Freiwilliges religiöses Engagement und Sozialkapital – aus kirchlicher Sicht

Die Stichworte Freiwilligenarbeit und gesamtgesellschaftliche Leistungen der Kirchen rückten gesellschafts- und kirchenpolitisch erstmals im Rahmen der kantonal-zürcherischen Kampagne gegen die Initiative für die Trennung von Kirche und Staat im Jahr 1995 ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Damals wurde die erste Sozialbilanz erstellt und der Nachweis erbracht, dass der Kirchensteuerfranken schon deshalb gut investiert ist, weil ihm ein Gegenwert in Form von Freiwilligenarbeit entspricht, die der ganzen Gesellschaft zugute kommt.

Diese Argumentation wurde seither oft wiederholt. Auch in anderen Kantonen wurden vergleichbare Sozialbilanzen erstellt. Und gemäss dem neuen Zürcher Kirchengesetz von 2007 unterstützt der Staat die Kirchen mit «Kostenbeiträgen, wenn sie eigene Programme zur Erbringung von Tätigkeiten mit gesamtgesellschaftlicher Bedeutung erstellen», «insbesondere in den Bereichen Bildung, Soziales, Kultur» (§ 19 Abs. 2–3). Derselben Logik folgt die Gesetzgebung im Zusammenhang mit den Kirchensteuern für juristische Personen, indem sie für deren Verwendung eine «negative Zweckbindung» festlegt: Diese Gelder dürfen nicht für «kultische Zwecke» (§ 25 Abs. 2) eingesetzt werden.

Auch im Hinblick auf die in den Kantonen Zürich, Graubünden, Nidwalden (und wohl bald in weiteren Kantonen) anstehenden Abstimmungskämpfe zu Initiativen für die Abschaffung der Kirchensteuern für juristische Personen ist absehbar, dass die Befürworter dieser Steuern und die Kirchen diese Argumentation erneut aufgreifen und vielleicht weiterentwickeln werden: Das eigene Handeln der Kirchen in ihren institutionalisierten Sozial- und Beratungsdiensten, die Freiwilligenarbeit, die Bereitstellung von Räumlichkeiten und das Eintreten für gemeinwohlfördernde Werte in Wort und Tat werden als zivilgesellschaftliches Engagement herausgestellt – verknüpft mit der Botschaft, dass «die Kirchen ihr Geld wert sind» und dass auch die Unternehmen direkt und indirekt von den auf diese Weise positiv beeinflussten Rahmenbedingungen profitieren.

Freiwilliges Engagement und gesamtgesellschaftliche Leistungen dienen heute als zentrales Argument für die staatliche Förderung der Kirchen durch Schaffung günstiger (steuer-)rechtlicher Rahmenbedingungen und durch Bereitstellung finanzieller Mittel. Freilich ist darauf hinzuweisen, dass keineswegs «schon immer» so argumentiert wurde. Beispielhaft ist wiederum die Revision der staatskirchenrechtlichen Gesetzgebung im Kanton Zürich. Denn zuvor finanzierte der Kanton insbesondere die Löhne der reformierten Pfarrer und Pfarrerinnen. Viel zu reden gab bei dieser Reform die Verlagerung der Gelder hin zur römisch-katholischen Kirche aufgrund ihres gewachsenen Anteils an der Wohnbevölkerung. Weniger beachtet wurde, dass diese Änderung Ausdruck eines tiefgreifenden Wandels des staatlichen Interesses an den Kirchen ist.

War früher die Verkündigung des Gotteswortes und das Amt des Pfarrers von öffentlichem Interesse und Auftrag (nämlich auch als Staatsvertreter), ist es jetzt umgekehrt: Predigt und Seelsorge sind interne Angelegenheiten der Kirchen, das öffentliche Interesse gilt dem gesamtgesellschaftlichen Engagement. Das schafft andere Anreize und Spielregeln für die finanzielle Unterstützung der Kirchen durch den Staat. Es wäre interessant, diesen Wandel in der Begründung der staatlichen Förderung der Kirchen historisch und sozialwissenschaftlich zu untersuchen: War es die öffentliche Meinung, war es die Politik, war es die gewandelte kirchliche Praxis und ein verändertes Selbstverständnis der Kirchen oder waren es eher abstimmungstaktische Gründe, die ihn herbeiführten? Jedenfalls kann man konstatieren: Die neue Argumentation wurde inner- und ausserkirchlich als plausibel akzeptiert.

Von der «heiligen Pflicht» zum freiwilligen Engagement

Gewandelt hat sich aber nicht nur die Begründung staatlicher Kirchenförderung und die dem gesamtgesellschaftlichen Engagement der Kirchen zugemessene Bedeutung – gewandelt hat sich auch die Terminologie und das Verständnis dessen, was heute «kirchliche Freiwilligenarbeit», «zivilgesellschaftliches » oder «bürgergesellschaftliches Engagement» der Kirchen genannt wird. Dazu einige Hinweise:

Altes Testament

In der hebräischen Bibel, also im Alten Testament, sind unzählige allgemeine, aber auch sehr konkrete Normen, die heute in den Bereich der formellen oder informellen Freiwilligenarbeit fallen, «Tora», was traditionellerweise mit «Gesetz» oder «Gebot» übersetzt wurde. Das gilt für die Pflichten zur Nachbarschaftshilfe, z. B. wenn der Esel entlaufen ist, wie für materielle Solidarität, für die Einschärfung von Gerechtigkeit und für Verbote, physische oder andere Überlegenheit zum eigenen Vorteil auszunutzen. «Freiwillig» im Sinne von «dem eigenen Ermessen überlassen» ist all das nicht, sondern es ist Gebot und Wille Gottes und somit für jene, die auf den Gott Israels vertrauen, «heilige Pflicht». Dieser Beobachtung ist beizufügen, dass die traditionelle Interpretation der «Tora» und der jüdischen Ethik als Gebots- und Gesetzesmoral unter der Herrschaft eines belohnenden oder bestrafenden Gottes in der exegetischen Forschung der letzten Jahrzehnte durch ein anderes Verständnis abgelöst wurde: «Tora» ist «Lebensweisung ».

Ihre primäre Motivation sind die Erfahrung des befreienden Gottes, der sein Volk aus der Sklaverei ins gelobte Land geführt hat, und die weisheitliche Erkenntnis, dass Gott ein «Freund des Lebens ist». Was wir heute «Freiwilligenarbeit» nennen, ist «heilige Pflicht», aber nicht aus Angst vor Strafe, sondern im Dienst des befreienden Gottes, der den «Shalom» will, einen universalen Frieden, der Leib und Seele, Individuum und Gemeinschaft, die Menschenwelt und den gesamten Kosmos umfasst.

Neues Testament

Das Neue Testament greift in diesen Fragen sehr auf die ersttestamentliche Tradition zurück. Ins Zentrum tritt allerdings ein Wort, das weder in der Bibel Israels noch in der damaligen hellenistischen Umwelt so zentral war wie in den Schriften der werdenden Kirche: die Liebe (agapè). Leider verknüpfen wir diesen Begriff allzu leicht mit der abgegriffenen Formulierung der «tätigen Nächstenliebe» oder mit dem «Liebesgebot».

Gerade im Hinblick auf die Diskussion um Freiwilligenarbeit und Sozialkapital lohnt es sich, der Vielfalt des neutestamentlichen Sprachspiels nachzugehen. So variieren die Akzente bezüglich des «Adressaten » bzw. «Empfängers» dieser Liebe zwischen «Feindesliebe» (Jesus), «Nächstenliebe» (synoptische Evangelien) und «Freundes-» bzw. «Bruder- bzw. Geschwisterliebe» (Johannes): Wo handelt es sich um ein «Binnenphänomen», wo um eine Öffnung, ja Sprengung des Horizonts der Aufmerksamkeit bis hin zum Fernsten und zum Feind, wo schlägt Liebe gar in Abgrenzung um, wird als Rückzugsphänomen gegenüber der als feindlich empfundenen Welt nur noch im engsten Kreis praktiziert?

Im Hinblick auf den im Zusammenhang mit dem «Sozialkapital» stark betonten Aspekt des «Vertrauens» ist neutestamentlich gesehen auch die Verknüpfung von «Nächstenliebe» mit «Gottesliebe » von Interesse. Denn zur Sprache kommt nicht nur die «Liebe zu Gott», sondern ebenso, dass die Liebe zu den Menschen und zur Welt aus Gott kommt und darin verwurzelt ist, dass der Liebende zuerst der von Gott Geliebte ist, der sich aus dem absoluten Vertrauen in diese universale Liebe heraus für andere einsetzen kann. In diesem Zusammenhang ebenfalls zu reflektieren wäre die berühmte paulinische Trias von (vertrauendem) Glauben, (zuversichtlicher) Hoffnung und (solidarischer) Liebe.

