Posthumes Zeugnis eines Domherrn

Alt werden mit der Kirche. Das Thema legte die Zeitschrift «Offene Kirche» im November 2003 auch dem jüngst verstorbenen Domherr Johannes Amrein (1927–2016) vor. Wer im Abschiedsgottesdienst am 22. September in der Hofkirche dieses eindrückliche Zeugnis hörte, vernahm posthum die Stimme eines erfahrenen Priesters. Dessen Einschätzung des religiösen Lebens und der jüngeren Kirchengeschichte legen wir der SKZ-Leserschaft vor und danken Dr. Othmar Frei, der als Stiftspropst die ursprüngliche Fassung des Textes leicht gekürzt hat. Die Zwischentitel wurden von der Redaktion gesetzt.

In der Zeitspanne meiner Jahre hat sich die katholische Kirche derart verändert, vor allem in den Bereichen «Gebote», Gottesdienst und Liturgie, dass ich dies schon fast verwundert glauben müsste, hätte ich es nicht selber miterlebt und zu einem Teil auch mitgetragen. Mit einer eher engen, drohenden Botschaft kam die Kirche meiner Jugend auf mich zu, sie witterte beinahe überall «Sünde»; Himmel und Hölle begleiteten mich als hoffnungsvolle Verheissung für mein Bravsein oder als bedrohendes «Aus» für meine «Sünde». (…) Die Personen der Kirche waren sympathisch, zugänglich, autoritär, ängstlich, moralisierend, freundlich, wohlwollend – wie eben Menschen sind. (…) Ich erlebte in dieser Kinderzeit eine Pflegemutter, die trotz oder vielleicht gerade wegen ihrer Frömmigkeit eine gewisse Distanz zum Kirchenbetrieb und Kirchenpersonal zu wahren wusste. Obwohl ich dann, weniger aus Nachahmung, vielmehr aus innerem Antrieb ein «Kirchenmann» wurde, versuchte ich immer, meinen persönlichen Freiraum zu wahren, nicht nur zu glauben und zu tun, «was die Kirche zu glauben vorschreibt», sondern mein kirchliches Tun zu befragen und in meine Verkündigung nur das einfliessen zu lassen, was ich auch selber glauben konnte.

In kritischer Loyalität

Hier darf ich aber auch sagen: Ich habe nie einen Bischof erlebt, der mir eine kritische Haltung übelgenommen hätte. Ich habe immer versucht, meinen persönlichen Glauben zu verkünden, Sakramente zu spenden, dass sie nicht einfach zum Ritual verkamen, sondern dass sich ihr Sinn in der gerade gültigen Lebenssituation des angesprochenen Menschen erschloss. (…) Durch den kirchlich-seelsorgerlichen Dienst am Menschen wurde ich nicht nur gefordert, sondern auch gestützt und ermuntert. Auch ich hatte manchmal den Eindruck, eine Botschaft verkünden zu müssen, die nicht mehr gefragt ist, etwas anzubieten, das nur mühsam Interessenten findet. Trotzdem konnten ja nicht sichtbarer Erfolg oder Misserfolg ausschlaggebend sein, sondern die Tatsache, dass die Botschaft Jesu mir selber, meinem Leben Motivation und Inhalt zu geben vermochte.

Älter werden war auch ein Jünger werden

«Kirche» war für mich, je älter ich wurde, je länger, je weniger Struktur, Institution, Hierarchie, Organisation – so beeindruckend das sein mag. Sie ist für mich Hüterin und Überbringerin der Botschaft Jesu im Evangelium und «Verwalterin von Geheimnissen Gottes» (1 Kor 4,1). An dieser Aufgabe wollte ich sie auch messen. Oft genug habe ich erlebt, dass ihr Gewand zerknittert und ihr Gefäss zerbrechlich, ihre Hände schmutzig waren, dass Menschlichkeit in der Kirche sich leider nicht nur mitmenschlich zeigte, sondern auch versagend, sogar stolz und arrogant, unversöhnlich. Trotzdem möchte ich sofort festhalten, dass ich persönlich sehr viel Positives, Ermunterndes, Kameradschaftliches, ja Freundschaftliches und Tröstendes erlebt habe, ohne dabei in naive Schwärmerei zu geraten … Ich darf gestehen, mein Älterwerden in der Kirche war auch ein Jüngerwerden. Die fast andauernde Auseinandersetzung mit den Fragen und Problemen der Zeit, d. h. den Menschen dieser Zeit, jungen und alten, kritischen und distanzierten, modernen und konservativen, rationalen und gemüthaften, war eine stets neue Herausforderung. Immer wieder musste ich lernen, zu verstehen, dass andere anders denken, empfinden, andere Erfahrungen, aber auch andere Veranlagungen mitbringen, dass meine Ansichten keineswegs Allgemeingültigkeit beanspruchen konnten. Ich musste lernen, Autoritäten nicht besserwisserisch abzulehnen, aber sie doch zu hinterfragen, nicht nur zu übernehmen, sondern selber zu denken. Diskussionen, Auseinandersetzungen wurden so möglich über Themen, die früher gar nicht oder nur kaum auf den Tisch gelegt wurden, «Lernprozesse» wurden angestossen, für die ich sehr dankbar bin.

