Die Aussage des andern zu retten suchen»

Im Hören und Reden sich theologisch «aus-einander-setzen». Dies ist der Leitgedanke eines Festvortrages, den der Hochschulseelsorger Andreas Schalbetter SJ im September 2016 anlässlich der Feier zur Verleihung akademischer Grade der Theologischen Fakultät an der Universität Luzern hielt.

Die Bereitschaft zu zwischenmenschlichem Hören und Dialog ist eine wesentliche Grundlage des Miteinanders und der theologischen Aus-einander-Setzung mit der Welt von heute. Dies zeigt sich auf drei Ebenen: existenziell – ignatianisch – biblisch.

Hören setzt Schweigen voraus. Ich weiss nicht schon im Voraus, was der andere mir sagen möchte.
Hören setzt die Bereitschaft voraus, zuhören zu wollen und die eigene Meinung zu hinterfragen.
Hören setzt Ehrfurcht voraus, gegenseitige Wertschätzung und Vertrauen.
Hören setzt Kräfte frei. Im Aussprechen tritt der Mensch aus sich heraus, ringt um die Worte und findet zu sich selbst.
Hören eröffnet Räume, in die der andere eintreten kann, hin zum Du und zu sich selbst.
Ich höre auf den ganzen Menschen – achte auf seine Worte und Gefühle und suche seine Aussage zu retten.
Hören, aufeinander zugehen, sich gegenseitig zu verstehen suchen ist die Grundlage zur Versöhnung.

Existenziell: Zwischenmenschliches Hören

Als Hochschulseelsorger erlebe ich immer wieder, wie bei Gesprächen gutes Zuhören die Suchenden selber Antworten auf ihre Fragen finden lässt. Mir fällt auf, wie Beziehungen von einem aufrichtigen Dialog genährt werden. Zwischenmenschliche Beziehungen sind jedoch dann gestört, wenn wir uns einigeln und verschliessen, einander misstrauen oder geringschätzen.

«Sich Zeit lassen, wertvolle Zeit, die darin besteht, geduldig und aufmerksam zuzuhören, bis der andere alles gesagt hat, was er nötig hatte. Das erfordert die Askese, nicht mit dem Reden zu beginnen, bevor der passende Moment gekommen ist. Anstatt anzufangen, Meinungen zu äussern und Ratschläge zu erteilen, muss man sich vergewissern, ob man alles gehört hat, was der andere zu sagen hat. Das schliesst ein, ein inneres Schweigen einzunehmen, um ohne ‹Störsignale› im Herzen oder im Geist zuzuhören: alle Eile abzustreifen, die eigenen Bedürfnisse und Dringlichkeiten beiseite zu lassen und Raum zu geben.»1 So schreibt Papst Franziskus in seinem nachsynodalen Schreiben über «Die Freude der Liebe» mit pastoralem Fingerspitzengefühl und einem Blick auf die Beziehungsethik. Gemäss Franziskus benötigen wir eine geistige Weite und «Flexibilität, um die eigenen Meinungen ändern oder ergänzen zu können. Es ist möglich, dass sich aus meinen Gedanken und denen des anderen eine neue Synthese ergeben könnte, die uns beide bereichert.»2 Als Jesuit schöpfe ich besonders aus der ignatianischen Spiritualität. Deshalb möchte ich zwei Beispiele von Ignatius nennen.

Die Aussage des andern zu retten suchen

Ignatius von Loyola, der Begründer des Jesuitenordens, gilt als Meister der Kommunikation. Im Exerzitienbüchlein schrieb er: «(…) Jeder gute Christ (muss) bereitwilliger sein, die Aussage des Nächsten zu retten, als sie zu verurteilen; und wenn er sie nicht retten kann, erkundige er sich, wie jener sie versteht; und versteht jener sie schlecht, so verbessere er ihn mit Liebe; und wenn das nicht genügt, suche er alle angebrachten Mittel, damit jener, indem er sie gut versteht, gerettet werde.»3

