Schwierige Frage des Tyrannenmordes

Zwischen dem 9. und 12. November 1938 versuchte der Schweizer Katholik Maurice Bavaud mehrmals, Adolf Hitler zu töten. Er war fest überzeugt, damit «der Menschheit und der gesamten Christenheit einen Dienst zu erweisen», ganz besonders der Schweiz, «vor allem aber seien kirchliche Gründe für seine Tat bestimmend gewesen; denn in Deutschland würden die katholische Kirche und die katholischen Organisationen unterdrückt».1

In seiner Studie über Bavaud behandelt Martin Steinacher, wenn auch zu knapp, die schwierige Frage des Tyrannenmordes.2 Diese Seiten werfen mehr Fragen auf, als sie beantworten. Es ist schwer vorstellbar, dass ein Theologiestudent wie Bavaud diese Frage nur anhand einiger weniger Gedanken von Blaise Pascal, Michel de Montaigne und Henri Bergson über das Gewissen beantwortete. Die Überzeugung, mit dem Tyrannenmord der gesamten Menschheit und nicht nur sich selbst einen Dienst zu erweisen, dürfte für Steinacher «im Oktober 1938 eine gewichtige Rolle gespielt haben, als er (Bavaud) sich endgültig zu jenem Attentat entschloss, dessen eindeutige Legitimation für ihn jedoch im christlichen Lehramt aufgrund der vielen dort vorherrschenden kontroversen Positionen nicht zweifellos zu entdecken war».3 Es stimmt, dass der Tyrannenmord in der katholischen Theologie «durch Jahrhunderte eine offene Frage war»4, wie Steinacher betont. Aber darin lassen sich durchaus Spuren finden, die nicht ohne Einfluss auf Bavaud gewesen sein dürften.

Thomas von Aquin, das Konzil von Konstanz und Francisco de Vitoria

Thomas von Aquin unterschied zwischen einem Usurpator oder Tyrannen im Ursprung, der ohne Rechtstitel Länder und Herrschaften gewaltsam an sich gerissen hat (tyrannus ex defectu tituli), und einem legitimen Herrscher, der später tyrannisch herrschte (tyrannus quo ad exercitium). Im ersten Falle ist der Widerstand bis zum offenen Tyrannenmord erlaubt, auch durch eine Privatperson, da es sich um einen durch und durch gerechten Krieg gegen einen Feind des Gemeinwesens handelte; aber auch hier muss es gut überlegt sein, um Unruhen und Gefahren für das Gemeinwesen zu vermeiden; ebenso müsse bedacht werden, ob ein Treuversprechen oder Bündnis vorhanden war. Im zweiten Falle ist der Widerstand schwieriger und könne nicht von Privatpersonen, sondern nur vom Gemeinwesen selbst oder vom Papst beschlossen werden, das darüber zu urteilen hätte – und ebenso vorbehaltlich eines Treuversprechens oder Bündnisses.

Das Konzil von Konstanz verurteilte am 6. Juli 1415 (Dekret Quilibet tyrannus) die extreme Position des Jean Petit als irrig und anstössig, weil darin für beide Tyranneiformen der Widerstand durch Privatpersonen befürwortet wurde, und dies auch noch in einer extremen, über das von Thomas von Aquin Erlaubte hinausgehenden Art: «trotz irgendeines geleisteten Eides oder eines mit ihm abgeschlossenen Bündnisses, ohne dass das Urteil oder der Auftrag irgendeines Richters abgewartet würde».5 Das Konzil sprach sich für eine sehr restriktive Handhabung des Widerstandsrechts bei den legitimen Herrschern, die tyrannisch regierten, aus.

Diese Tradition wird von Francisco de Vitoria (&#134 1546) in seinem Dubium de Tyranno6 in Erinnerung gebracht. In beiden Fällen von Tyrannei müsse man den Widerstand gut überlegen, um Unruhen und Gefahren für das Gemeinwesen zu vermeiden. Der sicherste Weg sei ein institutionelles Korrektiv, etwa durch die Stände. Erst solle Mahnung erfolgen, dann Absetzung, dann Organisation gewaltsamen Widerstandes, schliesslich Tötung. De facto macht dies unmöglich, den Machtmissbrauch eines Fürsten zu verhindern. Denn die Versammlung der Stände zum Gericht über den König ist unter den Bedingungen des Ancien Régime kaum durchführbar, ebenso wenig in modernen Diktaturen.

