Seelsorge für Seelsorgende (II)

Wenn wir lesen, was im ersten Brief an Timotheus (1 Tim 3,1–7) von einem Bischof erwartet wird, und das auf Seelsorgende übertragen, wird deutlich, welch hohe Anforderungen an kirchlich Mitarbeitende gestellt werden.

Da heisst es: Er soll ein Mann ohne Tadel sein, nur einmal verheiratet, nüchtern, besonnen, von würdiger Haltung. Er soll weiter ganz freundlich sein, er soll kein Trinker und kein gewalttätiger Mensch sein, sondern rücksichtsvoll, nicht streitsüchtig und nicht geldgierig.

Will man all diesen Erwartungen gerecht werden, kann das einem kirchlichen Mitarbeiter ganz schön zu schaffen machen. Es führt nicht selten dazu, dass ich nach aussen hin versuche, diesen Erwartungen gerecht zu werden, innerlich aber nicht dahinterstehe und mir Auswege suche, oft mit dem Ergebnis, dass eine immer grössere Kluft entsteht zwischen dem, was ich nach aussen hin vorgebe und anscheinend lebe, und dem, was wirklich meine Überzeugung ist oder ich dann eben versteckt, verborgen lebe. Genau dies ist dann oft Grund und Ursache für seelisches Unwohlsein unter Seelsorgern. Sie spüren, dass es eine immer grössere Kluft gibt zwischen dem Aussen und dem Innen und erleben sich selbst nicht länger als stimmig. Sie investieren viel Energie in das Bemühen, die äussere Fassade aufrechtzuerhalten und das, was sie denken, zu verstecken oder im Verborgenen zu leben. Viel Energie wird dadurch verbraucht, viel Kraft verschlissen.

Der andere Weg wäre, dass sie sich bewusst sind, dass es diese und jene Anforderungen gibt, die mit ihrem Berufsbild verbunden sind, dass es Verhaltensweisen und Einstellungen gibt, die auch sie für richtig erachten und die auch mit Recht andere von ihnen erwarten dürfen. Es zugleich auch ihre eigene Wirklichkeit als Mensch gibt und sie in vielem hinter diesen Erwartungen zurückbleiben. Dabei kann folgende Sichtweise, wie sie im 1. Buch Samuel Kapitel 16,7 zum Ausdruck gebracht wird, hilfreich und trostreich sein: «Der Herr aber sagte zu Samuel: Sieh nicht auf sein Aussehen und seine stattliche Gestalt, denn ich habe ihn verworfen; Gott sieht nämlich nicht auf das, worauf der Mensch sieht. Der Mensch sieht, was vor den Augen ist, der Herr aber sieht das Herz.»

Aus einer solchen Perspektive heraus sind Seelsorgende auch bereit, auf ihre Bedürfnisse, Wünsche und Sehnsüchte zu schauen und diese nicht einfach zu übergehen. Sie sind weiter dazu bereit, auf ihre Schattenseite zu schauen. Da aber werden sie feststellen müssen, dass sie nicht nur freundlich, grossherzig und liebevoll sind, sondern dass es in mir auch Neid, Eifersucht und Engherzigkeit gibt, die auch zu mir gehören. Ich kann, will und muss nicht immer all das zeigen, was mich im Tiefsten ausmacht.

Aber das kann nicht heissen, dass ich letztlich mich selbst auf meine äussere Fassade reduziere, mein eigenes Leben, ja überhaupt mein Leben ganz woanders stattfindet und das im völligen Gegensatz zu dem, was ich nach aussen hin vermittle.

«Ein Mensch ist der Priester»

Ich habe oft den Eindruck, dass es gar nicht so sehr das Fehlverhalten ist, was Seelsorger seelisch belastet. Es ist vielmehr die Unwahrhaftigkeit, das Nicht-dazu-Stehen, das Verschleiern.

Hier besteht der Ausweg und die Aufgabe darin, mit sich, eigenen Bedürfnissen und Sehnsüchten in Berührung zu kommen. Zu meinem Verhalten, auch Fehlverhalten zu stehen, mir da nichts vorzumachen. Damit beginnt es. Bin ich dazu bereit, werde ich feststellen, dass ich fehlerhaft bin und bis zum Ende meines Lebens unvollkommen bleiben werde. Das muss mich aber nicht davon abhalten, immer wieder auch meine Stärken zu sehen.