Die Begleitenden sollen nicht primär auf Konfrontationskurs gehen, sondern eher «die Aussage des Nächsten zu retten» suchen «als sie zu verurteilen»; «wenn er sie nicht retten kann, erkundige er sich, wie jener sie versteht». Statt forsch mit scharfem Urteil die anderen aufzuspiessen, fragen wir nochmals nach, um die Absicht und den Inhalt der Aussage besser zu verstehen. «Und versteht jener sie schlecht, so verbessere er ihn mit Liebe.» In Geduld und Liebe versuchen wir, den andern zur Einsicht, zum richtigen Verstehen zu bewegen, «und wenn das nicht genügt, suche er alle angebrachten Mittel, damit jener, indem er sie gut versteht, gerettet werde». Kommunikation bedeutet im Sinne von Ignatius nicht, passiv zu sein oder alles zu relativieren – es schliesst eine konstruktive und rücksichtsvolle Konfrontation mit ein. Ein zweites Beispiel: Ignatius gibt den drei Mitbrüdern Jay, Laínez und Salmerón, die am Konzil von Trient teilnehmen, folgende Anweisung mit, die man als goldene Regel der ignatianischen Kommunikation betrachten kann: «Ich wäre langsam im Sprechen, indem ich das Hören für mich nutze; ruhig, um die Auffassungen, Gefühle und Willen derjenigen, die sprechen, zu verspüren und kennenzulernen, um besser zu antworten oder zu schweigen.»4

Ignatius rät den Mitbrüdern, genau hinzuhören, auf die Auffassungen und Gefühle, auf die Intention des Gegenübers zu achten. Wir achten auf die Worte, Emotionen, auf die Absicht des anderen, auf die nonverbale Sprache, auf die Spannung oder Diskrepanz zwischen der verbalen und der nonverbalen Mitteilung, auf die Interaktion zwischen dem Gegenüber und mir. Wir «verkosten» im Hören auf das, was wir in uns an Freude oder Widerstand, an Begeisterung oder Ärger wahrnehmen. «Um besser zu antworten oder zu schweigen.»

Im Hören weise werden

In der wunderbaren Geschichte vom Traum Salomos heisst es: «In Gibeon erschien der Herr dem Salomo nachts im Traum und forderte ihn auf: Sprich eine Bitte aus, die ich dir gewähren soll.» Salomo soll anstelle seines Vaters David zum König gesalbt werden. So bittet Salomo im Traum: «Verleih daher deinem Knecht ein hörendes Herz, damit er dein Volk zu regieren und das Gute vom Bösen zu unterscheiden versteht. Wer könnte sonst dieses mächtige Volk regieren?»5

Verantwortungsvolles Handeln, gewichtige Urteile und Entscheidungen zu fällen, setzt Wissen und Kenntnis voraus, setzt ein hörendes Da-Sein voraus. Salomo fühlt sich in seiner neuen Rolle überfordert, er spürt die Widerstände und hofft auf die Hilfe von oben: Verleih du, Gott, daher deinem Knecht ein hörendes Herz, eine vernünftige Urteilsfähigkeit.

Ein weiteres Beispiel zu Dialog und Auseinandersetzung ist aus dem Neuen Testament. Es geht um die Frage der Beschneidung von Nicht-Juden, die Christen werden möchten: «Nach grosser Aufregung und heftigen Auseinandersetzungen zwischen ihnen und Paulus und Barnabas beschloss man, Paulus und Barnabas und einige andere von ihnen sollten wegen dieser Streitfrage zu den Aposteln und den Ältesten nach Jerusalem hinaufgehen.»6 Dem ersten Apostelkonzil geht eine verbale Auseinandersetzung voraus. Man setzt sich zusammen, um sich miteinander «auseinanderzusetzen». In etwas kühlender Distanz können wir gemeinsam auf Konfliktsituationen zurückblicken und sie zu bereinigen suchen. Die Frage, die sich hier stellt: Wie gelingt es uns, gewaltfrei und konstruktiv mit Spannungen oder Konfliktsituationen umzugehen? Das Hören auf die gegenseitigen Bedürfnisse, Wünsche, Anliegen kann ein Schlüssel zum Lösen der Konflikte sein. Was biblisch grundgelegt ist, gilt bis heute.

