Jungwacht Blauring: Teil der Kirche (I)

Jungwacht Blauring (Jubla) ist mit knapp 30 000 Mitgliedern in 425 Scharen (Ortsgruppen in den Pfarreien) der grösste katholische Kinder- und Jugendverband der Schweiz. Ihre Vitalität bewies die Jubla in den letzten Jahren mit steigenden Mitgliederzahlen und jüngst mit dem nationalen Grossanlass «Jublaversum» in Bern. Doch: Wie wird der im Leitbild verankerte Grundsatz «Glauben leben» heute gedeutet und vor Ort umgesetzt? Inwiefern ist die Jubla Teil der Kirche und gestaltet diese mit?

Die Fragen sind nicht neu. Aber sie müssen von jeder Generation im jeweiligen gesellschaftlichen Kontext neu beantwortet werden. Die Jubla setzt sich im Rahmen einer Leitbild-Überarbeitung mit ihrer kirchlichen Positionierung auseinander und stellt fest: Alte Fragen nach Kirchlichkeit und Glaubensbezug der verbandlichen Kinder- und Jugendarbeit werden an den «kirchlichen Rändern» neu beantwortet.

Erste Antworten

Wichtige Ergebnisse liegen bereits vor: Die Jubla versteht sich als Teil der katholischen Kirche und will diese mitgestalten. Der Grundsatz «Glauben leben» bleibt, wird aber neu gedeutet, sodass sich die Mitglieder vermehrt damit identifizieren können. Es gilt, den schmalen Grat zwischen kirchlicher Prägung und konfessioneller Offenheit präzise abzustecken. Dabei zeigen sich mehr Chancen als Defizite mit überraschend vielen Parallelen zum Vorbereitungsdokument der angekündeten Jugendsynode 2018. Das Thema wird im Folgenden anhand einer kurzen historischen Einbettung, empirischer Befunde und jugendpastoraler Überlegungen dargestellt.

Historisch gegebene Fragestellungen

Die beiden ursprünglich geschlechtergetrennten Verbände des Schweizerischen Jungwachtbundes (Buben) und des Schweizerischen Blauringbundes (Mädchen) hatten sich seit den frühen 1930er-Jahren mit dem Zweck entwickelt, Kinder kirchlich einzubinden. Sie galten als Vorstufe von Jugendorganisationen: die Jungwacht für die männliche Jugend im Schweizerischen Katholischen Jungmannschaftsverband (SKJV), der Blauring für die weibliche Jugend in der Schweizerischen Jungfrauen-Kongregation.

Die Anfänge standen im Zeichen der von Papst Pius XI. ausgerufenen weltweiten Katholischen Aktion und der Blütezeit des katholischen Milieus.1 Dieses begann ab den 1960er-Jahren zu zerfallen.2 Die Impulse des II. Vatikanischen Konzils für eine Hinwendung zur Welt sowie die politischen Bewegungen der 1960er-Jahre führten zu einer zivilgesellschaftlichen Öffnung der Verbände. Auf ihre Krisen antworteten sie mit struktureller Emanzipation und der Konzentration auf lokale gruppen- und erlebnispädagogische Freizeitarbeit – und lösten sich aus ihrem Ursprungskontext.3 In den 1980er- und 90er-Jahren intensivierten sie ihre Zusammenarbeit, was sich in gemeinsamem Leitbild und Logo manifestierte und 2009 zum endgültigen Zusammenschluss führte.4

Aufs Engste mit dieser Geschichte verwoben ist die seit dem II. Vatikanum und der Synode 72 explizit gewordene Frage nach dem kirchlichen Bezug der Verbände. Der schwindende Einfluss der Kirche auf die Gesellschaft machte sich bemerkbar. Die Verbandsmitglieder fühlten sich in den 70er-Jahren «je länger desto weniger durch die Institution Kirche in ihrem Anliegen vertreten».5 Die Verbandsführung verstand sich immer mehr als «Vermittler von amtskirchlichen Interessen und denjenigen ihrer Verbandsmitglieder» und hatte diese «je länger desto mehr zwischen Hammer und Amboss» zu leisten.6