Ich würdige dann, was ich leiste, was ich kann und stehe bei allem Offensein und Bemühen, ganz, vollkommen zu werden, zu meiner Unvollkommenheit. Ganz im Sinne des grossen Theologen Karl Rahner, der anlässlich einer Primiz sagte: «Ein Mensch ist der Priester. Er ist also aus keinem anderen Holze gemacht wie wir alle. Er ist ein Bruder. Er trägt das Los des Menschen auch weiter, nachdem die Rechte Gottes in der Hand des Bischofs auf ihm geruht hat. Das Los der Schwachen, das Los der Müden, der Mutlosen, der Unzulänglichen und der Sünder.»

Spirituell ausgedrückt würde das für mich heissen: Ich glaube, wir lassen, wenn wir uns mal als ein Haus verstehen, Gott in fast alle Räume unseres Hauses eintreten. Da sind wir transparent, da darf er hineinschauen, da darf er sich breitmachen. Und dann gibt es ein paar Nischen und ein paar Ecken und Zimmerchen, da lassen wir ihn lieber aussen vor. Hier ginge es darum, auch in diesen Zimmerchen und paar Nischen Gott ganz hereinzulassen, ganz transparent zu werden, zumindest für Gott, da darf es eigentlich nichts mehr geben, was ich versuche, vor ihm verborgen zu halten.

Dann gibt es andere Seelsorger, spirituelle Begleiter, Therapeuten, die ich auch in diese verborgenen Räume von mir hereinlasse. Eine Seelsorge für Seelsorger sollte sich als ein Angebot verstehen, in diesem Sinne für Seelsorger und Seelsorgerinnen zur Verfügung zu stehen.

Die Sexualität aus ihrem Schattendasein befreien

Eine Seelsorge für Seelsorgende sollte sich als ein Angebot verstehen, Seelsorgenden zu helfen, mehr zu ihrer Wirklichkeit zu stehen, weil dann deutlich wird, dass man oft hinter dem zurückbleibt, was man nach aussen hin vermitteln will oder was von anderen von einem erwartet wird.

Eine solche Seelsorge bedarf der Unterstützung der Verantwortlichen in der Kirche und müsste diese selbst miteinschliessen. Denn es betrifft die Bischöfe und andere Verantwortliche in einer Diözese nicht weniger als die sogenannten normalen Seelsorger und Seelsorgerinnen, die in der Pastoral tätig sind. Auch sie laufen Gefahr, sich etwas vorzumachen, wenn sie sich nicht mit ihrem Schatten auseinandersetzen und das vielleicht noch damit begründen, dass kein Schatten auf die Kirche fallen darf, und damit nicht zulassen, über die dunklen Seiten von sich, von Kirche zu sprechen und sich ihnen zu stellen.

Der Schatten – mein Doppelgänger

Der Schatten ist vergleichbar mit meinem Doppelgänger, der neben meiner bewussten Person als eine mir mal mehr, mal weniger bekannte Person in mir lebt. Je mehr ich um sie weiss, mit ihr in Berührung bin, sie als einen Teil von mir akzeptiere und ich nicht versuche, sie von mir abzukoppeln, umso weniger laufe ich Gefahr, dass diese Person trickreich oder verdeckt handelt, wie das Geheimdienste tun, die verdeckt operieren, weil man ja nicht wissen soll, was sie tun. Denn was von uns in den Schatten abgestellt worden ist, verschwindet nicht einfach. Die dahin verbannten Kräfte leben und wirken weiter. Von Horaz soll die Aussage stammen, man mag versuchen, die Natur mit der Heugabel auszutreiben, sie kehrt stets zurück. Der Schatten, angefüllt mit vitalen Kräfte, die wir unserer Aussenseite und Aussenwirkung zuliebe ausgelagert haben, verfolgt uns, um sich bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit in Szene zu setzen. Das geschieht dann nicht selten auf eine destruktive Weise, da uns diese Kräfte nicht bewusst sind und somit nicht von unserem bewussten Ich kontrolliert und konfrontiert werden können.

