Sehnsucht nach der Erfahrung des Heiligen

Im Oktober findet die Bischofssynode «Die Jugendlichen, der Glaube und die Berufungsunterscheidung» statt. Was ist jungen Katholiken der Generation Y und Z wichtig? Wonach suchen sie?

Volle Kirche am Weltjugendtag in Freiburg i. Ue. (Bild: www.weltjugendtag.ch)

 

Die Kathedrale von Freiburg i. Ue. ist an diesem Samstagabend voll mit jungen Menschen, die zum nationalen Weltjugendtag gekommen sind. Fast alle knien. In den Seitenkapellen sitzen Priester beim Beichthören. Die Band spielt ein Anbetungslied und die Scheinwerfer in der abgedunkelten Kirche sind auf Ihn gerichtet: Christus, den König, gegenwärtig im Zentrum der Monstranz, die feierlich durch den Mittelgang nach vorne getragen wird.

Ein Paradigmenwechsel steht an

Was manch älterem Gläubigen wie mir leicht befremdlich oder sogar geradezu unerträglich erscheinen mag, ist für manche jungen Katholiken von heute ein Höhepunkt ihres geistlichen Lebens. Und bis vor wenigen Jahren habe auch ich noch gedacht, was ich um mich herum immer wieder zu hören kriege: Mein Gott, wie traditionalistisch, klerikerzentriert und unökumenisch!
Doch seit ich mich aufmachte, meine Vorurteile zu überwinden und mich für das Phänomen dieser jungen Kirche zu interessieren, wurde mir schnell klar, dass meine alten Deutungsmuster und Begriffe hier nicht weiterhelfen. Nicht alles, was aussieht wie von gestern, ist auch von gestern. In Anlehnung an die Theorie des Wissenschaftsphilosophen Thomas S. Kuhn kann hier von einer Art Paradigmenwechsel gesprochen werden. Und wie bei jedem neuen Paradigma geht es darum, neue Phänomene nicht mit alten Vorstellungen zu deuten. Ob es uns nun gefällt oder nicht, wir haben es hier mit einem sehr lebendigen Teil der Kirche von heute zu tun: Mit dem leidenschaftlichen Engagement und Ausdruck junger Katholiken der Generationen Y und Z. Und diese Generationen sind geprägt von einer völlig anderen Erfahrung von Welt und Kirche als wir Älteren.

Generation Y und Z

Die Altersgruppe, auf die sich meine Erfahrungen und Reflexionen beziehen, umfasst den jüngeren Teil der Generation Y (ca. 25–35 Jahre) und den älteren Teil der Generation Z (ca. 15–25 Jahre). Es sind also nicht primär Jugendliche, sondern junge Erwachsene, die von Gruppen wie der ARGE Weltjugendtag Schweiz (16–35 Jahre) und der Lobpreisbewegung Adoray (15–35 Jahre) angesprochen werden. Soziologen beschreiben diese jungen Menschen als «Digital Natives», als leistungsorientiert (Y) oder genussorientiert (Z), flexibel, pragmatisch, individualistisch und utilitaristisch. Aber auch als verunsichert in einer Welt, die in permanentem Wandel begriffen ist und in der das Gefühl der Ohnmacht angesichts von Terrorismus, Migration, Bankenkrisen und Klimawandel ein steter Begleiter ist. Noch nie fühlte sich Zukunft so unvorhersehbar und bedrohlich an wie heute. Darum verwundert es nicht, dass für viele junge Erwachsene Werte wie Sicherheit, Heimat, Familie und Freunde einen hohen Stellenwert einnehmen.

Unmittelbare Erfahrung des Heiligen

Auf diesem Hintergrund kann man das Bedürfnis junger Katholiken nach einer Beheimatung in der Liturgie verstehen, deren klar erkennbare Form und Struktur für sie auch dann noch als Raum von Heimat und Geborgenheit erlebt wird, wenn sie auf ihren Reisen rund um die Welt die jeweiligen Sprachen nicht verstehen. Damit das aber möglich ist, ist es ihnen wichtig, dass eine Eucharistiefeier einigermassen «korrekt», wiedererkennbar und gepflegt ist. In einer Welt, in der alles beliebig, gleichgültig und austauschbar ist, erwacht im Bereich des Glaubens wieder das Bedürfnis nach dem Beständigen, dem Einzigartigen und Unverfügbaren: dem Heiligen. Gott und seine durch Symbole vermittelte Gegenwart dürfen für die Jungen von heute nicht aufgehen in der Beliebigkeit der Welt. Sie haben ein ausgesprochenes Bedürfnis nach einer gewissen Distanz zum Heiligen und nach Ausdrucksformen der Ehrfurcht. Dass es dabei um individuelle Bedürfnisse und nicht um kollektive Zwänge geht, veranschaulichte mir neulich eine Messe mit neun jungen Erwachsenen, bei der ich nicht weniger als fünf verschiedenen Formen des Kommunionsempfangs begegnet bin: Hand- und Mundkommunion, je stehend und kniend, und gar keine Kommunion.   
Für junge Menschen, deren Bezug zur Wirklichkeit oft über Bildschirme vermittelt ist, spielen zudem das Visuelle und Ästhetische eine grosse Rolle. Die Freude an liturgischen Gewändern und an alten Kirchenräumen und Altären ist vor allem aus diesem Bedürfnis heraus zu verstehen und nicht aus der Nostalgie nach einer längst vergangenen Zeit, die sie gar nie gekannt haben. Sie als «traditionalistisch» zu bezeichnen, ergibt keinen Sinn, weil es ihnen meist gar nicht um Tradition geht, sondern um die unmittelbare Erfahrung des Heiligen im Hier und Jetzt. Da aber alles, was sie zur Vermittlung des Heiligen selber schaffen könnten, letztlich aus der Beliebigkeit der Welt geboren wäre, greifen sie eben wieder zurück auf die altbewährten Symbole und Rituale.

