Ruhig und ungestört leben

25. Sonntag im Jahreskreis: 1 Tim 2,1–8 (Am 8,4–7; Lk 16,1–13 oder 16,10–13)

Der Verfasser von 1 T im fordert zu Gebeten verschiedener Nuancen auf, auch (oder im Speziellen?) «für Könige und alle, die in höheren Stellungen sind» (1 Tim 2,2). Im Vorfeld bekennt er, dass er sich als erster der Sünder betrachtet, die Erbarmen gefunden haben (1 Tim 1,15 f.), und ermahnt Timotheus zu bedenken, dass schon manche, welche die Stimme ihres Gewissens missachtet haben, im Glauben Schiffbruch erlitten (1 Tim 1,19). Paulus, der dem Verfasser als Pseudonym dient, hat selbst einigen Schaden angerichtet durch seinen Eifer und fand nicht durch ihn, sondern durch die verzeihende Gnade Gottes einen neuen Weg, dessen Menschenfreundlichkeit glaubwürdig zu verkünden. Dabei erhielt er besonders bei den «Völkern» die notwendige Unterstützung.

1 Tim 2,1–8 im jüdischen Kontext

Die in den Pastoralbriefen (fiktiv) angeschriebenen Gemeinden sind in gewissem Sinn aus dem Diasporajudentum abgesplitterte und mit gottesfürchtigen «Heiden» angereicherte Glaubensgemeinschaften. Sie brauchen für ihr Glaubensleben einen neuen Orientierungsrahmen, neue Richtlinien für das konkrete Leben aus dem Glauben, da sie mit dem Judentum trotz seiner Vielschichtigkeit nicht mehr kompatibel sind. Sie geben sich eine neue Struktur.

Die Verweisstellen zur Fürbitte für Könige und Machthabende, Esr 6,10 und Bar 1,11 f., stehen zwar in keinem vergleichbaren Kontext. Dennoch lassen sich in gewisser Weise Parallelen aufzeigen. Der zerstörte Tempel in Jerusalem, Zentrum des Glaubens an den einen Gott, soll wieder aufgebaut werden durch die geretteten Zerstreuten und mit Hilfe des (heidnischen) persischen Königs. In Bar wird ausführlich dargelegt, wie das Volk Israel durch Glaubensabfall die Zerstreuung gewissermassen selbst verschuldet hatte. Dadurch wird zugleich das grossmütige Erbarmen Gottes herausgestrichen (Bar 2,27; zu 1 Tim 1,15 f.: «…um die Sünder zu retten. Von ihnen bin ich der Erste. Aber ich habe Erbarmen gefunden […] zum Vorbild für alle, die in Zukunft an ihn glauben»). So wird auch die Rückkehr der Zerstreuten nach Israel als einerseits durch Gott erwirkt geschildert: «Darum erweckte der Herr den Geist des Königs Kyrus von Persien, und Kyrus liess in seinem ganzen Reich mündlich und schriftlich den Befehl verkünden: 2So spricht der König Kyrus von Persien: Der Herr, der Gott des Himmels, hat mir (…) aufgetragen, ihm in Jerusalem in Juda ein Haus zu bauen. 3Jeder unter euch, der zu seinem Volk gehört – sein Gott sei mit ihm –, der soll nach Jerusalem in Juda hinaufziehen und das Haus des Herrn, des Gottes Israels, aufbauen; denn er ist der Gott, der in Jerusalem wohnt» (Esr 1,1–3).

Andererseits sind die zurückkehrenden Juden auf die Hilfe der «Völker» angewiesen. Die Unterstützung durch den persischen König beim Wiederaufbau des Tempels (und damit im Prinzip Israels) wird nach einem Unterbruch durch Darius bestätigt, fortgesetzt und ergänzt: «So mögen sie [die Ältesten der Juden] dem Gott des Himmels wohlgefällige Opfer darbringen und auch für das Leben des Königs und seiner Söhne beten» (Esr 6,10). Hier allerdings erbringt Darius eine Vorleistung, erwirbt sich durch seine grosszügige Hilfe einen gewissen Anspruch auf die gewünschte Fürbitte.

