Essen und Gutseinlassen

«Der Mensch ist, was er isst», gab der Philosoph Ludwig Feuerbach 1850 zu Protokoll. Und seither wird der Spruch wieder und wieder gekaut. Furchtbar. Auch, dass ich das eines Tages schreiben würde. Aber dank Reizüberflutung, vor allem auf den sozialen Medienkanälen, ist das Thema Essen zum Drama geworden. Food Porn* – oder das Ich auf dem Teller. Wahnsinnig überzeichnet. Und wenn sogar die «WOZ» schreibt, dass «der Foodhype nervt», dann wird es höchste Zeit, in sich zu gehen.

Seit ich denken kann, beschäftige ich mich mit Essen, und ich gestehe, dass ich meine Leidenschaft lebe, gerade weil ich seit bald 20 Jahren nichts anderes tue, als Schriften und Zeitschriften über kulinarische Themen zu verfassen und herauszugeben. Wichtigtuerei und das Gehabe darum herum kann ich hingegen kaum noch ertragen. Selbst ich werde bei jeder Tischreservation nach Allergien gefragt. Ich habe aber keine. Anscheinend bin ich der letzte Normalesser.

Heute muss man mindestens drei Abneigungen, zwei Allergien und eine Unverträglichkeit aufweisen (nicht nachweisen), um im Gespräch zu bleiben. Langeweile ist der Feind des «spannenden» Menschen, so können Allergien, Intoleranzen, Unverträglichkeiten und weitere Anfälle im Laufe des Abends natürlich spontan auftreten und sich auch laufend verändern. Wer am meisten unter diesem Gehabe leidet, sind alle jene, die wirklich allergisch oder intolerant sind. Der Kulturwissenschaftler Prof. Dr. Gunter Hirschfelder von der Uni Regensburg beschrieb das Phänomen wie folgt: «Wir haben Angst im grossen Massstab und versuchen im Kleinen, Gluten auszuweichen, was den meisten Menschen gar nichts tut.» Aha. Gluten ist also gar nicht vorsätzlich und grundsätzlich böse?

Auch wahr ist jedoch, dass Essen nichts Persönliches mehr ist, denn jede Essensentscheidung, die wir treffen, hat (globale) Auswirkungen, und diese werden den aufgeklärten Konsumenten langsam klar. Aber Essgewohnheiten sind fragil und der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Warum hat sich in all den Jahren der subventionierten Ernährungserziehung gar nicht so viel verändert? Warum essen die Menschen in der Kantine nach wie vor das am liebsten, was sie am meisten mögen? Schnitzel. Pommes. Ketchup. Vor 40 Jahren ging es ihnen danach gut. Heute fühlen sie sich danach schlecht, weil sie sich schlecht fühlen sollen. Genau wie sie nach dem Stück Kuchen glauben, gesündigt zu haben. Sorry, dass ich mich dem Theater entziehe, indem ich mich strikt an die «kulinarische Körperintelligenz» halte. Der deutsche Ernährungswissenschaftler Uwe Knopp ist nämlich der Meinung, dass man mit echtem Hunger, der im Gegensatz zum emotionalen Hunger stehe, essen könne, was man wolle. Bei mir funktioniert das soweit ganz gut. Ich esse in den besten Restaurants, wiege seit Jahren gleich viel und zu Hause mag ich Gschwellti. Was sagt das jetzt über mich aus? Dass ich mit wenig zufrieden bin? Ein simpel gestrickter Typ bin? So einfach kann es ja nicht sein. Aber anscheinend hat der Mensch in seiner Individualisierungsnezessität heute keine andere Ausdrucksmöglichkeit mehr, als sich über die Art seiner Speisewahl von anderen abzuheben.

Ich plädiere weiterhin für Vielfalt, Demut, Qualität und für komplexfreien, aber intelligenten Genuss. Ich katalogisiere mich als Geniesser-Typ und weiss, dass dieser Typus vom Aussterben bedroht ist, weil die Zeit für bewussten Genuss heute fehlt. «Nur wer Zeit hat, kann auch geniessen», sagte der Ernährungspsychologe Prof. Iwer Diedrichsen. Genuss sei einer der grundlegenden Faktoren für den Erhalt unserer Gesundheit. Und jetzt serviere ich Ihnen zum Dessert und folglich mit schlechtem Gewissen noch einen weiteren Spruch: «Wer nicht geniesst, wird ungeniessbar.»

Andrin C. Willi

 

* Die Zurschaustellung von Essen durch superästhetisierte Fotografie nennt man kurz «Food Porn». So werden Gerichte (z. B. in einem Restaurant) fotografiert und in den sozialen Medien geteilt. Unter dem Hashtag «foodporn» finden sich auf der Plattform Instagram über 185 Millionen Beiträge.


Andrin C. Willi

Andrin C. Willi (Jg. 1976) ist seit 2006 Chefredaktor und Geschäftsführer der Marmite Verlags AG. «Marmite» ist die unabhängige Schweizer Zeitschrift für Ess- und Trinkkultur. Zuvor war er Chefredaktor der Zeitschrift «Salz & Pfeffer», Redaktionsleiter der Weinzeitschrift «Vinum» und Reporter und Moderator von TV-Kochsendungen bei Radiotelevisiun Svizra Rumantscha. Er hat eine Ausbildung an der Schweizerischen Hotelfachschule Luzern SHL absolviert sowie mehrjährige Praxis in Fünfsternehotels in der Schweiz. Willi ist einer der profiliertesten Gastrojournalisten und -kritiker unseres Landes.