In dieser Perspektive ist auch ihre Beziehung zu den geweihten Amtsträgern zu sehen. Priester und Bischöfe sind für sie primär dazu da, im Rahmen der Liturgie das Heilige zu verwalten. Natürlich wird von ihnen auch erhofft, dass sie etwas über Gott und den Glauben zu sagen haben. Aber ihre klerikale Autorität bleibt limitiert und das Gesagte unterliegt wie alles andere auch dem konfliktvermeidenden Urteilsmodus des digitalen Zeitalters: Was einleuchtet und berührt, wird «geliked», alles andere einfach ignoriert. Klerikale Leitfiguren oder gar «Gurus» sucht man in der Szene vergeblich. In den Komitees der Schweizer Weltjugendtage und der jährlichen Adoray-Festivals sitzt zwar jeweils ein Priester als geistlicher Begleiter, aber die Entscheidungen darüber, was gemacht wird und wer als Gast eingeladen wird, werden im Team getroffen. Faktisch wird hier praktiziert, was in der Kirche längst Not täte: die Trennung von Leitungsmacht und Weihe. Flache Hierarchien sind ebenso normal wie der Umstand, dass bei Adoray nach Magdalena Hegglin ab September mit Rahel Kölbener erneut eine Frau das Präsidium innehaben wird.

Ökumene in gemeinsamer Erfahrung

Weder die ARGE Weltjugendtag noch Adoray sehen sich als Alternativen oder gar Konkurrenz zu den diözesanen und landeskirchlichen Strukturen, von denen sie nebenbei gesagt in der Regel keinerlei finanzielle Unterstützung bekommen. Doch während sie von diesen teilweise bis heute ignoriert werden, wenden sie sich in erstaunlicher Offenheit anderen christlichen Bewegungen und Aufbrüchen zu. Junge Katholiken nehmen an der evangelikalen Messe «Explo» in Luzern teil. Sie reisen nach Augsburg an die Gebetshaus-Konferenz MEHR und besuchen auch freikirchliche Gottesdienste, wenn die Ortskirche nichts Vergleichbares für junge Erwachsene zu bieten hat. Denn inhaltliche Differenzen sind zweitrangig, wenn die gemeinsame Erfahrung stimmt. Und wer sich immer noch über mangelnde Ökumene bei den Jungen sorgt, den verweise ich auf das neuste Projekt «Gottwärts», das in diesem Jahr rund um den Schweizer Bettag zum ersten Mal junge Leiterinnen und Leiter zwischen 20 und 35 Jahren aus unterschiedlichen christlichen Traditionen zum Gebet und Austausch in Einsiedeln versammeln wird.

Dynamische Aufbrüche ernst nehmen

Natürlich muss einem nicht alles gefallen, was jungen Katholiken heute wichtig ist. Und sie sollten sich durchaus auch kritische Fragen gefallen lassen. Da wäre zum Beispiel die Spannung zwischen dem ästhetischen Anspruch an eine klassische und würdige Liturgie und der musikalisch vergleichsweise anspruchslosen Lobpreismusik, deren Softpop teilweise aus der charismatischen und evangelikalen Worship-Kultur übernommen wurde. Auch die Vermittlung theologischer Inhalte an Events scheint sich mir oft eher am Niveau der Jugendlichen zu orientieren als an den Bedürfnissen der jungen Erwachsenen. Und die Betonung des Heiligen und die Fokussierung auf die Anbetung der göttlichen Majestät drohen die inkarnatorische und soziale Dimension der christlichen Botschaft etwas zu vernachlässigen.

Aber gerade darum ist es wichtig, dass wir diese engagierten, jungen Gläubigen nicht alleine lassen, dass wir uns für sie interessieren und zu verstehen versuchen, was sie suchen und was sie antreibt. Vor allem aber sollten wir aufhören, sie aufgrund alter Vorstellungen zu verurteilen. In einer Zeit, wo überall über den Zerfall kirchlicher Strukturen lamentiert wird, können wir es uns nicht leisten, die dynamischen Aufbrüche der jungen Christen zu ignorieren: «Siehe, nun mache ich etwas Neues. Schon spriesst es, merkt ihr es nicht?» (Jes 43,19).


Beat Altenbach SJ


Beat Altenbach

P. Dr. sc. nat. Beat Altenbach SJ (Jg. 1965) studierte Chemie an der Universität Basel und promovierte an der EAWAG/ETH Zürich. Nach dem Eintritt in den Jesuitenorden studierte er Philosophie in München und Theologie in Paris. 2003 bis 2010 war er Hochschulseelsorger und Leiter des katholischen Akademikerhauses aki in Zürich, von 2010 bis 2015 Leiter des Exerzitienhauses Notre-Dame de la Route in Freiburg i.Ue./Villars-sur-Glâne. Seit 2015 ist er als Exerzitienleiter und geistlicher Begleiter sowie in der Berufungspastoral und Begleitung junger Erwachsener tätig