Macht Not erfinderisch?

Nicht zwingend, auch Resignation kann eintreten. Neben personellen und materiellen Ressourcen tragen Vertrauen und die Erlaubnis, Fehler zu machen oder gar zu scheitern, zu einem innovationsfreundlichen Klima bei.

 

In der Managementliteratur war bis vor einigen Jahren «Change» das Zauberwort. In letzter Zeit treten jedoch andere Begriffe in den Vordergrund: «digitale Revolution», «Disruption» oder eben «Innovation». Hintergrund der neuen Begrifflichkeit ist die Auffassung, dass unsere Gesellschaft mit Veränderungen konfrontiert ist, die sich nicht mehr als Entwicklungen beschreiben lassen, sondern nur noch als Umbrüche. Von vielen Unternehmen, zum Teil von ganzen Branchen wird gesagt, sie stünden vor der Alternative, sich neu zu erfinden oder zu verschwinden.

Auch bezüglich unserer Kirchenlandschaft wird festgestellt, «nichts bleibt, wie es war» (Rainer Bucher), dass die Kirche Gefahr läuft, «sich selbst abzuschaffen» (Thomas von Mitschke-Collande) und dass es «zu spät» ist, um weiterzumachen wie bisher (Martin Werlen). Entsprechend haben die Forderungen nach Innovationen oder «Fresh Expressions of Church» Konjunktur. Damit steht die Frage im Raum, wie Innovation im kirchlichen Kontext zu verstehen ist und welche Rahmenbedingungen innovationsfreundlich sind.

Vom Konzil lernen

Das wichtigste innovative Grossprojekt der katholischen Kirche ist auch über 50 Jahre nach seinem Abschluss das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965). Papst Johannes XXIII. sagte in seiner Eröffnungsrede, er erhoffe sich vom Konzil «einen Sprung nach vorne». Zur grossen Frage, was von diesem Konzil im Hinblick auf pastorale Innovation zu lernen ist, beschränke ich mich auf drei Hinweise:

1. Gott spricht durch die Zeichen der Zeit
Der pastorale Grundauftrag der Kirche besteht für das Konzil darin, auf die Zeichen der Zeit zu achten und gleichzeitig dem Evangelium treu zu sein (GS 4). Innovation ist kein Gegenbegriff zu Tradition, sondern das Bestreben, die Neuheit des überlieferten Evangeliums durch eine intensive und kreative Auseinandersetzung mit der Realität zu entdecken. Innovation, verstanden als «Sprung nach vorn», wurzelt in der Überzeugung, dass Gott nicht nur durch sein biblisches Wort zu uns spricht, sondern auch durch die Menschen und die Erfahrungen, die sie in der Welt machen. Er sprach nicht nur vor zweitausend Jahren, sondern Gott spricht heute.

2. Erneuerung von der Wurzel her
Nicht nur die Industrie und die Wirtschaft, sondern auch die Kirche ist für ihre Innovationsfähigkeit auf Forschung und Entwicklung angewiesen. So äussert das Konzil einerseits die Überzeugung, dass die Theologie und namentlich die Bibelwissenschaft für die Kirche deshalb unverzichtbar sind, weil sie dazu beitragen, dass «das Urteil der Kirche reift» (DV 12). Und anderseits empfiehlt es den Dialog mit den anderen Wissenschaften (z. B. GS 62). Eine Kirche und eine pastorale Alltagspraxis, die der Auseinandersetzung mit der Bibel und der Theologie keinen hohen Stellenwert einräumt oder deren Erkenntnisse nicht aufnimmt, verspielt die Chance auf radikale (von lat. radix = Wurzel) Innovation – also auf eine Erneuerung, die in der Botschaft und im Auftrag der Kirche verwurzelt ist, an die Wurzel geht und nicht an der Oberfläche bleibt.

3. Ein gemeinsamer Weg
Zum Innovationsprojekt des Zweiten Vatikanischen Konzils gehört neben den Konzilsdokumenten und ihren Aussagen zur Erneuerung der Kirche auch das Konzilsereignis selbst. Wer sich mit der konkreten Geschichte des Konzils befasst, wird rasch feststellen, dass die im Konzil praktizierte «Synodalität» (von griechisch syn = gemeinsam und hodos = Weg) kein Spaziergang war, auf dem man «miteinander unterwegs» war. Vielmehr war es eine anstrengende und konfliktreiche Bergwanderung mit anstrengenden Aufstiegen, mit Umwegen und hartem Ringen um die Routenwahl, aber auch um einzelne Formulierungen.

Pastorale Innovation, die am Zweiten Vatikanischen Konzil Mass nimmt, setzt also den Glauben voraus, dass Gottes Gegenwart auch heute entdeckt werden kann, indem man sich der Realität stellt. Sie erfordert die Bereitschaft zu theologischer Arbeit und zum Ernstnehmen der Ergebnisse theologischer Forschung. Und sie erfordert die Bereitschaft, miteinander unterwegs zu sein, sowie das Ringen um den gemeinsamen Weg.

