalten. Gottebenbildlichkeit verweist so auf die moralische Autonomie des Menschen und damit auf den Kern der Menschenwürde.16

Im Rahmen der Theologie sind verschiedene Disziplinen mit der Bearbeitung dieser Themenkreise befasst. Sowohl im deskriptiven als auch (und insbesondere) im normativen Sinn ist die theologische Ethik involviert. Zu deren Aufgaben gehört auch die wissenschaftliche Begleitung der kirchlichen Sozialverkündigung, in der vielfach auf die gottebenbildlich verstandene Menschenwürde Bezug genommen wird.17
In den Beiträgen dieser Ausgabe werden Fragen berührt, zu deren Behandlung ein Rekurs auf die Menschenwürde als generelle Leitorientierung notwendig, aber allein noch nicht zureichend ist, um zu einer genügend praxisnahen Lösung zu kommen. Dazu bedarf es zusätzlich einer sachkundigen Analyse und Vermittlung (mit) der jeweiligen, konkreten Situation.


Hans J. Münk

* Alle Anmerkungen in diesem Artikel sind als «Bonusbeitrag» unter www.kirchenzeitung.ch aufgeführt. Sie enthalten Literaturangaben und weiterführende Gedanken.


Hans J. Münk

Prof. em. Dr. Hans J. Münk (Jg. 44) war von 1987 bis 2009 ord. Professor für Theologische Ethik und bis 2004 zudem auch für Philosophische Ethik sowie Leiter des Instituts für Sozialethik an der Theologischen Fakultät Luzern.

 

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