Freude an Zeichen und Symbolen

Neben diesem eher rationalen Bereich theologischer und pastoraler Auseinandersetzung haben sich mir im Laufe der Jahre andere Sichten erschlossen, etwa die Freude an Zeichen und Symbolen, an meditativen Ritualen, am gemeinsamen Chorgebet. (…) Je länger, je mehr bekam ich innere Distanz zu den aufmacherischen und laut daherkommenden Alltagsdiskussionen um Kirchenstrukturen und Kirchendisziplin, um die so oft genug bejammerten «ungelösten» Probleme in dieser Kirche. Das heisst nicht, dass ich sie nicht sehen und daher übersehen möchte. Ich empfinde, dass solche Diskussionen je länger, je mehr auf verschiedenen Denkebenen geführt werden, sich vor allem im kirchlich-gesellschaftlichen Bereich bewegen, nach dem Muster einer politischen «Arena»-Diskussion, jedenfalls losgelöst vom Mysterium. Verständigungsschwierigkeiten sind darum unvermeidlich. Gerade das Mysterium, das Geheimnis wird mir zunehmend wichtiger …

Der Verlust des Mysteriums ist nahe dem Verlust an der Transzendenz, und damit an der Realität Gottes. Glauben ist, das sage ich auch als alter Priester, immer Geheimnis, in letzter Konsequenz ausserhalb meiner Erfassbarkeit. Das habe ich immer wieder erfahren. (…) Ich habe auch immer wieder erfahren, dass auch ich mir selber oft genug ein Geheimnis bin. (…) Geheimnis heisst immer auch fragen, stille werden. Zu dieser Erkenntnis haben mir Menschen der Kirche, Menschen der Vergangenheit und der Gegenwart, Menschen der Theologie und des Alltags geholfen.

Anziehungskraft dieser Lebensweise ist wie geschwunden

Ein Problem, das mir zu schaffen macht: (…) Warum gingen in den letzten Jahrzehnten in unserer Kirche die Berufungen zum Priestertum und zum Ordensleben massiv zurück? (…) Warum ist die Anziehungskraft dieses Berufes und dieser Lebensweise bei uns wie ausgebrannt, wie geschwunden? (…) Ich weiss es nicht. (…) Diese Tatsache hatte allerdings eine Folge, die heute gewiss als Bereicherung empfunden werden darf. Neue Berufsbilder kirchlicher und pastoraler Arbeit konnten sich entwickeln und Anerkennung finden. So sehe ich mich heute in einem vielfältigen Engagement vieler Frauen und Männer, die in der je zugewiesenen Aufgabe nach Mass ihrer Ausbildung in kirchlicher Sendung arbeiten und so auf ihre Weise teilhaben an der «Missio», an der Sendung der Kirche. Es bietet sich mir ein Bild der Vielfalt kirchlichen Personals, das ich mir in meiner Jugend nie vorstellen konnte. So bin ich alt geworden, die Kirche aber entfaltet sich in produktiver Jugendlichkeit. (…) Was zunächst mit einem gewissen Makel der «Notlösung» eingeführt wurde, kann sich heute als anerkannt und geschätzt sehen. Das ist doch ein Zeichen von Anpassungsfähigkeit und Offenheit für Neues.

Gestützt und gehalten

Ich werde alt, (…) ohne Verbitterung, gestützt und gehalten gerade auch von der Kirche, von vielen kirchlichen Personen, von der Botschaft Jesu, die ich selber durch die Kirche bekomme und auch selber verkünde, gehalten auch durch die Geheimnisse des Glaubens, die Sakramente der Kirche, das gemeinschaftliche Beten. Was mich hält und gehalten hat, das versuche ich auch weiterzugeben. Die Gemeinschaft des Glaubens empfinde ich nicht als einengend, sondern als Gemeinschaft, die mir Distanz erlaubt, mich inspiriert, kritisches Denken anregt, Verstand und Gemüt bereichert und mich immer wieder zurückführt zur Bibel und so zur Begegnung mit dem Mensch gewordenen Gott Jesus Christus.

 

Johannes Amrein

Johannes Amrein war Regionaldekan im Kanton Luzern und wirkte als Stiftspropst des Kollegiat-Stiftes St. Leodegar. Mehrere Jahre stand er als Feldprediger im Einsatz. Er starb am 12. September 2016.