Rerum Novarum ohne Freiburger Maximalforderungen

Der Studienkreis Union de Fribourg legte Papst Leo XIII. Positionspapiere zu aktuellen sozialpolitischen Themen vor und gab Anregungen für eine Enzyklika. Diese sollte dem kirchlichen Einsatz zur Lösung der grossen sozialen Fragen die Richtung weisen.

Als Sternstunde lehramtlicher Zuwendung zu den dramatischen sozialen Problemen der Moderne gilt der 15. Mai 1891: An diesem Tag publizierte Papst Leo XIII. die Enzyklika Rerum Novarum. Während mehrerer Jahrzehnte galt es als gesichert, dass ihre Entstehung wesentlich beeinflusst war von einer Studiengruppe mit katholisch-konservativen Politikern, die in der Schweiz erste Ideen erarbeitet hatte. Inzwischen ist diese Sicht relativiert; dennoch hilft der Blick auf damalige Einflussnahmen, die geistesgeschichtlichen Hintergründe zu verstehen.

Union der Fribourg

Gegen die Verelendung der Arbeiterschaft, vor allem aber gegen die sozialistischen Aufrufe zum Klassenkampf, brachte Leo XIII. eine christliche Alternative in Position. Privateigentum wollte er akzeptieren, doch im Gegenzug forderte er gerechte Löhne, soziale Absicherung und wirksame caritative Einrichtungen. Die Grundlagen der katholischen Soziallehre wurden in mehreren Studienkreisen erarbeitet. Einer dieser Zirkel war die 1884 entstandene «Union de Fribourg» unter Leitung des Freiburger Bischofs und späteren Kardinals Gaspard Mermillod (1824–1892). Der Arbeitskreis setzte sich zusammen aus Parlamentariern, Adeligen und Geistlichen aus acht Ländern – Unternehmer oder Arbeiter waren nicht beteiligt. Aus der Schweiz gehörten der Basler Anwalt Ernst Feigenwinter (1853–1919) sowie die Nationalräte Caspar Decurtins (1855–1916) und Georges Python (1856–1927) zum illustren Kreis, sie repräsentierten den Kern des sozialpolitischen Flügels der katholisch-konservativen Politiker dieses Landes. Das Wirken der Union de Fribourg veranlasste später die Bischöfe Marius Besson (1876–1945) und François Charrière (1893–1976), ihre Bischofsstadt als einen der geistigen Geburtsorte von «Rerum Novarum» darzustellen.

Die bürgerliche Moderne – Ursache der sozialen Missstände

Die Union de Fribourg unterbreitete 1885 Leo XIII. Positionspapiere zu sozialpolitischen Themen wie Arbeit, Kreditwesen, internationale Beziehungen und Gesellschaftsordnung. Drei Jahre später regte sie offiziell an, der Papst möge das kirchliche Engagement zur Lösung sozialer Probleme stärker fördern und zu diesem Zweck eine Enzyklika veröffentlichen. Anders als auf den ersten Blick zu vermuten, liessen die Beteiligten sich allerdings nicht von einem zukunftsgerichteten Ideal leiten – ganz im Gegenteil. Als entschieden ultramontan Gesinnte lag für die Autoren die Ursache aller sozialen Missstände in der bürgerlichen Moderne begründet. Der religionsfeindliche Liberalismus hatte die Industrialisierung ermöglicht und damit das Arbeiterelend verursacht; er war es, der dem Sozialismus und dem Kommunismus erst den Boden bereitete. Entschlossene Abwehr war das Gebot der Stunde, und der Weg war unbestritten: Wiederherstellung der Gesellschaftsordnung, welche vor der Französischen Revolution bestanden hatte, und Rückkehr zur Wirtschaft des Mittelalters. Vor Augen stand die Etablierung einer berufsständischen Gesellschaftsordnung. Alle Produktionsmittel sollten in die neu zu bildenden Korporationen übertragen werden – nicht in private Hände, wie der Liberalismus es vorsah, und auch nicht an den Staat, wie der Sozialismus es verlangte. Das Anliegen wurde am 30. Januar 1888 in einer Privataudienz dem Papst unterbreitet und schriftlich an der Kurie deponiert.

Die Entwürfe zur Enzyklika wurden danach allerdings von römischen Theologen und Kurienmitarbeitern erstellt, ohne dass die Mitglieder der Union de Fribourg direkt einbezogen waren. Dem Ergebnis kam dies zugute; denn es enthielt trotz ultramontaner Grundausrichtung deutlich gemässigtere Positionen. So verlangte Rerum Novarum keine berufsständische Gesellschaftsordnung, sondern sie erklärte die Korporationen auf freiwilliger Basis als mögliche Organisationsform. Zugleich liess sie explizit auch die Bildung von Gewerkschaften zu. In beiden Fällen sollte es sich um private Vereinigungen mit freiwilliger Mitgliedschaft handeln, nicht um öffentlich-rechtliche, staatliche Strukturelemente mit obligatorischer Beteiligung. In ihrem ersten grossen Auftritt verwirklichte die katholische Soziallehre keine radikal-ultramontane Freiburger Maximalforderungen, sondern ein sozialpolitisches Modell. Es war gerichtet auf die Linderung der Not der Arbeiterschaft mit Hilfe moderner Arbeitsgesetze und durch soziale Absicherung. Einer aggressiv-antiaufgeklärten Rückwärtswendung, wie sie der Mehrheit der Vordenker aus der Schweiz vorschwebte, hat Leo XIII. damit eine Absage erteilt.

Markus Ries

 

Weiterführende Literatur

  • Bedouelle, Guy, De l’influence réelle de l’Union de Fribourg sur l’encyclique Rerum Novarum, in: «Rerum Novarum». Ecriture, contenu et réception d’une encylique (= Collection de l’Ecole Française de Rome 232), Roma 1997, 241–254.
  • Botos, Máté, La postérité de l’Union de Fribourg dans la mémoire catholique, in: Revue suisse d’histoire religieuse et culturelle 100 (2006), 305–314.
  • Botos, Máté / Python, Francis, «L’Union de Fribourg». Fribourg sur les chemins de l’Europe, Fribourg 2000.
  • Mattioli, Aram, Die Union de Fribourg oder die gegenrevolutionären Wurzeln der katholischen Soziallehre, in: Ders. / Wanner, Gerhard (Hg.), Katholizismus und «soziale Frage» (= Clio Lucernensis ad hoc 2), Zürich 1995, 15–32.
  • Ries, Markus, Die Sozial-Enzyklika Rerum Novarum Leos XIII. (1891) und ihre Schweizer Wurzeln, in: Münchener Theologische Zeitschrift 68 (2017), 274–287.

 

Markus Ries

Markus Ries

Prof. Dr. Markus Ries (Jg. 1959) studierte Theologie in Luzern, Freiburg i. Ü. und München. Seit 1994 ist er Professor für Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern.