Essen heute – aufwendig und überfordernd?

Food Trends stillen das Bedürfnis nach Individualisierung und führen die Menschen gleichzeitig in Diskrepanzen zwischen Individualität und Gemeinschaftszugehörigkeit, medialer Inszenierung und alltäglicher Praxis.

Kurz vor Weihnachten lag am Flughafen Zürich das aktuelle Heft von «Bona Lifestyle» aus, seit fünf Jahren in der Schweiz verlegt und sich ganz unbescheiden als «Das Magazin für Fortgeschrittene» anpreisend. Der Themenschwerpunkt befasste sich mit Food Trends: kulinarisch gehaltvoll, ökonomisch sinnvoll, ökologisch wertvoll, gastronomisch ruhmvoll, fast ein «full strike»1, wie man beim Bowling sagen würde.

Ob es sich dabei – Jahr für Jahr mit Verve lautstark propagiert – tatsächlich um Trends handelt, die sich über längere Zeit hinweg entwickeln und nachhaltig die Zukunft bestimmen, wie beim «Popcorn-Report»2 nach bald 30 Jahren anzuerkennen, mag dahingestellt bleiben. So verkündete Hanni Rützler, Autorin des «Food Report», für das Jahr 2018 sechs Trends, die unsere Ernährung bestimmen sollten:

  1. «Meet (your) food», da unser Interesse an Herkunft und Herstellung dessen, was wir essen und trinken, deutlich zunehmen würde;
  2. «Female Connoisseurs», indem Frauen auf Seiten der Ernährungsproduzenten an Gewicht gewinnen dürften;
  3. «The New Breakfast», weil Frühstücken in unserer Wertschätzung wieder steige;
  4. «Fleisch ist die neue Beilage», da vegetarische und vegane Ernährungsweisen weiter im Vormarsch seien;
  5. «Die neue Küche der Levante», aufgrund einer verstärkten Nachfrage der arabischen und israelischen Küche;
  6. «De-Processing», d.h. ein Rückgang des Konsums von Industrieprodukten.

Inwieweit diese sechs Trends tatsächlich bevölkerungsweit bedeutsam wurden und nicht bloss eine kleine, aber meinungsstarke Minderheit von Bessergestellten, Fortgeschrittenen, Gebildeten faszinieren und in Zukunft auch nachweisbar verhaltensprägend wirken werden, darf durchaus kritisch hinterfragt werden, angesichts wachsender sozialer Ungleichheiten weltweit.

Zweifelsohne beeinflussen solche Ernährungstrends aber unsere aller Lebensführung erheblich, und dies betrifft nicht nur die kurzen Zyklen sich ständig abwechselnder Diätenmoden oder gar Fragen der Diätetik. Vielmehr sind derartige Ernährungstrends inzwischen geradezu identitätsstiftend geworden. Sie inspirieren, bieten Abwechslung, stiften Gemeinschaftlichkeit, prägen die Selbstdarstellung und bereichern die Kommunikation mit anderen enorm.

Es ist gewiss abwegig, diese ständigen, medial und privat bisweilen hitzig ausgetragenen Debatten um richtige, moralisch einwandfreie Produktions-, Distributions- und Konsumtionsweisen all dessen, was inzwischen millionenfach an Ernährungschancen zur Auswahl steht, ideologisch vorschnell aufzuwerten. Dennoch drängt sich der Eindruck auf, solcherart Ernährungsmoden seien längst probate Mittel geworden, um für unterschiedlichste Zwecke symbolisch eingesetzt zu werden.

Zwischen Individualisierung und Kollektiv

Herrschte noch bis in die zweite Hälfte des 20.  Jahrhunderts die öffentliche Wahrnehmung vor, einer bestimmten sozialen Klasse anzugehören, die umfassend vorgibt, wie man zu leben, zu arbeiten, zu heiraten, zu wählen und sich zu ernähren hat, wodurch umso mehr auffiel, wenn Einzelne allzu sehr aus der Reihe tanzten und von der Norm abwichen, ist die sogenannte Individualisierung inzwischen zu einem vorherrschenden Merkmal unserer Gesellschaft geworden. Heutzutage muss man sich mehr denn je dahingehend profilieren, als etwas Besonderes zu erscheinen. Andreas Reckwitz nannte dies jüngst «die Gesellschaft der Singularitäten».

Mit dem Verlust eines übergeordneten Systems der bevölkerungsweiten Statuszuweisung fällt die Aufgabe des Statuserwerbs zusehends auf jeden Einzelnen zurück. Dass dies schnell und unabsichtlich in pure Beliebigkeit abgleiten kann, ist hochwahrscheinlich. Alles wird dann herangezogen und ausprobiert, ob bzw. inwieweit es dem drängenden Bedürfnis nach Individualisierung und Differenzierung genügt. Tun dies freilich alle, wird es schnell inflationär und verliert an Distinktionswert. Doch was wäre die Alternative? Einen Weg zurück gibt es nicht – zumal der vorherige Zustand alles andere als paradiesisch war: Wenn das Kollektiv vorgibt, was Sache ist, fühlt sich das nicht unbedingt besser an. Fällt diese Verantwortung aber auf das Individuum allein zurück, grenzt das schnell an Überforderung – was wiederum die Sehnsucht nach einem Kollektiv fördert, um sich dadurch entlasten zu können, dass man sich dem Gruppenurteil fügt. Eine paradoxe Situation, die Georg Simmel für die Mode3 schon vor mehr als 100 Jahren prägnant beschrieb.

Debatten dienen der Selbstinszenierung

Fragt man vor diesem Hintergrund, weshalb nun gerade Ernährungstrends seit Jahren so viel Aufmerksamkeit erfahren, gibt es dafür wohl mehrere Gründe. So lässt sich durch Fragen nach der richtigen Ernährungsweise stellvertretend und sehr treffend Gesellschaftskritik üben, häufig noch als Kapitalismuskritik gelabelt. Zugleich vermitteln Ernährungsthemen Makro- und Mikroprobleme hervorragend: Wie ich mich persönlich ernähre, könnte Auswirkungen auf das grosse Ganze haben. Anders herum hat das gegenwärtige Welternährungssystem direkte Auswirkungen auf jeden Einzelnen von uns. Alles ist miteinander vernetzt. Hierzu kritisch Stellung zu beziehen, ist nicht zuletzt moralisch ungemein wertvoll und befriedigend, allein dadurch schon, dass man es überhaupt tut.

Vor allen Dingen aber kann durch Ernährungsthemen das Privat-Persönliche, oder mit Reckwitz gesprochen: das Singuläre und Idiosynkratische der eigenen Existenz, ausgezeichnet inszeniert und manifest gemacht werden. Existenzieller geht es ja kaum noch, ist damit doch der Mensch in ganz und gar elementarer Qualität betroffen und adressiert. «Man ist, was man isst», möchte man fast raunen. Jenseits aller Zweifel legitim ist es überdies. Kritik und Skepsis verbieten sich per se, wenn es um Fragen der richtigen Ernährung geht. Dies haben Wertedebatten so an sich.

Jedenfalls bieten solche Ernährungsthemen einen speziellen Mehrwert, der mit dem Klein-Klein der alltäglichen Ernährungspraxis wenig zu tun haben dürfte. Hier darf berechtigt ein «Attitude-Behavior-Gap»4 vermutet werden. Wobei diese Lücke (gap) möglichst nicht einmal geschlossen werden sollte, weil damit begehrte Freiheitsgrade verloren gingen: Müsste man sich konsequent so verhalten, wie man öffentlich Stellung bezieht, wäre das ungemein anstrengend. «Walk the Talk»5 in Sachen Ernährung ist heutzutage wohl kein reines Vergnügen, wenn es um solch fortschrittliche, aufgeklärte Ernährungstrends geht, sondern aufwendig und fordernd, ja tendenziell überfordernd. Insofern besitzen diese Trends allein schon durch ihre eminent wirksame «Talk the Talk»-Qualität6 einen besonderen Reiz. Sie stellen ein ideales Medium dar, das fast unerschöpflich ist hinsichtlich der Möglichkeiten erwünschter Selbstinszenierung.

Hedonist zu sein ist opportun

Tritt man von diesem Szenario einen Schritt zurück und lässt die Moralisisierung bzw. Politisierung, die damit oft einhergehen, vorübergehend ausser Acht, können solche Ernährungstrends schliesslich schlicht als Ausdruck eines von uns allen mal mehr, mal weniger gefrönten Hedonismus gewertet werden. Essen und Trinken sind seit jeher mit der Erwartung des individuellen Wohlergehens verknüpft. Man gönnt sich ja sonst nichts – sozusagen. Gut und gesund zu essen und zu trinken, stellen für sich erstrebenswerte Seinszustände dar. Daran lässt sich kaum etwas aussetzen. Sich dafür also positiv auszusprechen und öffentlich wie privat dafür einzutreten, ist nicht minder legitim. Und wohl in kaum einer früheren Gesellschaft wird dem Hedonismus so viel Freiraum zugestanden wie in unsrer. Hedonist zu sein ist in bestimmten Kreisen absolut opportun, der allgegenwärtige Gruppendruck immunisiert zusätzlich gegenüber Kritik an einer gewissen Doppelmoral und Scheinheiligkeit. Zwar lässt sich heutzutage kaum noch ohne schlechtes Gewissen leben, weil jeder in irgendeiner Art und Weise mitbeteiligt ist am Elend dieser Welt. Doch will man das rund um die Uhr immer wissen? Wohl kaum! Nicht zuletzt deshalb verspricht die Teilnahme an solchen Diskursgemeinschaften einen speziellen, oft latenten Lustgewinn: Man versichert sich wechselseitig unisono, das Richtige zu wollen.

Ob diese Rechnung am Ende des Tages, angesichts globaler Interdependenzen von allem, was wir tun und unterlassen, tatsächlich aufgeht, ist allenfalls einem jüngsten Gericht zur Entscheidung überlassen. Wie überhaupt der Selbstbehauptungswille gegenüber der Ausgeliefertheit angesichts weitgehend undurchschaubarer, ja unerforschlicher Verhältnisse eine theologisch interessante Fragestellung bedeutet. Anders gefragt: Wie sähe eine postreligiöse Theodizee im Spiegel aktueller Ernährungstrends aus?

Kai-Uwe Hellmann

 

1 Abräumen mit dem ersten Wurf.

2 Der «Popcorn-Report – Trends für die Zukunft» von Faith Popcorn, erschienen 1991/1992. Die US-amerikanische Bestsellerautorin Faith Popcorn stellte in ihrem Buch 17 Megatrends und Prognosen für das kommende Jahrtausend vor.

3 Der deutsche Georg Simmel (1858–1918) war einer der ersten Soziologen, der sich mit dem Thema Mode auseinandersetzte. 1905 veröffentlichte er seinen ersten Artikel über Mode «Philosophie der Mode». Seine Ausführungen prägen Debatten über dieses Thema bis heute.

4 Wissen-Verhaltens-Lücke oder Wissen-Praxis-Lücke.

5 Den Worten Taten folgen lassen.

6 «Reine Rhetorik» ohne praktische Konsequenzen.

 


Kai-Uwe Hellmann

Prof. Dr. Kai-Uwe Hellmann (Jg. 1962) studierte Philosophie und Politikwissenschaften in Hamburg, Tübingen, Frankfurt a.M. und Berlin. Er promovierte und habilitierte in Soziologie. Er ist ausserplanmässiger Professor für Konsum- und Wirtschaftssoziologie am Institut für Soziologie der Technischen Universität Berlin.