Schluss machen mit der «Erbsünde»?

Michel Salamolard: En finir avec le "péché originel"? Exploration théologique et pastorale. (Editions Fidélité) Namur 2015, 288 p.

Das ist der Titel eines Buches des theologischen Walliser Schriftstellers und Priesters Michel Salamolard – und er beantwortet die Frage mit Ja! Und dies durchaus nicht in destruktivem Sinn, als ob er das dogmatische Gebäude ins Wanken bringen wollte, sondern konstruktiv, indem er kritisch nachfragt, wie es eigentlich mit den "Belegstellen" aus Bibel, Kirchenvätern und Theologen steht, ob sie hieb- und stichfest sind, und er weist überzeugend nach, dass dies leider nicht der Fall ist. Dann holt er weit aus, um zu zeigen, wie man Theologie und Anthropologie viel positiver, menschenfreundlicher und gottähnlicher gestalten kann. Seit etlicher Zeit schon konnte kein denkender Mensch mehr nachvollziehen, warum ungetauft gestorbene Kinder des ewigen Heils verlustig sein sollten (früher hiess es noch ganz klar: in die Hölle kommen – und als diese Idee nicht mehr haltbar war, erfand man die "Vorhölle", den Limbus), gleich wie alle, die nie von Christus und seiner Kirche gehört hatten oder sich ihr aus verschiedenerlei Gründen nicht anschliessen konnten. Sollte in der Tat der arme "Adam" (was soll man sich darunter vorstellen?) durch die Missachtung eines göttlichen Gebotes für sich und alle seine Nachkommen (lange Zeit gedeutet als durch den Zeugungsakt übermittelte Erbschuld) die Aussicht aufs Heil verpasst haben?

Salamolard sieht Schöpfung und Erlösung ganz anders: Erstens einmal sind sie nicht an Sündenfall und Kreuzestod gebunden, sondern sind ein einheitlicher Vorgang, der seinen Ursprung in Gott hat und durch die Gottwerdung des Sohnes in seinem Leben, Sterben und Auferstehen seine Vollendung findet. Der Mensch als Geschöpf kann nicht vollendet, vollkommen wie der Schöpfer sein, aber seine Schwäche und Anfälligkeit sind von Anfang an aufgefangen in Gottes Liebe, was für die ganze Menschheit wie für jeden einzelnen Menschen gilt. Das Buch geht sehr umsichtig vor, begleitet die klar gegliederten Ausführungen oft mit Skizzen – das didaktische Geschick des Autors ist offensichtlich. Er will keine abgeschlossene, endgültige Lehre bieten, sondern – wie es auf der Rückseite des Buches heisst – Wege öffnen und nicht ein Gehege von Sicherheiten abgrenzen. Er rundet die Darlegung mit einer grundsätzlichen Überlegung zur Hermeneutik der biblischen Schriften ab: Sie sind selber die "Deutungskunst" für Gott und seine Schöpfung und verlangen ihrerseits nach einer sauberen Deutung, die von der Aufnahmefähigkeit und Einsicht des Menschen abhängt. Die Frage des Bösen (des Übels) wird nicht ausgeklammert, aber im Rahmen einer Heils- und Hoffnungsgeschichte behandelt. Wer einigermassen des Französischen mächtig ist, wird in diesem Buch eine einleuchtende und trostvolle Begleitung finden. Man kann dem Autor nur dankbar sein.

 

 

 

Iso Baumer

Iso Baumer

Dr. Iso Baumer, geboren 1929 in St. Gallen, studierte Sprach- und Literaturwissenschaft und war als Gymnasiallehrer in Bern und Lehrbeauftragter für Ostkirchenkunde an der Universität Freiburg (Schweiz) tätig. Er befasste sich früh mit Theologie und verfasste viele Publikationen zur westlichen und östlichen Kirchengeschichte (religiöse Volkskunde, Ostkirchenkunde).