Innovation braucht Gestaltungsspielraum

Damit solche pastorale Innovation geschehen kann, braucht es neben der Einsicht, dass Innovation praktisch nötig und theologisch geboten ist, auch entsprechende Rahmenbedingungen. Aufgrund meiner eigenen Beobachtungen hebe ich einige Punkte hervor:

Der Volksmund sagt, Not mache erfinderisch. Richtig an dieser Redensart ist, dass vielfach erst dann Veränderungsenergie entsteht, wenn es (fast) nicht mehr anders geht. Dort, wo alles rundzulaufen scheint, ist die Bereitschaft gering, die Komfortzone zu verlassen um Neues zu wagen. Damit eine kirchliche Gemeinschaft oder Institution aktiv Innovationen anpackt, braucht es eine vergemeinschaftete Anerkennung der Tatsache, dass Handlungsbedarf besteht, und die Erfahrung, dass das Bisherige nicht mehr trägt.
Gleichzeitig erfordert Innovation einen gewissen Gestaltungsspielraum. Sind die Not, die Erschöpfung oder das Gefühl der Ausweglosigkeit einer Krise zu gross, droht Resignation statt Innovation. Stösst die Forderung nach Veränderung und Innovation auf Widerstand, wird oft gesagt, «der Leidensdruck sei noch nicht gross genug». Das mag öfters stimmen. Wird aber zu lange zugewartet, reichen die Kräfte nicht mehr, weil die personellen, finanziellen oder spirituellen Ressourcen erschöpft sind.
Zum Gestaltungsspielraum, den es für Innovation braucht, gehört neben personellen und materiellen Ressourcen auch die Erlaubnis, Fehler zu machen, Umwege zu gehen, ja sogar zu scheitern. Diese Erlaubnis braucht es nicht nur von aussen oder von oben, sondern auch von innen. Wer immer perfekt oder erfolgreich sein will, wird weniger Fantasie entwickeln und Risiken eingehen, als wer sich die Erlaubnis zu einem möglichen Misserfolg gibt und bereit ist, daraus zu lernen. Das gilt für den Einzelnen wie für Institutionen und Organisationen. Unfehlbarkeitsansprüche, der Zwang zum Erfolg und Überreglementierung aus einem übertriebenen Kontrollbedürfnis sind einem innovationsfreundlichen Klima abträglich. Wer auf das Vertrauen der anderen zählen kann und auch selbst Vertrauen hat, wird mehr Kreativität und Mut zum Wagnis entwickeln.

«Fahr hinaus, wo es tief ist»

Wer in der Kirche Innovation fordert, gerät leicht in den Verdacht, «dem Zeitgeist zu huldigen», lediglich «die Verpackung aufzuhübschen», die «ewigen Wahrheiten zugunsten des kurzfristigen Erfolgs aufs Spiel zu setzen». Diese Risiken bestehen. Gleichzeitig macht das Evangelium deutlich, dass der Mut zum Wagnis und die Bereitschaft, neue Wege zu gehen, zum Wesen der Nachfolge Jesu gehören. So kann etwa die Erzählung vom reichen Fischfang (Lk 5,1–11) geradezu als Gebrauchsanweisung für pastorale Innovation gelesen werden. Sie empfiehlt:

  • Gewohnheiten zu durchbrechen und deshalb am Tag zum Fischfang aufzubrechen, statt wie üblich in der Nacht;
  • Risiken einzugehen und sich ins Tiefe hinauszuwagen;
  • Methoden zu ändern und die Netze auf der anderen Seite des Bootes auszuwerfen;
  • Selbstbezüglichkeit zu überwinden und Zusammenarbeit mit anderen zu suchen;
  • auf das Wort Jesu zu hören;
  • sich nicht zu fürchten;
  • sich nicht mit dem reichen Fischfang zu begnügen, sondern diesen zurückzulassen im Einsatz für das Reich Gottes.

Obwohl Papst Franziskus sich dafür nicht auf diesen Bibeltext bezieht, fasst er dessen innovationsfreundliche Botschaft zusammen, wenn er in «Gaudete et exsultate» schreibt: «Gott ist immer Neuheit, die uns antreibt, ein ums andere Mal aufzubrechen und uns an neue Orte zu begeben, um über das Bekannte hinauszugehen, hin zu den Rändern und Grenzen. (…) Gott hat keine Angst! Er hat keine Angst! Er geht immer über unsere Schemata hinaus und hat keine Angst vor den Rändern. Er selbst hat sich zum ‹Rand› gemacht (vgl. Phil 2,6–8; Joh 1,14). Deshalb werden wir, wenn wir es wagen, an die Ränder zu gehen, ihn dort antreffen, er wird schon dort sein» (Nr. 135).


Daniel Kosch


Daniel Kosch

Dr. Daniel Kosch (Jg. 1958) ist seit 2001 Generalsekretär der römisch-katholischen Zentralkonferenz der Schweiz mit Sitz in Zürich.

 

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