Kirchliche Tradition

In der kirchlichen Tradition lebt dieses biblische Erbe weiter – wobei je nach Zeit und Kontext unterschiedliche Teile dieses Erbes «aktiviert» oder «fokussiert» werden. Leitbegriffe wie «christliche Bürgerpflicht» oder «Weltdienst des Christen» oder auch «Apostolat der Laien» deuten darauf hin, dass nicht die «Freiwilligkeit», die Entscheidung des Einzelnen für diese oder jene Aktivität im Dienst des Gemeinwohls im Vordergrund steht. Vielmehr geht es darum, den Willen Gottes und den Auftrag der Kirche in der Gesellschaft treu und pflichtbewusst zu erfüllen. Etwas zugespitzt formuliert: Ist der oder die heutige kirchliche Freiwillige der Meinung, mit «freiwilligem Engagement» mehr zu tun, «als man eigentlich müsste», fragten sich Katholikinnen bei ihrer Beichtvorbereitung und Protestanten im Rahmen ihrer Gewissenserforschung, wo sie hinter dem Anspruch des Glaubens und der Kirche zurückbleiben, also weniger tun, «als man eigentlich müsste».

Nach dem Zweiten Vatikanum (1962–1965)

Im christlichen «Dialekt» der Jahre nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil und nach 1968 traten «Pflicht und Schuldigkeit», aber auch «Gottes- und Nächstenliebe » in den Hintergrund. Dafür traten Begriffe wie «Engagement», «Solidarität» oder «Reich-Gottes- Arbeit», aber auch «Option für die Armen» und «Leidensempfindlichkeit » oder die «Einheit von Mystik und Politik» in den Vordergrund. Damit verbunden war nicht zuletzt die Kritik an den herrschenden Verhältnissen und an einer bürgerlichen Religion, die allzu selbstverständlich mitträgt, ja legitimiert, was in der Wirtschaft und in der Politik gang und gäbe ist: die Bevorzugung des Kapitals vor der Arbeit, die Erhaltung ungerechter Strukturen, die Benachteiligung der kleinen Leute. Entsprechend verstanden sich viele Gruppierungen, die sich z.B. für die Dritte Welt engagierten, als Vertreter eines Christentums, das «Sand, nicht Öl im Getriebe» der Gesellschaft und der kirchlichen Institution sein will. Der Gedanke, mit derartigem freiwilligem Engagement Staatsbeiträge oder gar die Kirchensteuern der kapitalistischen Unternehmungen zu rechtfertigen, lag fern. Eher schon träumte man von einer armen und solidarischen Kirche und von Basisgemeinden – hierzulande allerdings oft in einer merkwürdigen Verknüpfung mit einem bürgerlichen Lebensstil. Wiederum zugespitzt formuliert: Kirchlich favorisierte man Leonardo Boff und Dorothee Sölle, aber politisch las man die NZZ und freute sich durchaus an steigenden Löhnen für die damals aufkommenden Laientheologen in der katholischen Kirche. Dass diese nur bezahlbar sind, solange die Wirtschaft prosperiert und der Staat die gesellschaftliche Relevanz der Kirchen anerkennt und finanziell abgilt, ist eine Erkenntnis, die sich erst in den Jahren vor der Jahrtausendwende Bahn brach.

 

Lernen von der Erforschung und theoretischen Reflexion von Freiwilligenarbeit und Sozialkapital

Freiheit und Freiwilligkeit als zentrale Voraussetzungen der Zukunftsfähigkeit der Kirchen

