Säkularisierung versus Christentum

Strukturerhebung der Eidg. Volkszählung 2010

Dem herausfordernden Thema stellte sich Dominik Arnold in seiner 2015 eingereichten Maturaarbeit.1 Die preisgekrönte Arbeit wurde unter der Ägide von Dr. Maria Brun erstellt und verdient es, hier in einer durch den Autor selber vorgelegten Zusammenfassung beachtet zu werden.

Seit etwa 1970 sinkt die prozentuale Zugehörigkeit zur römisch-katholischen und stärker noch zur evangelisch-reformierten Kirche ins Bodenlose. Die grafische Darstellung zeigt ebenso den Gegentrend mit dem fast exponentiell wachsenden Anstieg der Konfessionslosen, welche erst nach Mitte 1960 als eigene Sparte vermerkt sind. Infolge welcher Faktoren entstand diese Verlagerung? Was bedeutet Religion und Spiritualität für die heutige Gesellschaft in der Schweiz? Die Maturaarbeit suchte diese Fragen zu beantworten.

In der Religionssoziologie werden die erwähnten Veränderungen als "Säkularisierung" bezeichnet. Damit gemeint ist allgemein eine "Loslösung von der Kirche" bzw. "Verweltlichung". Die Wurzeln der Säkularisierung liegen jedoch weit vor dem effektiven "Aderlass der Kirchen". Um ihr Entstehen zu verstehen, muss zuerst ein Blick auf die Schweizer Religionsgeschichte seit bzw. vor dem 19. Jahrhundert geworfen werden.

Wie es dazu kam

Seit der Reformation (1517) ist die Schweiz in katholische und protestantische Gegenden aufgeteilt. In der Vergangenheit standen sie sich höchst feindselig gegenüber, so dass es 1848 zum Sonderbundskrieg kam. Aus dem für die Protestanten siegreichen Ende des Krieges resultierte schliesslich die Schweizer Bundesverfassung, welche Religionsfreiheit garantiert und die Kantone ihr Verhältnis zwischen Kirche und Staat autonom regeln lässt. Die konfessionelle Zugehörigkeit, besonders die Abgrenzung zur anderen Konfession waren im 19. Jahrhundert äusserst wichtige und identitätsstiftende Faktoren des Schweizer Lebens. Jedoch taten sich Diskrepanzen innerhalb der Konfessionen auf. Die Streitfrage, ob die Bibel historisch-kritisch ausgelegt werden soll oder nicht, spaltete die Protestanten.

Auf der einen Seite befanden sich die "Positiven", die an Gottes Wundern festhielten, auf der anderen Seite lehnten die "Liberalen" jegliche Wunder Gottes ab. Die Bibel sahen sie als rein ethisches Werk an. Da sich die "Liberalen" in den Streitpunkten durchzusetzen wussten, traten zahlreiche "Positive" aus der Kirche aus, um unabhängige protestantische Kirchen, sogenannte Freikirchen, nach ihren Vorstellungen zu gründen. Damit entstanden nebst der römisch-katholischen und der evangelisch-reformierten Kirche weitere Konfessionen mit christlichem Grundsatz. Durch die Vielzahl an neuen Kirchen sanken die gesellschaftliche Erwartungshaltung, einer bestimmten Konfession anzugehören, und die Identifikation mit der eigenen Konfession stark.

Ende des 19. Jahrhunderts verankerte sich in Teilen der Schweizer Bevölkerung, vor allem in der Arbeiterschicht, auch atheistisch-marxistisches Gedankengut. Damit entstand erstmals eine Gegenbewegung und Alternative zum Christentum. 1918 ereignete sich der Schweizer Generalstreik, als die Auseinandersetzung zwischen dem Marxismus und der bestehenden Ordnung ihren Höhepunkt erreichte.

Trotzdem wurde die Schweiz gegen innen in Krisenzeiten wie dem 2. Weltkrieg als rein christlicher Hort des Friedens betrachtet, um sich mithilfe des so geschaffenen Gemeinschaftsgefühls gegenüber den atheistischen Nazis und Kommunisten abzugrenzen. Es liegt jedoch auf der Hand, dass infolge der bereits beschriebenen Umwälzungen nicht sämtliche Schweizer einen unerschütterlich christlichen Glauben aufwiesen. Unter dem Deckmantel des Krieges wurde diese Tatsache aber kaschiert.

