«Seht her, so esse ich»

Die Kirche soll die Zeichen der Zeit erforschen und sie im Licht des Evangeliums deuten. Zu verzeichnen ist eine starke Individualisierung und Medialisierung des Essens. Die SKZ fragte nach den Gründen.

Ob ethische Gründe wie bei vielen Veganern, ob gesundheitliche bei Allergien und Intoleranzen, ob Frutarier, Flexitarier oder Paläo-Ernährung oder einfach Lifestyle – die Vielfalt an Ernährungsweisen ist grösser geworden. In der Wissenschaft ist von einer Individualisierung der Ernährung die Rede. Essen diene der Selbstverwirklichung, der Selbstoptimierung und auch der Selbstinszenierung der Einzelnen.

SKZ: Seit wann beobachten Sie eine stärkere Individualisierung des Essens?
Christine Brombach: Eigentlich ist das Essen eine sehr egoistische Handlung, weil ich ja meinen eigenen Magen fülle und nur meinen eigenen Leib dadurch ernähre. Was ich geschluckt und gegessen habe, kann ich mit niemandem mehr teilen. Doch das Teilen von Essen und der Zeit während eines gemeinsamen Mahls ist das, was uns als Menschen verbindet. Mit der Industrialisierung begann eine zunehmende Trennung von Wohnen und Arbeiten, und damit nahm auch die Individualisierung rapide zu. Diese Entwicklung verschärfte sich in den letzten 100 Jahren dahingehend, dass es in der Schweiz derzeit prozentual mehr Einpersonenhaushalte gibt als Zwei- und Mehrpersonenhaushalte. Eine Zunahme an Einpersonenhaushalten kann darauf hinweisen, dass dort eher alleine gegessen wird. Gegenwärtig entwickelt sich die Individualisierung des Essens weiter, sicher auch dadurch bedingt, dass das Essen in der Alltagshektik zunehmend nebenbei geschieht. Da wird am Arbeitsplatz rasch vor dem PC etwas verzehrt oder auf dem Weg zur Arbeit das schnell gekaufte Brötchen gekaut.

Einerseits wird der persönliche Ernährungsstil «zelebriert» und andererseits wird das Brötchen nebenher gegessen.
Wir Menschen sind nicht besonders rationale Wesen, und Essen ist eine hochemotionale Angelegenheit. So kommt es auch, dass wir quasi «situativ» essen. Das «Zelebrieren» beispielsweise bedeutet, dass ich in diesem Moment dem Essen die volle Aufmerksamkeit schenke und mir auch die Zeit dazu nehme. Das nebenbei gekaute Brötchen ist Ausdruck einer Wertigkeit, die ich momentan dem Essen entgegenbringe. Aber es ist auch gleichzeitig eine Haltung des Luxus, denn in Mangelsituationen ist Essen viel zu wertvoll, um es nebenbei zu tun. Eigentlich sollten wir jeglichem Essen die volle Aufmerksamkeit widmen und es als Gabe betrachten, so wie es ja bei uns noch bis vor wenigen Jahrzehnten üblich war. Da war es ungehörig, nebenbei zu essen oder gar aus der Hand auf der Strasse. Achten Sie mal darauf, wir sind eine Gesellschaft geworden, wo die «mampfende Fortbewegung» zum Strassenbild gehört. Das finde ich insofern bedenklich, weil damit die Wertschätzung den Lebensmitteln gegenüber und denjenigen, die diese anbauten, produzierten und verarbeiteten, nicht mehr vorhanden ist.

Worin sehen Sie die Gründe für die Individualisierung des Essens?
Es gibt verschiedene Gründe, weshalb es zu dieser zunehmenden Individualisierung kam. Sicher hat es neben den veränderten Arbeitsbedingungen auch mit der ständigen Verfügbarkeit von Essen zu tun. Wenn Sie durch eine Fussgängerzone einer Stadt gehen, gibt es alle paar Meter etwas zum Essen zu kaufen; es gibt kaum mehr eine «essensfreie Zone». Wir leben heute in einem modernen Schlaraffenland – Essen ist 24 Stunden an 365 Tagen verfügbar! Das gab es in der Menschheitsgeschichte so noch nie. Doch es sind noch andere Gründe, die zu der beobachtbaren Individualisierung beitragen. Gemeinsames Essen benötigt Absprachen, Verbindlichkeit und eben auch Zeit, und all dies meinen wir nicht mehr zu haben oder investieren zu wollen.

Wie bewerten Sie diese Entwicklung?
Essen ist in hohem Masse ein soziales Geschehen. Es sollte nicht unterschätzt werden, welche verbindende Kraft ihm innewohnt. Gemeinsames Essen schafft eine Basis der Zugehörigkeit. Das erste gemeinsame Essen, das Menschen erleben, ist, wenn sie als Neugeborene in den Armen der Mutter gefüttert werden. Dieses ganzheitliche Erleben von Umsorgtsein, Wärme, Geborgenheit und Essen ist das, was uns so sehr prägt. Georg Simmel, ein deutscher Soziologe, bezeichnete «Essen und Trinken müssen» als kleinsten gemeinsamen Nenner, den alle Menschen miteinander teilen. Menschen haben kaum Instinkte, die biologisch vorgeben, welche Nahrung gegessen werden kann, wie diese zubereitet und in welcher Weise sie verzehrt werden sollte. Als instinktarme Wesen müssen wir in einem Sozialisationsprozess erst erlernen, welche Speisen wann, wie, von wem und in welcher Abfolge verzehrt werden. In keiner Kultur ist Essen voraussetzungslos oder beliebig. In einem langen So- zialisationsprozess erlernen Menschen den in einer Kultur als «richtig» oder auch als «gesund» erachteten Umgang mit Essen, wobei die gültigen Regeln von Kultur zu Kultur sehr unterschiedlich sind. Diese Regeln werden übermittelt, z. B. beim gemeinsamen Essen. Wenn es das gemeinsame Essen nicht mehr gibt, dann fehlen die Voraussetzungen, Regeln, gemeinsame Werte sowie das Miteinander, praktisch zu lernen, zu erfahren und einzuüben.

Was Sie hier beschreiben, bringt die deutsche Expertin auf dem Gebiet der Soziologie des Essens, Eva Barlösius, auf den Punkt, indem sie das Essen als «Geburtsstätte der Moral» bezeichnet.
Im Kontext unserer Esssozialisation lernen wir, was «richtig» oder «falsch», anständig oder unanständig ist. Das sind Werte, die vermittelt und ausgehandelt werden, vor allem auch am Familientisch.

Wirft man einen Blick auf die Medien, sind im Fernsehen Kochsendungen nicht mehr wegzudenken, und «Food Porn» liegt hoch im Trend. Es ist also eine enorme Medialisierung des Essens auszumachen. Wieso?
Essen ist ein Thema, das buchstäblich in allen Mündern ist; es wird sehr kontrovers und öffentlich über Essen und Essverhalten diskutiert. Dabei sind diese Diskurse oft nicht wissenschaftsgetrieben, sondern vor allem in den sozialen Medien von Interessengruppen emotional und meist wertaufgeladen geführt. Und es stehen in den öffentlichen wie auch herkömmlichen Medien nicht die Fragen einer Knappheit im Vordergrund, sondern vielmehr Fragen, welches denn das «richtige» oder «richtigere» Essverhalten sei. Wir leben in einer zunehmend säkularisierten Welt, wo klare und verbindliche Regeln, die das Zusammenleben und auch den Umgang mit Essen strukturieren, fehlen. In diesem Leerraum entstehen Unsicherheit und Orientierungslosigkeit, und es zeigt sich eine fehlende Sinnhaftigkeit. Diese Orientierungslosigkeit wird zunehmend durch die Beschäftigung mit Ernährung gefüllt, weil das etwas ist, wo ich scheinbar ganz konkret, materiell, noch die Kontrolle habe.

Was motiviert Menschen, Gerichte zu fotografieren und ins Netz zu stellen?
Der Wunsch, sich selbst darzustellen und zu zeigen, ist dem Menschen eigen. Die sozialen Medien schaffen ein enormes Potenzial, auch eine grosse Gruppe möglicher «follower» zu erreichen. «Seht her, so esse ich», ist ein Bekenntnis. Ich zeige, wie ich esse, wer ich bin oder sein möchte. Bilder bieten auch die Möglichkeit, die Realität zu beschönigen. Damit schaffe ich eine virtuelle Realität, die aber auch grossen Druck erzeugen kann. Insbesondere Bilder von schönen, erfolgreichen, jungen und privilegierten Menschen, die sich auf Instagram, Youtube, Facebook usw. tummeln, spiegeln mir vor, was ich auch haben will. So versuche ich, deren «Anweisungen» zu folgen, damit ich ebenfalls dorthin gelange. Food Porn ist auch eine Form eines Selbstoptimierungsrahmens, wo ich mein Verhalten dokumentieren, mich mit anderen messen und in einen Wettbewerb treten kann.

Der European Food Trends Report 2017 spricht von «Essen ist Gesundheit» und «digestiver Wellness» als ganz neue Trends. Von gesunder Ernährung ist doch schon seit Jahrzehnten die Rede.
Im Prinzip sind das einfach wohlklingende Begriffe, die sich gut verkaufen. Hinter «digestiver Wellness» steckt die Erfahrung, dass es Essen gibt, das mir körperliches Wohlgefühl verschafft. Ich bin da immer etwas skeptisch und kritisch, wenn solche Trends beschrieben werden. Vieles ist einfach ein etwas bunterer, grellerer oder andersfarbiger Begriff, der ein Phänomen zu beschreiben sucht. Gesundheit ist sehr vielschichtig, aber sie ist ein Treiber und eigentlich kein Trend mehr, sondern Mainstream.

Was ist für Sie eine gute und gesunde Ernährung?
Für mich sollte eine gesunde Ernährung schmecken, es muss etwas sein, was ich auch im Alltag ohne grossen Aufwand umsetzen kann, keine Nahrungsergänzungen benötigt und überdies auch die Umwelt schont. Konkret esse ich vorwiegend pflanzenbetont, wenig Fleisch und Fisch. Ich esse vorwiegend Vollkornprodukte und koche täglich frisch. Ich achte darauf, wo meine Lebensmittel herkommen, hole meine Milch bei einem Bauern meines Wohnortes und kaufe gern auf Märkten ein. Zugegeben, das ist Luxus! Aber eines ist mir am Essen besonders wichtig: Es soll schmecken, und am liebsten esse ich gemeinsam mit meiner Familie und mit Freunden.

Interview: Maria Hässig

 

* Die Zurschaustellung von Essen durch superästhetisierte Fotografie nennt man kurz «Food Porn». So werden Gerichte (z.B. in einem Restaurant) fotografiert und in den sozialen Medien geteilt. Unter dem Hashtag «foodporn» finden sich auf der Plattform Instagram über 183 Millionen Beiträge.


Christine Brombach

Prof. Dr. Christine Brombach studierte Ernährungs- und Haushaltswissenschaft in Giessen (D) und Knoxville, TN (USA). Sie promovierte an der Universität Giessen über das Ernährungsverhalten von Frauen über 65 Jahren. Seit 2009 arbeitet sie am Institut für Lebensmittel- und Getränkeinnovation an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) in Wädenswil.

 

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