Das erlebe ich oft bei Seelsorgern, die sich nicht mit ihrer sexuellen Ausrichtung auseinandergesetzt haben, diese vitale Seite von sich total verdrängt oder in den Schattenbereich abgedrängt haben. Sie werden in bestimmten Situationen überrascht von der Wucht und Macht, mit der sich ihre Sexualität meldet, die lange schon auf der Lauer lag, um endlich zum Zuge zu kommen. Sie lassen sich dann zu Verhaltensweisen hinreissen, die sie kurz darauf bitterlich bereuen, da sie dadurch in allergrösste persönliche Schwierigkeiten oder in Konflikte mit dem Gesetz geraten.

«Das Gold für unser Leben fruchtbar machen»

Was wir im Schatten abgestellt haben, bleibt uns erhalten, führt ein kärgliches Schattendasein und kann sich nicht normal entwickeln. Im Falle der Sexualität kann das verheerende Folgen haben.

Was uns zunächst beeindruckt, etwa der Verzicht auf die Sexualität aus religiösen oder anderen ideellen Gründen, kann sich sehr schnell als Bumerang erweisen. Je mehr jemand sich ins Licht rückt, desto grösser wird sein Schatten. Da braucht es oft nicht viel, wenn wir nicht auf der Hut sind und unser Verzicht nicht von unserer ganzen Person her unterstützt wird, bis dieser dunkle, unansehnliche Sack, wie Robert Bly einmal den Schatten bezeichnet hat, platzt.

Jetzt besteht die Gefahr, dass der Schatten, da nicht angeschaut, auf eine destruktive Weise sich in Szene setzt und gerade dadurch der betreffenden Person, dem Seelsorger, der Ordensfrau und damit einer Kirche, die ihren Schatten nicht anschaut, zum Schaden gereicht.

Das aber heisst: Da darf in der Ausbildung der künftigen Priester oder Ordensleute nichts, was die Sexualität und den Umgang mit ihr betrifft, bagatellisiert und beschönigt werden, da darf aber auch nichts verspiritualisiert und überhöht werden, weil man sich sonst etwas vormacht und Gefahr läuft, dass die Sexualität führerlos versucht, auf ihre Kosten zu kommen.

Die Sexualität, die in den Schatten abgestellt worden ist, lebt dort ein kümmerliches Leben weiter, ständig darauf bedacht und darauf aus, endlich zum Zuge zu kommen. Sie bleibt aber, da sie im Schatten abgestellt worden ist, unserem bewussten Denken und Handeln verborgen und entzieht sich damit unseren Gestaltungsmöglichkeiten.

Das können wir ändern, wenn wir die Sexualität aus dem Schattendasein herausholen, sie uns in allem, was sie ausmacht, bewusstmachen, auch ihrer Kraft und Macht, und ein positives Verhältnis zu ihr einnehmen. Dann können wir das Gold, den Schatz, der in ihr steckt, für unser Leben fruchtbar machen.

Unsere Sexualität muss beleuchtet, muss angeschaut werden. Das ist Voraussetzung dafür, damit wir verantwortungsvoll mit unserer Sexualität umgehen und dazu beitragen können, dass sie wirklich in unser Leben integriert wird, wir in die Lage versetzt werden, über unsere Sexualität zu verfügen.

Das gilt für Personen, die in einer Ehe und in festen Beziehungen leben, das gilt in gleicher Weise für Personen, die als Priester oder Ordensleute zölibatär oder jungfräulich leben wollen. Für jene, die auf die Verwirklichung ihrer genitalen Sexualität verzichten wollen, gilt das in besonderer Weise. Von ihnen wird etwas erwartet, das sie nur dann leisten können, wenn sie voll hinter dieser Entscheidung stehen und sich des Verzichtes, der damit einhergeht, nicht nur bewusst sind, sondern sich auch dazu in der Lage sehen, von ihrer menschlichen Reife her, diesen Verzicht leisten zu können. Das aber setzt voraus, mit der Sexualität in Berührung zu sein, um die eigene sexuelle Ausrichtung zu wissen, also ob jemand heterosexuell oder homosexuell ist, diese Orientierung anzunehmen und schliesslich in der Lage zu sein, über die eigene Sexualität und ihre Gestaltung verfügen zu können.

 

Wunibald Müller

Dr. Wunibald Müller war als Theologe und Psychotherapeut 25 Jahre Leiter des Recollectiohauses Münsterschwarzach (D).