Die «anstössige» Theorie des Juan de Mariana

In seinem Werk De rege et regis institutione (1599)7 weicht Juan de Mariana SJ (&#134 1624) diesem Problem nicht aus: Das Charakteristikum eines Unrechtsregimes pflegt zu sein, dass es alle Institutionen, von denen öffentlich Widerstand ausgehen könnte, ausschaltet und zum Schweigen bringt. Was also, wenn jene «Beauftragung durch das Volk», die gewaltsamem Widerstand überhaupt erst die Legitimität verleiht, nicht eingeholt werden kann? In diesem Falle genügt der vernünftigerweise «präsumierte» Volksauftrag, soweit dieser durch Beratung mit kompetenten und urteilsfähigen Männern ermittelt werden kann. Dann handelt auch ein Privatmann nicht aus eigenem Antrieb, sondern im Auftrage des Volkes. Die Theorie des präsumierten Volkswillens galt als anstössig – nicht zuletzt, weil Mariana die Ermordung des mit dem Protestantismus sympathisierenden Heinrich III. von Frankreich am 1. August 1589 durch den jungen Dominikaner Jacques Clément als Tyrannenmord guthiess.

Um die Unterdrückung der Katholiken zu beenden, verschaffte sich Clément Zugang zum König unter dem Vorwand, ihm einige Briefe zu überreichen. Als er vor dem König stand, zog er aus seiner Kutte ein Messer heraus und stach auf ihn ein. Der König starb am nächsten Tag an den Verletzungen. Der Leichnam Cléments wurde in Paris am selben Tag gevierteilt und verbrannt. Die Asche wurde in die Seine geworfen, damit es zu keiner Reliquienverehrung kommt. Papst Sixtus V. (1585–1590) soll ihn für einen Märtyrer gehalten und an eine Seligsprechung gedacht haben. Das Volk reagierte auf den Tyrannenmord mit Begeisterung und soll die Mutter Cléments wie die Mutter Gottes selbst gelobt haben. Als Marianas Werk zehn Jahre später erschien, hatten sich die Wogen zwischen Paris und Rom geglättet, und man sah die Tat Cléments anders. Daher galt Marianas Lob als skandalös und brachte die Jesuiten in Verruf, Befürworter des Tyrannicidiums zu sein.

Francisco Suarez als Mainstream in der katholischen Lehrtradition

Als sich der Jesuit Francisco Suárez (&#134 1617) zwischen 1610 und 1613 in seinem Werk Defensio fidei8 gegenüber dem König von England Jakob I. mit der Frage des Tyrannenmordes eingehend beschäftigte, musste er den von Mariana verursachten Skandal bedenken. Suárez’ Sicht des Tyrannenmordes hat das katholische Denken bis in die Zeit des Nationalsozialismus hinein geprägt: Nicht der präsumierte Volkswille durch eine Privatperson, sondern die ausdrückliche Genehmigung des katholischen Widerstandes durch den Papst ist für ihn das wirklich Entscheidende. Während Jakob I. jede Kompetenz des Papstes bestritt, die Katholiken seines Reiches vom Treueid (Iuramentum fidelitatis) zu entbinden oder ihnen zu erlauben, das Volk aufzuwiegeln und einen Aufstand gegen ihn anzufangen, verteidigt Suárez das indirekte Einmischungsrecht des Papstes in weltliche Angelegenheiten (potestas indirecta in temporalibus), wenn es zum Wohl der Kirche nötig ist.

Den Tyrannen mit legitimem Rechtstitel kann bei Suárez niemand kraft seiner eigenen und privaten Autorität gerechterweise töten. Diese allgemeine Norm kennt nur im Falle der legitimen Selbstverteidigung zwei Ausnahmen: um das eigene Leben zu verteidigen und im Falle der legitimen Verteidigung des Gemeinwesens, wenn der König dabei ist, dieses anzugreifen in der ungerechten Absicht, es zu zerstören und seine Mitglieder zu töten. Es müssen jedoch sechs Bedingungen gegeben sein: «1. dass der Rekurs bei einer höheren Instanz, die den Tyrannen richtet, nicht möglich sei; 2. dass die Tyrannei und die Ungerechtigkeit publik und notorisch seien; 3. dass der Tod des Tyrannen unentbehrlich sei, um das Gemeinwesen von einer solchen Unterdrückung zu befreien; 4. dass zwischen dem Tyrannen und dem Volk kein mit einem Schwur ratifizierter Waffenstillstand oder Vertrag existiere; 5. dass man nicht zu befürchten habe, dass aus dem Tod des Tyrannen für das Gemeinwesen dieselben oder noch grössere Übel als unter der Tyrannei folgen werden; 6. dass das Gemeinwesen sich nicht ausdrücklich gegen den Tyrannenmord ausgesprochen habe.»9

Das Widerstandsrecht wird also spekulativ bejaht, aber mit so vielen Auflagen versehen, dass es kaum jemals in Wirklichkeit eintreten dürfte: Es hängt von vielerlei Umständen ab und zudem vom Willen des Papstes, denn die christlichen Reiche sind in dieser Frage dem Summus Pontifex unterstellt. Ein Jesuit wie Alfred Delp kannte das Denken Suárez’ natürlich sehr gut. Dies erklärt, warum er sich so spät, erst 1944, zum Widerstand entschloss. Ähnlich dürfte es beim Kreis um Graf von Staufenberg gewesen sein.

