Kirche in der Glaubenskrise

Michael Böhnke, Theologe in Wuppertal, ist Autor der Studie "Kirche in der Glaubenskrise. Eine pneumatologische Ekklesiologie".1 Darin nimmt er die vom französischen Konzilstheologen Louis Bouyer geäusserte Diagnose auf: kaum mehr Heiliger Geist und kein Kirchenrecht.

Die scheinbar antithetisch zueinanderstehenden Lücken in der Kirchenkonstitution Lumen Gentium nimmt Böhnke (B.) zum Anlass, die nicht bearbeitete Grundspannung von Macht des Heiligen Geistes und Übermacht göttlichen Rechts bzw. übermächtigen Strukturen im Wege einer theoretischen Fundierung zu überwinden.

Es sei die Grundspannung von Geist und Recht, die die Krise in der Kirche bewirkt und sich in verschiedenen Formen von Glaubens-, Kirchenbis hin zur Gotteskrise zeige. B. fordert eine pneumatologische Reformulierung der Ekklesiologie: der anamnetisch-epikletische Charakter der Kirche sei in ihren Selbstvollzügen neu zu entdecken und durchzubuchstabieren (315). Dabei ist Kirche als eine Einheit von Glaubens-, Heils- und Rechtssinn zu verstehen. So werden anhand der Treue Gottes, dem theologischen Wurzelgrund der Epiklese und dem entscheidenden theologischen Zentrum, die verschiedenen Vollzüge und Strukturen der Kirche entfaltet, dies auf der Ebene der Sakramente und auch auf der der kirchlichen Strukturen.

Epiklese als Form gläubigen Handelns

Es geht um den Aufweis der Epiklese als die Form gläubigen Handelns. Dabei habe das Handeln der Kirche selbst "in all ihren gesellschaftlichen Dimensionen – und das schliesst das Recht der Kirche mit ein – die unbedingt zuvorkommende Freundschaft und Treue Gottes zu den Menschen" (121) darzustellen. Epiklese behalte ihren konstitutiven Sinn für das menschliche Handeln, solange die Vollendung der endgültigen Heilszusage Gottes noch aussteht. Angesichts dessen, dass sich Treue Gottes in den epikletischen Vollzügen manifestiere, erinnert B. mit Nachdruck daran, dass es ausserhalb des Heiligen Geistes für die Kirche kein Heilswirken und keine Heilsgewissheit gebe. Geist sei "als freie und aktive Treue Gottes gegenüber seiner Schöpfung zu verstehen und das Recht als die Regel zu legitimieren, die der von Gott unbedingt geachteten Würde des Menschen entspricht" (271). Epiklese begründet Communio und "mündet in der Hingabe der Einzelnen wie der Kirche als Ganzer für andere, in der aktiven Proexistenz" (249). Folglich seien "strukturell Dialog und Synodalität zu fördern" (269). Die unterschiedlichen Rollen von ordinierten Amtsträgern und Getauften sind angesichts des anamnetisch- epikletischen Vollzugs einander zugeordnet: die Autorität des "Ordo" ist zugleich Dienst an den Gläubigen. Weil das "gesellschaftliche Gefüge der Kirche" nicht "als Zweck an sich selbst", sondern "dem Aufbau des Reiches Gottes und seiner Gerechtigkeit " (121) dienlich ist, sieht B. "den Raum für eine mögliche Demokratisierung der Kirche" (117 Anm. 29) eröffnet. Wie Papst Franziskus zu Beginn seiner Amtszeit hervorgehoben hat, kann Kirche heute nur durch das Gebet der Kirche um den Geist, die Epiklese, die Autorität Gottes für sich und ihr Handeln, ihre Tradition, ihre Geschichtlichkeit, ihre Strukturen und die Ökumene in Anspruch nehmen.

Bedarf nach Überarbeitung kirchlicher Normen

Eine Leerstelle des Konzils, die "gravierende Konsequenzen" (48) zeitige, bildet eine theologische Grundlegung des Kirchenrechts; es bedürfe einer Überarbeitung kirchlicher Normen. Recht hat seinen Grund in der unbedingten "Achtung vor dem Unbedingten im Menschen, die Achtung seiner Freiheit" (270). Der Mensch sei ins Zentrum des Kirchen- und auch Rechtsverständnisses zu rücken. Sowohl Ekklesiologie als auch Kirchenrecht haben "von der in der Taufe erworbenen Rechtspersonalität und den in der Taufe erworbenen Rechten der Getauften auszugehen" (288). Insofern Sacrosanctum Concilium den Subjektbegriff für den liturgischen Selbstvollzug der Kirche erweitert hat und ihn auf alle Getauften bezieht, wird offenkundig, dass Epiklese als die "Form der tätigen Teilnahme der Gläubigen am liturgischen Geschehen" (249) anzusehen ist. Kirchenrecht bedürfe einer anthropologischen Akzentuierung im Lichte eines zeitnahen Freiheitsdiskurses. Aufgabe des kirchlichen Rechts sei es, die Freiheit "Gottes, der Menschen und der Kirche, die Freiheit des Glaubens und Gewissens, den freien Vollzug der Lehre, der Liturgie, des Gebetes und der Diakonie als Elemente der Partizipation an freien Anerkennungsverhältnissen" (283f.) zu schützen. Diesbezüglich seien jedoch im Codex und auch im kanonistischen Denken spürbare Defizite zu verzeichnen, beispielsweise seien die Christenrechte nicht mehr als nötig einzuschränken und das Votum der Gläubigen neu zu gewichten.

Die Studie lädt ein, die Grundspannung zwischen Geist und Recht in der Perspektive der Kirche als "Kommerzium der Freiheit" (318) gründlich zu überdenken. Dem Plädoyer des Autors für fächerübergreifendes Denken kann mit guten Gründen beigepflichtet werden. 

 

 

1 Michael Böhnke: Kirche in der Glaubenskrise. Eine pneumatologische Skizze zur Ekklesiologie und zugleich eine theologische Grundlegung des Kirchenrechts. Freiburg 2013. Zahlen im Text weisen auf Seitenzahlen der Studie.

Sarah Maria Röck

Sarah Maria Röck, Dr. theol., war wissenschaftliche Assistentin an der o. Professur für Kirchenrecht und Staatskirchenrecht der Universität Luzern / heute tätig als Pastoralassistentin in Nürnberg.