Schon diese wenigen Hinweise belegen, dass es für die kirchliche wie die sozialwissenschaftliche und sozialgeschichtliche Erforschung und theoretische Reflexion von Freiwilligenarbeit und Sozialkapital spannend ist, ihre Vorgeschichte und den begrifflichen Wandel innerhalb der christlichen Tradition zu kennen und sich bewusst zu sein, dass die heutige Terminologie erst jüngeren Datums ist und ebenfalls bestimmte normative Hintergrundtheorien mittransportiert. Ebenso wichtig ist, dass die Kirchen ihrerseits von der Erforschung und Theorie der Freiwilligenarbeit und des Sozialkapitals lernen. In unserer individualistischen, pluralistischen und je nach Vorliebe spätmodernen, nachchristentümlichen oder postsäkularen Gesellschaft stehen die Kirchen in der Schweiz vor der grossen Herausforderung, sich selbst neu zu definieren: Nicht mehr als Gemeinschaften, in die (wie bis in die 70er-Jahre) über 95 Prozent der Bevölkerung hineingeboren wurden und denen man – mehr oder weniger aktiv – von der Wiege bis zur Bahre angehörte, sondern als Organisationen, denen nur noch ein Teil der Bevölkerung angehört, aus deren Angebot auch die Mitglieder frei wählen, deren Steuerpflicht man sich durch Austritt jederzeit entziehen kann und deren Glaubensinhalte und ethische Werte unter den Zustimmungsvorbehalt ihrer Mitglieder gefallen sind.

«Freiheit» und «Freiwilligkeit» mitgliedschaftlicher Bindungen werden in diesem Kontext zu zentralen Voraussetzungen und Bedingungen der Zukunftsfähigkeit. Mit dem Rückzug auf Pflicht und Zwang, auferlegte Gebote und Absolutheitsansprüche blieben die Kirchen letztlich chancenlos. Nicht nur der/die distanzierte Kirchen-Christ/in, sondern sogar der Fundamentalist weiss, dass er seinen Fundamentalismus gewählt hat und gehen kann, wenn es ihm nicht mehr passt, weshalb die Kirche auch ihm gegenüber unter Zustimmungsvorbehalt steht und seine Bedürfnisse nicht «ungestraft» ignorieren kann.

Aus diesen Gründen ist es sehr wichtig, dass die Kirchen sich zur Freiwilligenarbeit und zum freiwilligen Engagement bekennen, dass sie sich dafür interessieren, welche Faktoren Freiwilligkeit und die Bildung von Sozialkapital begünstigen bzw. behindern, dass sie sich mit Fragen des Verhältnisses von Freiwilligkeit und Professionalität, mit der Anerkennung von Freiwilligenarbeit und auch mit dem Thema der Monetarisierung von Freiwilligenarbeit befassen.

Diese Themen sind nicht zuletzt im Hinblick auf die bevorstehenden politischen Diskussionen sorgfältig und durchaus selbstkritisch aufzuarbeiten. Denn das Steueraufkommen und die Beiträge der öffentlichen Hand von insgesamt 950 Millionen Franken jährlich, was über 300 Franken pro Kirchenmitglied entspricht, machen aus der römisch-katholischen Kirche zwar keine «Profit-Organisation», aber doch eine wirtschaftlich starke Institution, die nicht so tun kann, als lebe sie allein von Glaube, Hoffnung, Liebe und Freiwilligkeit.

Pastorale Restrukturierungen müssen an der Begünstigung von Freiwilligkeit Mass nehmen

Wichtiger als dieses kirchenpolitische Argument ist etwas anderes: In der römisch-katholischen wie in der evangelisch-reformierten Kirche laufen derzeit Restrukturierungsprozesse ab – sei es aus Priester- (und allenfalls Pfarrer/innen-)Mangel, aus Mitglieder- oder aus Geldmangel oder im Hinblick auf eine milieusensible Seelsorge. Ebenfalls noch im Gange ist die Professionalisierung und Ausdifferenzierung kirchlicher Berufe und Tätigkeitsfelder.

Bei diesen Entwicklungen sind vor allem interne und externe «Professionelle» oder Behördenmitglieder federführend. Das Risiko besteht, dass dies zu Konzepten und Entscheidungen führt, die stark von den professionellen und von den finanziellen Ressourcen und von der sachzielorientierten Logik des Non-Profit-Managements geprägt sind, aber den Lebenswirklichkeiten und den Interessen der Freiwilligen zu wenig Rechnung tragen. Dieser Mangel lässt sich durch die Beauftragung von Professionellen und Behördenmitgliedern mit dem Ressort Freiwilligen-Förderung nur teilweise beheben.

So wie früher Christsein und Kirchenzugehörigkeit samt den damit verbundenen Werten und Pflichten genealogisch und familial weitergegeben wurden, sollte in einer Kirche der Freiheit und der Freiwilligkeit die freie Mitverantwortung der Christinnen und Christen für das Wohl der Gesellschaft und der eigenen Gemeinschaft von Freiwilligen an Freiwillige weitergegeben werden. Die Frage lautet also nicht nur: Wie können in der Kirche professionell die notwendigen Voraussetzungen für freiwilliges Engagement geschaffen werden? Sie lautet vielmehr: Wie gestalten wir Freiwilligenarbeit, die ihrerseits auch über Generations- und andere Grenzen hinweg Freiwilligenarbeit inspiriert und generiert?

Als Katholik und Befürworter unserer staatskirchenrechtlichen Strukturen habe ich in diesem Zusammenhang mit Interesse zur Kenntnis genommen, dass sich empirisch nachweisen lässt, dass direktdemokratische Strukturen und dezentrale Organisation für das freiwillige Engagement förderlich sind. Das spricht nicht nur gegen aktuelle Tendenzen zur Re-Klerikalisierung der Kirche und zur Entmündigung der Laien, sondern macht auch nachdenklich im Blick auf Tendenzen grossräumigerer, zentralistischerer Strukturen, die für direkt- demokratische Mitwirkung und partizipative pastorale Prozesse wohl eher höhere Hürden schaffen.

Biblisch-theologische Einwürfe

Obwohl es zum Lernprozess und zu den Lernchancen der Kirche(n) bei den Fachleuten und bei den Erfahrungen anderer mit Freiwilligenarbeit und Aufbau von Sozialkapital noch vieles zu sagen gäbe, möchte ich mit einigen biblisch-theologischen Einwürfen schliessen, die kirchlichen und vielleicht sogar von nichtkirchlichen Anwältinnen und Fachleuten für das freiwillige Engagement als Denkanstösse dienen könnten.

Mehr als eine «mitfühlende Nichtregierungsorganisation»

Angesprochen hat mich in diesem Zusammenhang eine Formulierung von Papst Franziskus in einer seiner ersten Predigten: Eine Kirche, die aus dem Glauben an das Evangelium lebt, ist mehr als eine «mitfühlende Nichtregierungsorganisation».

 

Uneigennützigkeit, Ausrichtung an echter Not und innere Freiheit als zentrale Qualitäten

Die meisten von uns kennen wohl noch den Text aus der Bergpredigt (Mt 6,1–4), wo Jesus vom freiwilligen Engagement in Form des Teilens, biblisch des Almosen-Gebens spricht. Dabei komme, so sagt er, alles darauf an, dass die linke Hand nicht wisse, was die rechte tut. Und wer dafür Lob und gesamtgesellschaftliche Anerkennung sucht, «habe seinen Lohn bereits erhalten». Wer beim freiwilligen Engagement auf Sozialbilanzen und Sozialkapital schielt und dabei primär an den Tätigkeitsbericht zuhanden der staatlichen Behörden für die erbrachten gesamtgesellschaftlichen Leistungen denkt, raubt diesem Engagement zentrale Qualitäten: Echte Uneigennützigkeit, Ausrichtung an echter Not und Bedürftigkeit des Mitmenschen, Spontaneität und innere Freiheit. In paulinisch-reformatorischer Terminologie gesagt, verkommt solche Freiwilligenarbeit zur «Werkgerechtigkeit ».

Nicht immer ist das Tun das Wichtigste

Für alle Verfechter eines gelebten, praktischen Christentums, aber auch für die burnout-gefährdeten Freiwilligkeits-Profis in den Kirchen gehört ferner das zehnte Kapitel des Lukas-Evangeliums zur Pflichtlektüre. Das Evangelium erzählt zunächst die Geschichte von dem, der unter die Räuber gefallen ist, von den Religionsvertretern, die ihm keine Beachtung schenken, und vom barmherzigen Samaritan, also vom Nicht-Rechtgläubigen, der das Gebot der Liebe erfüllt. Aber es schliesst unmittelbar daran die Begegnung Jesu mit Maria und Marta an, in der gesagt wird: Das eine Notwendige tut nicht die freiwillig-gastfreundliche Marta, sondern Maria, die sich hinsetzt und hört. Nicht immer ist das Engagement das Wichtigste, und eine Kirche, die dem Hören auf das Wort und damit ihren spirituellen Ressourcen nicht mehr die nötige Aufmerksamkeit schenkt, verliert ihre Mitte und ihre Tiefe.