"68er-Bewegung"

Es war dann die junge Generation, die 20 Jahre darauf in den 1960/70er-Jahren die Säkularisierung ans Licht brachte und vorantrieb. Bei den unter dem Namen "68er-Bewegung" zusammengefassten Protestbewegungen handelt es sich um einen Generationenkonflikt, in dem junge Menschen den Vietnamkrieg, Imperialismus, Faschismus, Militarismus und Kolonialismus an den Pranger stellten. Primär wandte sich ihre Kritik nicht an die Religion. Dennoch waren ihre Ziele mit institutioneller Religion nur schwer zu vereinen. Werte wie individuelle Freiheit, Individualismus im Allgemeinen, Selbstverwirklichung, Selbstentfaltung und Kreativität wurden hochgehalten, welche die, aus der Sicht der Demonstranten, veralteten Werte des Gehorsams, der Unterordnung oder des Arbeitseinsatzes, innerhalb derer sich die Kirchen legitimierten, ablösen sollten. Einfacher gesagt, wurden die vorherrschenden Pflicht- und Akzeptanzwerte durch Selbstentfaltungswerte ersetzt. Die "individuelle Freiheit" und die damit verbundene Toleranz galten der Bewegung als eminent wichtig. Folglich resultierte eine Zurückdrängung der Religion in die Privatsphäre, und die Religionszugehörigkeit wurde als wählbar angesehen. Der Kirchenaustritt und die Möglichkeit eines säkularen Lebens (auch "säkulare Option" genannt) wurden damit enttabuisiert.

In der religionssoziologischen Literatur ist die katalysierende Wirkung der 1968er-Bewegung auf die Säkularisierung unbestritten. Faktisch ereignete sich ein Paradigmenwechsel in Bezug auf die Stellung der Religion, aber auch allgemein auf die Gesellschaft. Seither fühlen sich die Menschen nicht mehr von Geburt an als Mitglied einer Konfession. Vielmehr nehmen sie sich selbst als "Kunden" gegenüber "Anbietern" wahr. Ihre Religion wählen sie individuell und frei, im Zentrum steht das "Ich", weshalb das Buch "Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft", welches für diese Arbeit als wichtige Quelle fungierte, die heutige Gesellschaft auch mit "Ich-Gesellschaft" betitelt.2 Ausserdem steht den religiösen "Anbietern" im Wettkampf um die Gunst der Menschen auch Konkurrenz von Seiten säkularer Kreise gegenüber. Wer beispielsweise nach Hilfe in Problemsituationen verlangt, kann sich entweder an das Seelsorgeteam seiner Pfarrei wenden oder aber psychologischen Beratungen das Vertrauen schenken. Oben genanntes Buch spricht hierbei von einem "religiös-säkularen Konkurrenzkampf".

Religiöse Landschaft verstehen

Die alles entscheidende Frage ist, wie sich die momentane religiöse Landschaft fassen lässt. Diverse Religionssoziologen machten sich an die Aufgabe, verschiedene Stereotypen zu kreieren, die unterschiedliche Formen des Glaubens bzw. Unglaubens wiedergeben, so auch die Autoren des erwähnten Buchs. Sie wagen den Versuch, alle Schweizer und Schweizerinnen in eine aus 4 Typen und 9 Subtypen bestehende Kategorisierung einzuteilen. Grob zusammengefasst, existieren laut der Studie ein institutioneller Typ, der sich christlichen Konfessionen verbunden fühlt, ein alternativer Typ, der auf alternativ-spirituelle Praktiken setzt, und ein säkularer Typ, welcher sich als Atheist versteht und somit keinerlei Affinitäten zu Religion und Spiritualität aufweist. Der vierte, distanziert genannte Typ distanziert sich dem Namen gemäss in der Regel von metaphysischen Fragen aller Art, verfügt jedoch trotzdem über eine gewisse, wenn auch nicht detaillierte Vorstellung einer höheren Macht. Die neun Subtypen unterscheiden lediglich die vier Typen genauer; ihre Gestalt ist im Wesentlichen aber unerheblich.

Auch der bekennende Atheist und Evolutionsbiologe Richard Dawkins veröffentlichte in seinem Buch "The God Delusion"3 eine Kategorisierung der Menschen, die jedoch lediglich die Frage nach der Wahrscheinlichkeit Gottes behandelte. Seine sieben Kategorien reichen von "stark theistisch: Gotteswahrscheinlichkeit 100 Prozent (…) ‹Ich glaube nicht, ich weiss› bis hin zu stark atheistisch: ‹Ich weiss, dass es keinen Gott gibt›." In der Maturaarbeit wurden bezüglich der beiden Kategorisierungen Thesen aufgestellt.