Theologische Auseinandersetzung mit der Welt von heute

Welche Brennpunkte und Nöte nehmen wir in der westlichen Kultur wahr? Wie kann die Theologie sich damit sinnvoll aus-einander-setzen? Angesichts einer zunehmenden Individualisierung, Atomisierung der Gesellschaft, von Gewalt und Konflikten sollte eine Theologie der Beziehung, des Dialoges und der Versöhnung vertieft werden. Zur Versöhnung beitragen können christliche Friedenskamps, Mediation und das Einüben von gewaltfreier Kommunikation. Auch im Sakrament der Versöhnung, das sich über die Jahrhunderte immer wieder gewandelt hat, steckt viel Potenzial. Rund um Ehe und Familie besteht diesbezüglich eine Not, wo Kirche und Theologie Hilfe anbieten können.

Im Umgang mit den Ressourcen der Erde, etwa mit dem blauen Gold, dem Wasser, das auch Konfliktpotenzial in sich birgt, bräuchte es eine Theologie der Schöpfung, eine Theologie der Genügsamkeit und der christlichen Askese. Geistige Strömungen wie Säkularisierung und Materialismus, Hedonismus und Agnostizismus gilt es besser zu verstehen: das Körnchen Wahrheit entdecken, so weit als möglich Aussagen zu retten suchen, auch hier, und Irrtümer widerlegen.

Das Christentum verdunstet allmählich, der christliche Analphabetismus nimmt zu. Bei den Generationen X und Y gibt es kaum Widerstände gegen den Glauben, aber es ist auch kaum Glaubenswissen und Glaubenserfahrung vorhanden. Wir können dies auch als Chance sehen, um junge Menschen auf neue Weisen zu erreichen, ohne uns anzubiedern. Welche Glaubenserfahrungen und Glaubensinhalte wollen wir weshalb vermitteln? Fragen der Ethik werden aktuell bleiben. Warum nicht eine Akademie für christliche Lebensfragen ins Auge fassen?

Eine weitere Herausforderung ist die konstruktive Auseinandersetzung innerhalb der christlichen Konfessionen und mit anderen Religionen. Auch hier ist das Wort, das Hören und Sprechen, ein Schlüssel zum interreligiösen Dialog. So schrieb Pater Rutishauser, Provinzial der Schweizer Jesuiten: «Dialog bedeutet wörtlich ‹durch das Wort› und stellt eine Alternative dar zu ‹durch Gewalt›, ‹durch Hinterlist›, ‹durch Manipulation›. Wie Gott durch das Wort die Welt erschafft und sich im Wort den Menschen erschliesst, so schafft der interreligiöse Dialog durch Gespräch und Begegnung einen Lebensraum für alle Menschen guten Willens. Wie in Christus das Wort Gottes Fleisch geworden ist (Joh 1,14), so wirkt sich im Dialog die Hinwendung Gottes zu allen Menschen konkret aus.»7

 

 

1 Papst Franziskus, Amoris laetitia, Nr. 137.

2 Ebd.

3 Ignatius von Loyola, Geistliche Übungen, nach dem spanischen Urtext übersetzt von Peter Knauer, Echter-Verlag 42006, Nr. 22.

4 Ignatius von Loyola, Briefe und Unterweisungen, übersetzt und hrsg. von Peter Knauer, Würzburg 1993. Vgl. Willi Lambert, Die Kunst der Kommunikation, Herder 1999, S. 45f.

5 Vgl. 1 Kön 3,5ff.

6 Vgl. Apg 15,1ff.

7 Christsein im Angesicht des Judentums, Ignatianische Impulse, Echter-Verlag 2008; S. 31.

Andreas Schallbetter SJ

Andreas Schalbetter

P. Andreas Schalbetter SJ ist kath. Hochschulseelsorger in Luzern und ausgebildeter Kommunikationsberater.