Freiwilligenarbeit kommt dort zu ihren Ziel, wo sie sich wenn möglich überflüssig macht

Der Blick auf Jesus, der Blinden das Augenlicht schenkt, der die verkrümmte Frau aufrichtet und dem Lahmen dazu verhilft, seine Bahre in die Hand zu nehmen und wieder selber zu gehen, kann daran erinnern, dass es ihm nicht darum ging, wohltätige Vereinigungen von Bahrenträgerinnen und -trägern zu gründen, welche freiwillig für die Gelähmten sorgen, sondern diese zu ermutigen, zu ermächtigen und zu befähigen, ihren Weg zu gehen und ihrerseits Botinnen und Werkzeuge des Gottesreiches zu werden. Freiwilligenarbeit kommt dort zu ihrem Ziel, wo sie sich – wenn möglich – selbst überflüssig macht.

Freiwilliges Engagement auf den Spuren Jesu hat eine gesellschaftskritische Komponente

Zu Jesu in der Freiheit Gottes verwurzeltem Engagement, an dem kirchliche Freiwilligenarbeit Mass zu nehmen hat, gehörte nicht nur das Lindern von Not und das Teilen von Brot, sondern auch das Benennen von Armut und Geldgier, von Demut und Machtstreben, von Tränen, Gewalt und strukturellem Unrecht, das Menschen arm und hungrig macht, Kinder weinen lässt und viele Menschen das Schicksal von existenzieller Bedrohung und physischer wie psychischer Gefährdung erleiden lässt. Freiwilliges Engagement auf Jesu Spuren, die schliesslich am Kreuz zu enden schienen, aber wahrhaftig zur Auferstehung führten, kann sich nicht auf anerkennenswerte gesamtgesellschaftliche Leistungen beschränken. Es hat notwendigerweise eine gesellschaftskritische und damit politische Komponente, die Anstoss erregen und bei den Reichen und Einflussreichen die Frage aufwerfen muss, ob es denn «würdig und recht» sei, dies staatlich und mit Geldern der Wirtschaft zu fördern. Eine Politik und sogar eine Wirtschaft, die sich bewusst ist, dass jede auch noch so gute Gesellschaft auf eine manchmal unbequeme ethische Instanz angewiesen ist, wird diese Frage mit Ja beantworten.

Aber eine Kirche, die sich bewusst ist, dass ihr Gründer am Kreuz hingerichtet wurde, wird nicht nur damit leben müssen, sondern überzeugt damit leben wollen, dass manche ihrem gesamtgesellschaftlich wie gesellschaftskritischen freiwilligen Engagement ein Nein entgegensetzen. Kirchen, die den Spuren Jesu folgen, müssen ihr Sozialkapital nicht nur investieren, sondern auch bereit sein, es zu riskieren, indem sie «soziale Verschuldung»1 in Staat, Gesellschaft und Wirtschaft benennen und anwaltschaftlich für deren Opfer eintreten.

1 Der Begriff stammt vom «Observatorium der sozialen Verschuldung Argentiniens», das an der katholischen Universität der bis vor kurzem von Kardinal Jorge Mario Bergoglio geleiteten Diözese Buenos Aires mit wissenschaftlichen Methoden Indikatoren für die soziale Verschuldung des Landes erhebt. «‹Soziale Verschuldung› meint dabei jene Versäumnisse, die die menschliche Entwicklung und den gesellschaftlichen Zusammenhalt behindern. Dazu gehören fehlende Investitionen in Schul- und Hochschulbildung, Wohnungsbau oder Sicherheit. Sie bilden eine Form von Verschuldung, die die Zukunft eines Landes gefährden. Das Konzept der sozialen Verschuldung kontrastiert zum Begriff der Staatsverschuldung, der die Last der Kredite bei nationalen und internationalen Gläubigern in den Blick nimmt» (Herder-Korrespondenz 67 [2013], Heft 5, 232).

Daniel Kosch

Daniel Kosch

Dr. theol. Daniel Kosch (1958) ist seit 2001 Generalsekretär der Römisch- Katholischen Zentralkonferenz der Schweiz. Zuvor leitete er während rund 10 Jahren die Bibelpastorale Arbeitsstelle des Schweizerischen Katholischen Bibelwerks. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Kirchenfinanzierung, Kirchenmanagement und Staatskirchenrecht.