Säkulare Muslime setzen Akzente

Jasmin El Sonbati äussert sich als Mitunterzeichnerin im Interview mit Stephan Schmid-Keiser zur Freiburger Deklaration.

Im September 2016 erschien die Freiburger Deklaration als gemeinsame Erklärung säkularer Muslime in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Ihr vorangestellt ist der Satz des muslimischen Philosophen und Arztes Ibn Rushd (1126–1198): «Unwissenheit führt zu Angst, Angst führt zu Hass, und Hass führt zu Gewalt. Das ist eine einfache Gleichung.» Was sehen Sie als Mitunterzeichnerin dieser Deklaration in dieser einfachen Gleichung?

Jasmin El Sonbati: Ibn Rushd war ein Wissenschaftler und Philosoph, der in der Blütezeit des Islam gelebt und gewirkt hat. In einer Zeit, in der man noch streiten konnte innerhalb der islamischen Welt, und zwar mit Tinte und Papier, in der nichts feststand, so wie heute, wo Pluralismus und Meinungsvielfalt herrschen. An diese Tradition wollen wir mit der Deklaration anknüpfen. Im jetzigen Kontext der islamischen Welt herrscht tatsächlich Unwissen; Bildung im wahrsten Sinne des Wortes, die den Menschen zu einem mündigen Bürger, zu einer mündigen Bürgerin macht, ist nirgends in den totalitären Regimen des islamischen Welt präsent. Auch die Religion fällt dieser Unwissenheit zum Opfer, da sie nicht weiterentwickelt werden darf, weil der Mensch nicht weiterdenken darf. Der von Ibn Rushd formulierte Zusammenhang führt genau dorthin, wo wir heute zum Teil sind, wo die Religion des Islam aufgrund der Tatsache, dass sie in der Unwissenheit versinkt, zu Gewalt führt.

Die Freiburger Erklärung formuliert eingangs einige Visionen, stellt die Werte säkularer Muslime ebenso dar wie Ziele, die zu erreichen sind. Welche Akzente sind für Sie wichtig, damit sich Mitglieder von Moscheen und Mitglieder der hiesigen säkularen Gesellschaften auf gemeinsame Ziele einigen können? Können Sie Akzente aus der Deklaration nennen, die Ihnen besonders wichtig sind?

El Sonbati: Erstens die Reform des Islam, d. h. eine zeitgemässe Interpretation, die die Spiritualität in den Vordergrund stellt, vom rechtlich-gesellschaftlich-regelnden Teil müssen wir uns verabschieden, denn wir brauchen ihn nicht, wir haben in unseren Ländern demokratische Verfassungen. Zweitens der Toleranzbegriff, d. h. dass alle Glaubensbekenntnisse und Anschauungen gleichberechtigt sind. Keine Religion oder Auffassung, auch nicht der Islam, steht über den anderen Religionen. Drittens der Islam als Botschaft des Friedens, der Gerechtigkeit, des sozialen Zusammenhalts, und all das auf der Basis des Grundgesetzes bzw. der Verfassung. Viertens: Der Glaube ist eine Angelegenheit zwischen dem Schöpfer und dem Individuum, keine «Entität» hat das Recht, sich bevormundend dazwischenzuschalten.

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Freiburger Deklaration

Die «Freiburger Deklaration» (www.saekulare-muslime.org/freiburger-deklaration/) vom September 2016 ist eine gemeinsame Erklärung säkularer Muslime in Deutschland, Österreich und der Schweiz.

Im Abschnitt «Unsere Werte» hält die Erklärung fest: «Wir stehen für ein humanistisches, modernes und aufgeklärtes Islamverständnis im zeitgemässen Kontext und verstehen uns selbst als säkulare Musliminnen und Muslime. Unserem Koranverständnis nach beruht der Glaube auf der ganz persönlichen und individuellen Beziehung des Einzelnen zu Gott. Der Glaube stellt eine Quelle dar für Spiritualität, Resilienz und innere Stärke.

Gleichzeitig sehen wir innerislamische Kritik als unerlässlich an. Dabei darf Islamkritik nicht mit Islamophobie verwechselt werden, denn sie ist im demokratischen Sinne geboten, um ein differenziertes Aufklärungsprogramm innerhalb der muslimischen Gemeinschaft auf den Weg zu bringen.

Wir betonen den interkulturellen Dialog mit allen Religionen und Weltanschauungen, und wir setzen uns aktiv dafür ein. Sowohl die Religion als auch der Glaube dürfen und sollen ständig hinterfragt, beurteilt und ergründet werden. Dies sehen wir als den wichtigsten Weg auf der ständigen Suche nach Wahrheit an. Aufgrund dessen unterstützen und fordern wir einen konstruktiven, offenen und kritischen Diskurs innerhalb der muslimischen Gemeinschaft. Meinungsvielfalt und Meinungsverschiedenheit als essenzielle Basis für die Freiheit sind nicht nur erwünscht, sondern unerlässlich, um zu einem modernen und humanistisch geprägten Islamverständnis zu kommen.»

 

Jasmin El Sonbati ist Gymnasiallehrerin und Autorin des Buches «Gehört der Islam zur Schweiz? Persönliche Standortbestimmung einer Muslimin», Bern 2016.


Stephan Schmid-Keiser

Dr. theol. Stephan Schmid-Keiser promovierte in Liturgiewissenschaft und Sakramententheologie. Nach seiner Pensionierung war er bis Ende 2017 teilzeitlich Redaktor der Schweizerischen Kirchenzeitung. (Bild: zvg)