Anfragen an Kategorisierung von Typen

Eine Kategorisierung der Menschen nach einer 7-Punkte Skala oder nach 4 Typen und 9 Subtypen ist zu simplifizierend.

Diese These kristallisierte sich heraus, nachdem manche der im Rahmen meiner Maturaarbeit befragten Interviewpartner in keine der beiden Kategorisierungen eindeutig eingeteilt werden konnten. Die Religiosität und die Vorstellung von Transzendenz wurden laut der These seit der 68er-Bewegung dermassen individualisiert, dass gemeinsame Nenner nicht so leicht zu finden sind. Als simplifizierende Momentaufnahme der Religionslandschaft taugt die Kategorisierung des Buches "Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft" jedoch bestens. Dawkin’s "Spektrum der Gotteswahrscheinlichkeit" hingegen ist als relativ nichtssagend zu deklarieren, da das Verständnis des Begriffs "Gott" enorm variiert (mehr dazu unter These 4). Bezüglich der zweiten These dieser Arbeit kann ebenfalls auf den Atheisten Richard Dawkins Bezug genommen werden.

Sie lautet wie folgt:

Durch die heutzutage allgegenwärtige Kritik an der Religion scheint das Interesse daran bestätigt.

Kein Tag vergeht, an dem die Medien nicht religiöse Fragestellungen, meist ein wenig plakativ, abhandeln. Besonders die katholisch-konservative Haltung bezüglich gesellschaftspolitischer Themen (Homosexualität, Empfängnisverhütung, Zölibat, Rolle der Frau in der Kirche) und den Islam betreffende Punkte (Kopftücher, Burkas, Rechte der Frauen und der Bezug zum radikalen Islamismus) erregen die Gemüter. Kontroverse Diskussionen zwischen Atheisten wie Dawkins und religiösen Milieus werden darüber geführt. Die grosse, oft kritisch gestimmte Masse interessiert sich nachweislich stark für diese Thematik. Unter diesem Gesichtspunkt wird Religion nicht an den Rand der Gesellschaft gedrängt, verschwiegen oder tabuisiert, sondern offen debattiert. Die Menschen wollen sich zu den Streitpunkten eine Meinung bilden und sind auf der Suche nach Antworten, was unweigerlich zur nächsten These führt.

Das Interesse an Religion bestätigt auch das persönliche Suchen nach einer Transzendenz.

Wer sich für Religion interessiert oder sie gar kritisiert, muss sich notwendigerweise mit der Materie befassen. Um eine Weltanschauung zu negieren oder zu bekämpfen, ist es unerlässlich, sie im inneren Dialog abzuwägen und schliesslich zu verwerfen. Dieser Vorgang ist unweigerlich als ein Transzendieren zu konstatieren. Die These besagt also, dass, wenn ein Interesse oder gar eine Abneigung gegenüber Religion in irgendeiner Form besteht, dies immer mit einer vertieften Auseinandersetzung einhergeht; denn niemand verfügt bei seinem Glauben über Gewissheit. Wer eine Vorstellung ablehnt, sympathisiert zwangsläufig gleichzeitig mit einer anderen. Die vierte These beschreibt die Ausprägung der dritten These im säkularen Milieu.

Auch die "säkulare Option" ist als eine Form der Religionsausübung erkennbar.

Das Material, welches in der Maturaarbeit analysiert wurde, brachte die Erkenntnis zutage, dass auch Menschen, die sich selbst als Atheisten bezeichnen, transzendent anmutende Vorstellungen besitzen. So treten an die Stelle des Wortes "Gott" die Begriffe "Liebe", "Schicksal", "Lebensenergie" oder der "Mensch". Unter diesem Gesichtspunkt glaubt ein jeder. Die Ausprägungen des Glaubens sind extrem individuell. Vorliegende These bewegt sich auf der Linie der in der Religionssoziologie prominenten Individualisierungstheorie, welche Religiosität extrem vielfältig definiert und dabei auch Musik, Sport oder Sexualität impliziert. Allerdings lässt sich eine derart offene Definition von Religiosität nicht empirisch nachverfolgen. Es bedarf einer klaren Grenze zwischen säkularen und religiösen Begriffen. In der These wird diese dort angesetzt, wo das Individuum eine Hoffnung im transzendenten Sinne verspürt, und nicht nur da, wo eine absolute Hingabe besteht.