In 1 Tim 2 hingegen fordert der Verfasser auf zu Bitten, Gebeten, Fürbitten und Danksagung für alle Menschen (V 1) und für alle Könige und Machthabenden (V 2). – Gehören letztere nicht zu allen Menschen, und wer bleibt überhaupt als AdressatIn f ür d iese Aufforderung? – Die Gebete sind hier offenbar nicht aus Dankbarkeit motiviert, sondern prophylaktisch: «damit wir (…) ungestört und ruhig leben können» (V 2).

 

Heute mit 1 Tim im Gespräch

In der Demokratie gibt es keinen König, und auch die in «höheren Stellungen» haben wenig direkten Einfluss auf unser Glaubensleben. Andererseits werden sie auch kaum Wert auf unsere Gebete und Fürbitten legen. Fast scheint es, als würden wir bereits zu lange ungestört und ruhig leben, so dass es vielen schon schwer fällt, für die Beibehaltung des arbeitsfreien Sonntags zu argumentieren.

Dabei ist nichts dagegen einzuwenden, der Fun-Gesellschaft und industrialisierten Freizeit eine gewisse Ruhe und Beschaulichkeit gegenüberzustellen. Paradoxerweise bringen oft Besinnlichkeit einerseits und von Glauben (welcher Richtung auch immer) motivierte Handlungen andererseits den individualisierten Gleichstrom ins Stocken, stören die Gleichgültigkeit. Darum müsste es eigentlich auch gehen, darum bewusst zu machen, dass nicht alles gleich gültig ist. Der Verfasser des 1. T imotheusbriefes, wie auch Paulus selbst, scheuen sich nicht, dafür das gewichtige Wort Wahrheit zu verwenden. Sie sind überzeugt, dass Gott will, dass alle Menschen zur Erkenntnis der Wahrheit kommen und dass er uns dafür oder dadurch oder parallel dazu retten will. Die Aufgabe der Menschen dabei ist offensichtlich nicht, die Wahrheit festzulegen, zu definieren und zu deklarieren, auch nicht, sie für sich oder die eigene Gruppe zu beanspruchen.

Das alles schränkt die Wahrheit unzulässig ein, zerstückelt sie und macht sie letztlich unkenntlich. Die Wahrheit ist bei Gott, eine [?] Manifestation Gottes, und daher viel grösser, als der Mensch erfassen kann. Er soll sie erkennen, nicht sich aneignen, anerkennen, dass er immer nur einen Teil der Wahrheit auch verstehen kann. Um noch einmal mit 1 T im zu sprechen: Es ist Gott, der will, dass der Mensch gerettet wird und die Wahrheit erkennt. Vom Menschen fordert der Verfasser «vor allem (…) Bitten und Gebete, Fürbitte und Danksagung » (1 T im 2,1).

Die Regelung, die er für die Männer anfügt und welche die Leseordnung noch mit einschliesst, kann bedenkenlos auch für die Frauen übernommen werden: «Ich will, dass die Männer überall beim Gebet ihre Hände in Reinheit erheben, frei von Zorn und Streit» (1 T im 2,8). Diese Aufforderung ist auch nicht spezifisch christlich und unterstreicht die obigen Überlegungen zum Anspruch auf die Wahrheit im Gegensatz zur Erkenntnis der Wahrheit. Wer – ob Mann, ob Frau, ob (Religions)gemeinschaft – die Wahrheit für sich beansprucht, kann leicht in Zorn und Streit geraten, denn immer werden da auch andere sein, die den gleichen Anspruch erheben. Wer sich damit begnügt, den eigenen Glauben, die eigene Weltanschauung als Weg zur Erkenntnis der Wahrheit zu gehen/sehen, kann leicht akzeptieren, dass es auch andere Wege gibt. Statt zu Zorn und Streit könnte diese Wahrnehmung zu interessanten Begegnungen, zu Freundschaften führen und einem die Vorfreude geben, am Ziel wieder mit den GefährtInnen auf den anderen Wegen zusammenzukommen.

Die Wahrheit nicht Zankapfel, sondern Sammlung der Völker. Warum nicht?

 

 

 

 

 

Katharina Schmocker Steiner

Katharina Schmocker Steiner

Dr. Katharina Schmocker Steiner ist zurzeit in der Administration im Zürcher Lehrhaus – Judentum Christentum Islam tätig.