Bavauds Tat und die Lehrtradition

Vieles im Denken und Tun Bavauds entspricht der skizzierten Tyrannenmord-Lehre im Falle eines zunächst legitimen, aber dann tyrannisch gewordenen Herrschers: (1) Bavaud betrachtet Hitler als eine Gefahr für seine katholische Kirche, aber auch für die gesamte Menschheit und seine geliebte Schweiz; er darf also präsumieren, dass angesichts einer so notorischen Gewaltherrschaft der gesunde Volkswille mit der Beseitigung eines so schädlichen Menschen einverstanden wäre. (2) Er ist nicht durch einen Treueid an den Tyrannen gebunden. (3) Nach dem Münchner Abkommen ist der Rekurs auf eine höhere internationale Instanz ausgeschlossen. (4) Gewiss, Papst Pius XI. hat mit der Enzyklika «Mit brennender Sorge» (14. 3. 1937) die Katholiken nicht zum Widerstand explizit aufgerufen; aber darin (Nr. 48) ist mit Nachdruck von der Pflicht für jeden bekennenden Christen die Rede, «seine Verantwortung von der der Gegenseite klar zu scheiden, sein Gewissen von jeder schuldhaften Mitwirkung an solchem Verhängnis und Verderbnis freizuhalten».10

Bavaud gab vor allem «kirchliche Gründe» für seine Tat an, «denn in Deutschland werden die katholische Kirche und die katholischen Organisationen unterdrückt». Auch Bavaud wollte sich zum Tyrannen Zugang verschaffen unter dem Vorwand, ihm einen Brief zu überreichen.

Der Entschluss zum Attentat, den Maurice Bavaud vor dem Hintergrund der katholischen Tradition des Tyrannenmordes fasste, ist und bleibt eine schwierige Gewissensentscheidung, in die wir nicht ganz hineinblicken können, aber die – nicht zuletzt im Lichte der unermesslichen Verbrechen des Nationalsozialismus nach 1938 – nicht nur unseren Respekt verdient, sondern auch unsere Bewunderung als prophetisches Zeichen.

 

Vorliegender Text ist die gekürzte Fassung seines Vortrages vom 9. Novem­ber 2016 anlässlich der Gedenkveranstaltung für Maurice Bavaud an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg.

1 Urteil des Volksgerichtshofes vom 18. Dezember 1939 betr. Maurice Bavaud, hier zitiert nach der neuen Studie über Bavauds Attentatversuch auf Adolf Hitler von Martin Steinacher: Maurice Bavaud – verhinderter Hitler-Attentäter im Zeichen des katholischen Glaubens? (Anpassung, Selbstbehauptung, Widerstand 38), Berlin 2015, S. 5.

2 Vgl. Steinacher, Maurice Bavaud (Anm. 1), S. 47–52.

3 Ebd., S. 51f.

4 Ebd., S. 52.

5 H. Denzinger, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Leherentscheidungen. Lat.-Dt. Hg. v. P. Hünermann. Freiburg 371991, n. 1235.

6 Vgl. F. de Vitoria, Dubium de Tyranno: ders., Relectio de iure belli. Hg. L. Pereña et al. (CHP 6), Madrid 1981, S. 279–285.

7 J. de Mariana, De rege et regis instititione, Aalen 1969 (Neudruck der Ausgabe von Toledo 1599).

8 Vgl. F. Suárez, De iuramento fidelitatis. Documentación fundamental. Hg. von L. Pereña / V. Abril / C. Baciero (Corpus hispanorum de pace XIX), Madrid 1978, S. 66–95.

9 P. Font Oporto, El núcleo de la doctrina de Francisco Suárez sobre la resistencia y el tiranicidio, in: Pensamiento 69 (2013), Nr. 260, S. 493–521, hier S. 513.

10 http://w2.vatican.va/content/pius-xi/de/encyclicals/documents/hf_p-xi_enc_14031937_mit-brennender-sorge.html

Mariano Delgado

Mariano Delgado

Prof. Dr. Dr. Mariano Delgado ist Professor für Kirchengeschichte an der Universität Fribourg und leitet das Institut für das Studium der Religionen und den interreligiösen Dialog.