Regelmässig wird sowohl von amtskirchlicher Seite als auch im Verband selbst gefragt, inwieweit Jungwacht Blauring «katholisch» oder «kirchlich» sei. Die stetige Reflexionsarbeit ist aus zweierlei Gründen wichtig: Erstens ist die Jubla nicht als isolierte Insel zu betrachten, sondern als eingebettet in die sich wandelnde schweizerische Zivilgesellschaft. Die konfessionell differenzierte Schweiz hat sich in eine religiös pluralisierte Gesellschaft gewandelt.7 In der Folge änderten sich auch die Ausgangsbedingungen für Religiosität, Identität und für freiwillige Tätigkeit.8 Diese Veränderungen nicht mitzudenken, würde zwangsläufig zum Niedergang führen. Die Jubla schafft es dennoch, die Herausforderungen am «Puls der Zeit» positiv anzunehmen. Zweitens gehört es zur Natur selbstbestimmter Kinder- und Jugendverbände, kritisch und reflexiv über sich und ihre eigene religiöse Identität nachzudenken. Die Spannungen und Diskussionen sind besonders in religiöser Hinsicht höchst produktiv, weil sie selten gewordene Diskursfelder eröffnen, in der Jugendliche ihre persönliche religiöse Identität schärfen können.

Es erstaunt daher nicht, dass heute die Fragen der Kirchlichkeit von den Mitgliedern selbst gestellt und beantwortet werden. Dies geschieht nicht im luftleeren Raum, sondern unter Miteinbezug entsprechender Forschungsergebnisse und im Rahmen eines gross angelegten Partizipationsprojektes.

Prosoziale Wertehaltung – erhöhte Religiosität – Distanz zur Institution

Die Ergebnisse einer breit abgestützten empirischen Untersuchung9 bei Jugendlichen in der Jubla zeigen zweierlei: Zum einen zeichnen benevolente und prosoziale Wertvorstellungen die Jubla-Mitglieder gegenüber anderen Jugendlichen aus, bei denen eher hedonistische Werte obenauf schwingen. Sie sind das emotionale verbindende Element schlechthin und lassen es zu, bei der Jubla von einer «Wertgemeinschaft» zu sprechen. Dann ist die Religiosität höher, als viele denken würden – dies bei einem gleichzeitigen Abwehrreflex gegenüber religiösen Institutionen. Die Religionszugehörigkeit der Leitenden ist eng mit dem Entstehungshintergrund verknüpft: Der Anteil an KatholikInnen unter den Leitenden liegt mit über 80 Prozent (CH-Schnitt: 37,5 Prozent)10 bis heute hoch und jener an Konfessionslosen mit 6,4 Prozent (CH-Schnitt 19,3 Prozent)11 tief.12 Trotz konfessioneller Öffnung gab es in der Jubla bis heute keine tief greifende religiöse Pluralisierung auf Ebene der Zugehörigkeit, hier wirkt das katholische Milieu nach. Pluralisierung wird aber sehr wohl sichtbar in den unterschiedlichen Lebens- und Weltvorstellungen der Jugendlichen. Hier wirken die gesellschaftlichen Entwicklungen.

Wie Jugendliche allgemein sind auch Jubla- Jugendliche im Vergleich zur Gesamtbevölkerung weniger religiös13. Werden jedoch nur die Jugendlichen untereinander verglichen, so zeigt sich, dass die Religiosität der Jubla-Jugendlichen im Vergleich zum Durchschnitt und im Vergleich zu anderen katholischen Jugendlichen höher ist – ein Anzeichen für die religiös sozialisierende Wirkung der Jubla.

Bezüglich institutioneller Identifikation bestätigt sich eine Tendenz, die schon in den 1970er- Jahren ansatzweise festgestellt wurde14: Jugendliche erkennen die religiöse Institution häufig nicht als Trägergruppe ihres religiösen Symbolsystems. Und es zeigt sich eine kommunikative Distanz zu Grosskirchen.15 In der Folge interpretieren sich die Jugendlichen selber als unreligiöser und weniger spirituell, als sie es sind. Dieses verschobene Selbstbild aufgrund der Distanzierung zur Amtskirche ist für den Verband eine besondere Herausforderung, der es im Leitbild-Prozess Rechnung zu tragen gilt.

«Glauben leben» – Klärungsbedarf

Das partizipative Entwicklungsprojekt «jubla.bewegt» (2011–2015) hatte zum Ziel, mittels Modellprojekten Strategien für die Zukunft von Jungwacht Blauring zu entwickeln. Schon an der ersten grossen «Zukunftskonferenz» kristallisierte sich «Glauben leben» als Kernthema mit Klärungsbedarf heraus. Klärung wurde in der gegenseitigen Zusammenarbeit und in einem verkürzten Kirchenbild lokalisiert: Für viele Leitende bedeutet Kirche «nur» Gottesdienst. Dieses Kirchenbild wollte man ausweiten, sich innerkirchlich positionieren und den Grundsatz «Glauben leben» so definieren, dass sich die Mehrheit der Mitglieder damit identifiziert. Ausgehend von diesem Basisentscheid und den Ergebnissen eines Experten-Think-Tanks16 entstand 2016 ein Grundlagendokument, das die veränderte Jubla- Realität abbildet, sie theologisch interpretiert und notwendige Transformationen benennt.