Vor allem freidenkerische Milieus stellen den Menschen ins Zentrum ihrer Hoffnung auf eine bessere Welt. Die fünfte und letzte These lautet folglich: Dem Menschen und seiner Machbarkeit wird im freidenkerischen Milieu eine fast gottgleiche Allmacht zuteil. Während Menschen, die religiös im engeren Sinne sind, ihren Zukunftsglauben auf ihren allmächtigen Herrscher setzen, vertrauen Freidenker auf das Gute im Menschen. Sie stilisieren ihn regelrecht zum Gott empor. Manche Freidenker bezeichnen sich auch nicht als Atheisten, sondern als Humanisten. Schon im 18. Jahrhundert lassen sich Anzeichen einer solchen "Religion" erkennen, so schliesst der deutsche Dichter Johann Wolfgang von Goethe sein Gedicht "Das Göttliche" (1783) wie folgt:

"Der edle Mensch
Sei hilfreich und gut!
Unermüdet schaff er
Das Nützliche, Rechte,
Sei uns ein Vorbild
Jener geahneten Wesen!"

Ein signifikanter Unterschied besteht hier aber trotzdem; die modernen Humanisten streichen Goethes "geahnte Wesen" gänzlich, das Vorbild ist der Mensch mit seiner nahezu uneingeschränkten Macht.

Enorme Individualität

Zusammenfassend gesagt besteht ob der Vielgestaltigkeit und der enormen Individualität der Schweizer Religionslandschaft kein Zweifel. Es stellt sich die Frage, wie sich die Kirche hinsichtlich dieser Veränderung positionieren soll. Für sie zeichnet sich ein Dilemma sondergleichen ab. Einerseits wird ein striktes, autoritäres und rigides Auftreten der Kirche gesellschaftlich nicht toleriert, was sich in Kirchenaustritten manifestiert. Andererseits würden der Identifikationsfaktor und das Gemeinschaftsgefühl gegen null streben, wenn sämtliche Normen abgeschafft würden und nur die persönliche Spiritualität bliebe. Der Religionssoziologe Jörg Stolz bringt dies auf den Punkt: "Eine Religion, die zu liberal wird, schafft sich selber ab." Die Gefahr besteht also für die Kirchen, den Tod der Gesichtslosigkeit zu sterben. Es liegt an ihnen, die Balance zwischen gesellschaftlicher Öffnung und Erhaltung ihrer Grundsätze zu finden. Die Säkularisierung bzw. die Individualisierung auf diesem Weg zu verhindern, scheint allerdings nicht realistisch; sich im religiössäkularen Konkurrenzkampf besser zu positionieren, jedoch schon.

 

 

 

1 Dominik Arnold: Säkularisierung versus Christentum. Eine Analyse der Ursachen und Auswirkungen der Säkularisierung auf die Religiosität der Schweizer Christen. Kantonsschule Seetal Baldegg, 2015

2 Stolz, Jörg; Könemann, Judith; Schneuwly Purdie, Mallory; Englberger, Thomas; Krüggeler, Michael: Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft. Vier Gestalten des (Un-)Glaubens. Zürich, 2014

3 Dawkins, Richard: The God Delusion. London, 2006. Übersetzung aus: Vogel, Sebastian: Der Gotteswahn. Berlin, 2007

Weitere Literatur

Hans Joas: Glauben als Option. Zukunftsmöglichkeiten des Christentums. Freiburg/ Basel/Wien, 2012.

Jörg Stolz, in: Michael Meier: Eine Religion, die zu liberal wird, verschwindet, TA 3.3.2011 www.tagesanzeiger.ch/kultur/buecher/Eine-Religion-diezu-liberal-wird-verschwindet-/story/24399435 (Zugriff am 3. 9. 2015).

Johann Wolfgang Goethe, in: Projekt Gutenberg – DE. Johann Wolfgang Goethe: Gedichte – Das Göttliche, 1783. gutenberg.spiegel.de/buch/johann-wolfgang-goethe-gedichte-3670/55 (Zugriff am 13.4.2016).

Dominik Arnold

Dominik Arnold, geboren am 5. 12. 1996 in Luzern, wohnhaft in Hochdorf, engagiert als Oberministrant und Lektor. Schliesst im Juni 2016 die Matura ab, plant ab 2017 ein Theologiestudium und ist interessiert an Religion, Philosophie, Politik und deutscher Literatur.