Implizite und explizite Glaubenszugänge

Um den Jubla-Grundsatz «Glauben leben» in seiner innerverbandlichen Verwendung zu erfassen, muss zwischen impliziten und expliziten Glaubenszugängen unterschieden werden. Bei impliziten Zugängen wird der religiöse Bezug nicht unmittelbar sichtbar, kann aber je nach Deutungsmodalität hergestellt werden. Dazu gehört die konstatierte prosoziale Wertehaltung, die sich wie ein roter Faden durch den Verband zieht. Fassbar wird sie im täglichen Umgang miteinander, in alljährlichen Solidaritätsaktionen sowie in der aktiven Integration von sozial, materiell, geistig oder körperlich Benachteiligten. Dank der Vorbildrolle der rund 8500 Leitungspersonen und 380 Präsides ist diese (vor-)gelebte Grundhaltung wirksame Wertevermittlung.

Dazu kommt als eigentliches «Kerngeschäft» der Jubla das vielfältige Freizeitangebot für Kinder und Jugendliche, gestaltet von ehrenamtlich tätigen Leitenden, die sich trotz Überangebot dazu entscheiden, ihre Freizeit zu investieren. Die positive Wirkung für die Entfaltung der Einzelnen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt ist unbestritten.17 Hervorzuheben sind die Entwicklung von Sozial-und Organisationskompetenz, Verantwortungsbewusstsein, Erfahrung von Selbstwirksamkeit sowie Demokratie- und die Gesundheitsförderung. Die Jubla leistet diesen wertvollen Beitrag im Namen und mit grosser Unterstützung der Kirche und ist als «Dienst an der Jugend» den diakonischen und gemeinschaftsbildenden Funktionen der Kirche zuzuordnen.

Weitere implizite Glaubensbezüge sind vielfältige niederschwellige Ritual- und Besinnungsformen. Beispiele dafür sind Orte der Stille, Singen am Lagerfeuer, philosophische Sternguckerei, Morgen-, Tisch- und Nachtrituale. Diese Erlebnisse können bei Kindern und Jugendlichen innerlich angelegte spirituelle Rezeptoren aktivieren. Wertepflege, Diakonie, Gemeinschaftsbildung und spirituelle Animation – Gründe genug, um aus christlicher Perspektive zu sagen: Die Jubla trägt ihren Teil bei auf dem Weg zum Ziel allen kirchlichen Handelns, dem Reich Gottes näherzukommen.

Die Jubla bietet den Kindern und Jugendlichen vielerorts aber auch explizite Glaubenszugänge. Zum einen werden die niederschwelligen Gefässe häufig explizit religiös konnotiert. Dazu kommen «klassische» liturgische Elemente wie Reisesegen oder Aufnahme- und Lager-Gottesdienste sowie kirchliches Brauchtum wie Sternsingen, Palmbinden, Osterfeuer, Samichlaus.18 Explizit sind Glaubensbezüge auch, wenn die gemeinsamen Werte mit der biblischen Botschaft in Verbindung gebracht werden.19 Es ist kein Zufall, dass im aktuellen Jubla-Leitbild die Grundwerte Frieden, Gerechtigkeit und Solidarität dem Grundsatz «Glauben leben» zugeordnet sind. Auch die im Grundsatz «Natur erleben» kumulierte mitweltbewahrende Grundhaltung kann vom Glauben abgeleitet und als «Bewahrung der Schöpfung» formuliert werden – nicht erst seit der «Enzyklika Laudato Si».

Die Verbindung zwischen Wertequelle und eigenem Handeln kann reziprok wirksam werden: vom Glauben her gedachte Antwort nach dem eigenen Lebenssinn spornt an zu sozialem Engagement. Als sinnvoll empfundenes Wirken wiederum lässt nach dem tieferen Grund dieses Empfindens fragen.20

Nur: Sowohl Umweltschutz als auch friedensförderndes und solidarisches Handeln können aus unterschiedlicher Motivation heraus geschehen.

Dabei sollen alle von ihrer persönlichen Motivationsquelle erzählen und sie bezeugen dürfen. Obwohl die christliche Motivationsquelle also gleichwertig neben anderen steht, ist es aufgrund von Tradition, Mitgliederzusammensetzung und Präsides-Wirken naheliegend, dass sie in der Jubla am präsentesten ist.

In diesem Spannungsfeld stellt sich die Frage, welche Reformen konfessionelle Offenheit und Pluralisierung bzgl. Sprache und Formen fordern und was das für die gelebte Praxis vor Ort bedeutet. Dabei öffnen sich chancenreiche Diskursräume, welche die Jubla als Aushängeschild und mitgestaltender Teil von Kirche ausweisen. Dies wird in Teil II dargestellt.

 

1 Vgl. Altermatt Urs, Konfession, Nation und Rom. Meta-morphosen im schweizerischen und europäischen Katholizismus des 19. und 20. Jahrhunderts, Huber, Frauenfeld, Stuttgart, Wien, 2009, 60 ff.

2 Altermatt, 75 ff.

3 Hierzu und folgend: Leu Hans / Kappeler Markus, 50 Jahre Jungwacht. Eine bewegte Geschichte, Bundesleitung Jungwacht, Luzern, 1982; Eder Toni, 50 Jahre Blauring. Eine bewegte Geschichte, Luzern, 1982.

4 Vgl. zur Geschichte und der stets präsenten Frage nach Kirchlichkeit auch: Ritter Daniel, 2007, Wo die Jugendarbeit Freunde schafft und Freude mehrt! In: Schweizerische Kirchenzeitung SKZ, 2007 (23), 379–383.

5 Leu / Kappeler, 31.

6 Leu / Kappeler, 31.

7 Baumann Martin / Stolz Jörg, Eine Schweiz – viele Religionen. Risiken und Chancen des Zusammenlebens, Transcript, Bielefeld, 2007.

8 Stolz Jörg / Ballif Edmée, Die Zukunft der Reformierten. Gesellschaftliche Megatrends – kirchliche Reaktionen, TVZ, Zürich, 2010.

9 Odermatt Anastas, Religiosität, Freiwilligenarbeit und Identitätskonfigurationen bei Jugendlichen in Jungwacht Blauring. Masterarbeit, Universität Luzern. Kultur- und Sozialwissenschaftliche Fakultät, Luzern, 2014.

10 BFS 2014.

11 ebd.

12 Bei den Eltern von Jubla- Kindern zeigt sich ein ähnliches Bild: 73% römisch-katholisch, 24,4% evangelisch-reformiert, 0% jüdisch, 0,2% muslimisch, 0,7% andere Religionszugehörigkeit und 6,8% konfessionslos.Vgl. Hochschule Luzern, Departement Soziale Arbeit, Institut für Sozialmanagement und Sozialpolitik, Institut für Soziokulturelle Entwicklung, Entwicklung Grundlagen Jungwacht Blauring: Institutionelle Stabilität und neue Herausforderungen. Studie im Auftrag von Jungwacht Blauring Schweiz, Luzern, 2011.

13 Religiosität gemessen mittels RST-Skala nach: Huber, Stefan, Zentralität und Inhalt. Ein neues multidimensionales Messmodell der Religiosität, 9, Leske + Budrich, Opladen, 2003.

14 Vgl. dazu die damalige Untersuchung: Baitsch Christof / Krummenacher Jürg, Die Einstellung zur Koedukation. Eine empirische Untersuchung in Blauring und Jungwacht. Lizentiatsarbeit, Universität Zürich. Psychologisches und Pädagogisches Institut, Zürich, 1977.

15 Vgl. dazu Dubach Alfred / Fuchs Brigitte, Ein neues Modell von Religion, Theologischer Verlag, Zürich, 2005, S. 106, im globalen Kontext auch: Jugendsynode 2018, 1.2.

16 Bestehend aus Pastoraltheologen, Religionssoziologen und Präsides.

17 Die 2016 dazu erschienene Studie über die Pfadfinder ist für die verbandliche Jugendarbeit verallgemeinerbar: www.jech.bmj.com/content/early/2016/10/05/jech-2016-207898

18 Vgl. Ergebnisse der Präsidesumfrage der Jubla: www.jubla.ch/mitglieder/scharleben/begleitung/praeses

19 Dies kann sowohl institutionalisiert in der Predigt, niederschwellig bei einem Tischimpuls oder spontan beim Lagerfeuer-Gespräch geschehen.

20 Vgl. Jugendsynode 2018, 3.3.

Valentin Beck / Anastas Odermatt

Valentin Beck MTh und MA in Religionslehre ist Bundespräses von Jungwacht Blauring und im Kleinpensum als Religionspädagoge in der Oberstufe tätig.
Anastas Odermatt MA in Study of Religions ist ehrenamtlicher Co-Präsident von Jungwacht Blauring und als Religionswissenschaftler an der Universität Luzern tätig.